Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

Heiliger Abend, 24. Dezember 2006
Predigt zu Mt. 1,1-17 (Lk. 3,23-38), verfaßt von Reinhard Brandt
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Jesu Stammbaum - Mt. 1,1-17 (Lk. 3,23-38)

Liebe Gemeinde,

vernünftige Politiker halten Verläßlichkeit und Berechenbarkeit hoch. Die Politik muß berechenbar sein, fordern sie. Es darf nicht heute so und morgen anders gehandelt werden. In den Außenbeziehungen muß Deutschland ein verläßlicher Partner sein. Und bei aller Reformrhetorik müssen wir etwa mit der Diakoniestation uns darauf verlassen können, daß die Kranken- und Pflegekassen ihre Zahlungen leisten; sonst können wir nicht rechnen und müßten die Station schließen. So muß der Staat, muß die Politik an vielen Punkten berechenbar sein.

Ähnlich (und zugleich ganz anders) ist es bei Gott. Gott ist nicht berechenbar, alles andere als das. Aber Gott ist treu. Gott ist sich selbst treu, seinen Verheißungen; und darin ist er auch den Menschen treu, seine Zuwendung und Gnade gelten.

Über die Verläßlichkeit und Unberechenbarkeit, über die Treue Gottes stehen in der Weihnachtsgeschichte zwei Abschnitte, die oft überlesen werden: über den Stammbaum Jesu. Gleich zu Beginn seines Evangeliums führt Matthäus ihn an, so wichtig ist ihm dies. Auch zur Geburtsgeschichte des Lukas gehört ein ähnlicher Stammbaum.

Warum diese seltsamen Stammbäume im Neuen Testament? Noch dazu an solchen Schlüsselstellen, gleich am Anfang? Warum?

Darum! Um Gottes Treue in seiner Geschichte mit den Menschen zu bekennen. Seine Verheißung gilt. Sein Segen breitet sich aus von Generation zu Generation. Durch die Jahrhunderte bis heute ein Strom des Segens!

Ich mute Ihnen den Stammbaum nach dem Matthäusevangelium zu. Ich werde ihn langsam vorlesen. Sie brauchen sich nicht merken, wer von wem abstammt. Ich lade Sie vielmehr ein, zwischen den Worten dem Strom des Segens nachzuspüren, der von Gott her die Jahrhunderte durchzieht.

Lesung: Mt. 1,1-17

Vielleicht überlegen Sie: Ist diese Liste denn wahr? Stimmt die Reihenfolge wirklich? Eine Ahnenreihe über 1.400 Jahre, das ist ganz unwahrscheinlich! Wer bei seinen eigenen Ahnen forscht, der ist froh, wenn er 250 Jahre zurückkommt. Und jene Einteilung in je 14 Generationen: ein sehr konstruierter Zufall!

In der Tat: Historische Genauigkeit ist mit Jesu Stammbaum nicht beabsichtigt. Die andere Liste, bei Lukas, weicht schon in der zweiten Generation ab, nennt einen anderen Vater des Josef. Nicht auf historische Genauigkeit, sondern auf die geistliche Deutung kommt es an.

Und diese Deutung zielt auf die Treue Gottes. Gott ist seiner Verheißung treu. Im Namen Gottes verhieß der Prophet Nathan dem König David: „Ich will dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommt, dem will ich sein Königtum bestätigen. ... Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein.“ [2. Sam. 7,12-14] Und Jahrhunderte später die Verheißung des Propheten Jesaja: „Es wird ein Reis aufgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn“. [Jes. 11,1 f.]

Jahrhunderte folgten, nicht zuletzt der Untergang Jerusalems, die Zerstörung der Gewißheiten, die babylonische Gefangenschaft der Hoffnung. Der Stammbaum weist ausdrücklich auf diese Zeit hin; selbst über diese Abbrüche hinweg ist Gott seiner Verheißung treu. Auch wenn die Menschen viele Jahrhunderte auf den Heilskönig, den Messias gewartet haben, vergeblich gewartet haben, so löst Gott doch seine Verheißung ein.

Dies alles wollen die Evangelien mit dem Stammbaum Jesu sagen. Sie wollen uns lehren, auf Gott zu vertrauen. Gott wird seiner Verheißung treu sein. Selbst durch die Hölle hindurch, die wir uns bereiten; und über das Gericht hinaus, bei dem Christus der Richter ist! Er hat verheißen, daß er wiederkommen wird, am Ende der Zeiten. Auch wenn die Christen auf diese Wiederkunft warten, seit 2.000 Jahren warten: Gott wird seiner Verheißung treu sein. - Eben dies sollen uns die Geschlechterlisten lehren.

„Dich hat erhofft so lange Jahr / der Väter und Propheten Schar“: von der Verheißung und der Hoffnung über die Generationen hin lassen Sie uns singen! EG(By) 543: „Wir singen dir, Immanuel“.

EG(By) 543,1-3 (Mel. EG 24)

Ich will Ihren Blick auf einige Einzelheiten lenken:

(1) Wer sind Jesu Vorfahren? Zuerst fällt auf, daß beide Stammbäume auf Josef zulaufen. Matthäus schreibt von einem Jakob, der „zeugte den Josef, den Mann der Maria, von welcher ist geboren Jesus, der da heißt Messias, Christus“. Und Lukas schreibt von Jesus, der „gehalten wurde für einen Sohn des Josef“.

Beide Evangelisten schreiben auch geistlich von der Jungfrau Maria, die „schwanger war von dem Heiligen Geist“ [Mt. 1,18; vgl. Lk. 1,34]. Rechtlich aber gilt beiden Evangelisten Josef als Vater: Vaterschaft noch mehr eine rechtliche als eine biologische Angelegenheit.

Damit wollen die Evangelisten zweierlei aussagen: Jesu Herkunft aus Gott (dafür steht die Jungfrauengeburt) und seine Herkunft aus dem Gottesvolk: Eben dafür steht der Josef in den Stammbäumen!

(2) Wer sind Jesu Vorfahren? Beide Stammbäume nennen den König David und seinen Vater, den Isai, auch Jesse genannt. Jesus wird als Königssohn verstanden, als Sohn Davids, als neuer Heilskönig, als Messias. Im Detail jedoch unterscheiden sich die beiden Listen.

· Matthäus nennt weiters die Könige, wie wir sie aus den Geschichtsbüchern des Alten Testamentes kennen: Salomo, Rehabeam, Hiskia und so weiter.

· Lukas dagegen nennt andere Namen: einen „Nathan“, der ein Sohn Davids sein soll, und dessen Nachkommen. Dieser Sohn spielt in der Königsgeschichte des Alten Testaments sonst keine Rolle.

Indem Lukas seinen Stammbaum von jenem Nathan ableitet, knüpft er an die Kritik der alttestamentlichen Propheten an. „Das Königshaus wurde durch die Macht verdorben“ - kritisierten die Propheten Davids Nachkommen auf den Thron. „Der neue Heilskönig wird zwar auch von David und seinem Vater Isai abstammen“, folgerten sie, „aber nicht von den jetzigen Königen. Erst wenn der Stamm abgeschlagen ist, ganz unten bei der Wurzel, bei der Wurzel Isais, erst dann wird ein neuer Zweig sprießen, der Heilskönig.“

Eben dies, die Heils- und Gerichtsgeschichte Gottes mit seinem Volk spiegelt sich in der nüchternen Aufzählung bei Lukas. Noch durch das Gericht hindurch, in der Nebenlinie bleibt Gott seiner Verheißung treu.

(3) Wer sind Jesu Vorfahren?

· Matthäus nennt drei mal vierzehn Namen bis Abraham, die ganze Heilsgeschichte Israels.

· Lukas greift noch weiter zurück, bis zu Enosch und „Seth, der war ein Sohn Adams, der war Gottes“. Lukas greift zurück bis in die Urgeschichte, bis zu Adam und zur Schöpfung.

Zwei Interessen verfolgt Lukas damit. Jesus ist für ihn der Heiland und Retter für alle Menschen, über das Volk Israel hinaus. Deshalb wird Jesus in eine Reihe zurück bis Adam gestellt, menschheitsumfassend. Zugleich führt Lukas die Linie bis zu Gott zurück. Letztlich, so will Lukas sagen, ist Jesus auch von dieser Seite her der Sohn Gottes, der neue Adam.

Von der Verortung der Messiaserwartung in der Heilsgeschichte Israels wollen wir nun singen: „Ach, daß der Herr aus Zion käm“: EG(By) 543,4-6

EG(By) 543,4-6 (Mel. EG 24)

Gott ist treu, aber er ist nicht berechenbar. Er läßt sich nicht ausrechnen von uns Menschen; er läßt sich nicht in ein Schema zwängen, nicht festlegen. In seiner Liebe und Gerechtigkeit ist er unberechenbar.

Auch das zeigt der Stammbaum des Matthäus, und zwar in den vier Frauennamen. Sind Ihnen diese Namen vorhin aufgefallen? Nicht, daß Frauen genannt würden, ist anrüchig! Speziell diese vier Namen erinnern aber an delikate und anrüchige Geschichten: biblisch, aber ziemlich zweifelhaft.

Die Frau des Uria zum Beispiel und König David, der sich in sie verguckt und ihren Mann als Soldaten an die Front und in den Tod schickt. Auch Ruth, die Ausländerin, die mit den Waffen einer Frau (und klugem Rat der Schwiegermutter) den Verwandten ihres verstorbenen Mannes bindet. Und zuvor Rahab, eine Hure in der Stadt Jericho, die die israelitischen Kundschafter versteckt und ihnen zur Flucht hilft und dafür bei der Eroberung der Stadt verschont wird. Eine Hure, Ausländerin, Vaterstadtverräterin: die erwählt Gott zur Ahnmutter seiner Heilsgeschichte.

Und als erste in der Reihe Thamar. Das steht da schlicht: Juda zeugte Perez und Serach von der Thamar. Nur war Thamar nicht seine Frau, sondern die Schwiegertochter!

Eine delikate Geschichte: Juda hatte drei Söhne, zwei erwachsene und einen Jungen. Thamar war die Frau des Ältesten, doch der starb kinderlos. Nach jüdischem Gesetz mußte nun der zweite Sohn die Kinder zeugen, die als Nachkommen seines Bruders gelten sollten. Doch der hatte keine Lust und - die Bibel beschreibt es drastisch: da „ließ er‘s auf die Erde fallen ..., wenn er einging zu seines Bruders Frau, damit er seinen Bruder nicht Nachkommen schaffe“. [1. Mose 38]

Auch dieser Bruder starb. Da wurde Thamar vertröstet: „Warte, bis der Jüngste alt genug ist!“ So lebte sie als Witwe bei ihren Eltern. Doch nach Jahren, als auch der Jüngste erwachsen ist, will Juda sich an Gesetz und Versprechen nicht mehr erinnern lassen.

Einmal indes ist Juda auf Reisen - und einem gewissen Abenteuer nicht abgeneigt. Da legt Thamar ihre Witwenkleider ab und setzt sich mit einem Schleier an die Straße, wie eine Hure. Juda erkennt sie nicht, wird mit ihr handelseinig, kommt zu ihr und läßt ihr sein Siegel als Pfand. Nachher nimmt Thamar das Pfand und legt ihre Witwenkleider wieder an.

Nach drei Monaten wird bekannt, daß Thamar schwanger ist. Da will Juda als Patriarch kurzen Prozeß machen: „Führt sie hinaus und verbrennt sie!“ Doch Thamar schickt ihm jenen Siegelring und läßt ausrichten: „Von dem Mann bin ich schwanger, dem dies gehört.“ - Da erkennt Juda sein Siegel und spricht: „Sie ist gerechter als ich ...“ Auf seiner Seite liegt die Schuld.

Keine anständige, aber eine wichtige Geschichte. Gott will eine Gerechtigkeit, die den Menschen und seine Lage, seine Not sieht, eine Gerechtigkeit für die Opfer. Dies begreift Juda in dieser Geschichte. Deshalb sind er und Thamar zwar keine anständigen, aber würdige Vorfahren Jesu, der sich auch den Rechtlosen zuwandte.

So spiegelt sich Jesu Geschichte schon in der Vorgeschichte. Gottes Nähe zu den Außenseitern, seine Hinwendung zu den Verachteten und Ausgestoßenen, Gottes Gericht und Gottes Gnade, sein Eifer: All dies macht die Geschichte Jesu aus - und die Vorgeschichte in den Stammbäumen.

Gott läßt sich in kein Schema pressen, nicht berechnen. Gott sei Dank, daß er nicht nach unserem Tun und Lassen rechnet. Gott sei Dank, daß er unvorhersehbar zum Kind, zum Menschen wird.

Von Gottes Treue und seiner umstürzenden Gerechtigkeit lassen Sie uns singen: „Den Herren will ich loben, / es jauchzt in Gott mein Geist; / denn er hat mich erhoben, / daß man mich selig preist. / An mir und meinem Stamme / hat Großes er vollbracht, / und heilig ist sein Name, / gewaltig seine Macht.“

Der Friede Gottes bewahre uns in Christus Jesus. Amen.

Wir singen EG(By) 604.

Vorschläge zum Ablauf des Gottesdienstes: Vor der Predigt nur eine alttestamentliche Lesung Jes. 11,1-2 mit Lied EG 30,1-3 (Es ist ein Ros entsprungen), zur Gliederung der Predigt zweimal je drei Liedstrophen von EG(By) 543 (Wir singen dir, Immanuel: Mel. Vom Himmel hoch), nach der Predigt EG(By) 604,1-3 (Den Herren will ich loben - als Strophenlied zum Magnifikat), danach Präfamen („Von der Vorgeschichte, von seinem Stammbaum her beginnt die Geschichte von Jesu Geburt noch einmal neu zu sprechen, in vielen Bezügen. Ich lese aus dem Lukasevangelium, Kap. 1) und Lesung Lk. 2,1-14, dann EG 48,1-3 (Kommet ihr Hirten)

Dekan Dr. Reinhard Brandt
Weißenburg (Bay)
reinhard.brandt@elkb.de

 


(zurück zum Seitenanfang)