Göttinger Predigten im Internet
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Heiliger Abend, 24. Dezember 2006
Predigt zu Galater 4,4, verfaßt von Joachim Ringleben
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Erfüllte Zeit (Gal 4, 4)

Liebe Gemeinde!

Weihnachten - das Fest der Feste. Darauf richten sich wochenlang die Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen. Und selbst wer dann, wenn es endlich da ist, ein wenig enttäuscht ist, oder selbst dann, wenn sich die Festfreude nicht so einstellt, wie man sie in Erinnerung hat - immer weiß man doch, eigentlich ist es und sollte sein: ein Fest der Freude, der beseligende Vorgeschmack von Frieden.

Warum sehnen wir uns so nach einem wirklichen Fest? Doch wohl, weil wir in den festlichen Stunden und Tagen die Zeit anders als sonst erfahren. Die Zeit wird bei einem Fest intensiver und verdichtet erlebt, und sie ist zugleich über sich, über ihre Alltäglichkeit, hinausgehoben. Festlichkeit - das bedeutet, daß uns ein Glanz umgibt, den wir nicht gemacht haben, der uns einhüllt und ein wenig verwandelt: wir werden durch diese besondere Zeit selber erhoben und geöffnet und von ihr freudig erfüllt.

So ist ein Fest, um es kurz zu sagen, so etwas wie eine gesteigerte Gegenwart, „erfüllte“ Zeit.

Doch diese erfüllte Zeit hat einen Vorlauf, an den wir uns erinnern wollen; denn keine Gegenwart ist Erfüllung ohne eine Vorgeschichte. Der Apostel Paulus schreibt davon im Gal.-brief, und er schreibt von Weihnachten:
„Als nun die Fülle der Zeit herangekommen war, da sandte Gott seinen Sohn, vom Weibe geboren ...“ (4, 4).

Dem wollen wir jetzt mit seiner Vorgeschichte nachgehen. Aber warum in der glücklichen Gegenwart, am Heiligen Abend ein Rückblick? Genügt das Feiern der erfüllten Zeit mit Singen und Beten, Schriftlesungen und Kerzenglanz nicht sich selber?

Die Zeit des Festes, Weihnachten, ist erfüllte Zeit, d.h. die voll aufgegangene Christrose der Zeit. Wenn man an diese kostbare Blüte nicht auf ihre Wurzeln zurückbezieht, droht sie, in sich zu vertrocknen und die Fülle leer, zu bloßer Gewohnheit zu werden. Gerade zu Weihnachten gehören doch für die meisten von uns der Rückblick auf früher, die Erinnerungen an die Kindheit und an die eigenen Eltern.

Wer feiern möchte, und dies recht von Herzen, sollte die Besinnung auf die Ursprünge mit einbeziehen. Also: Freude und Besinnlichkeit, das ist die Losung, und deshalb sind wir hier doch auch zusammengekommen: festliche Freude zuhaus und Bursfelder Einkehr, oder hier: die Schönheit der Kirche, die vertrauten Weihnachtslieder und die Nachdenklichkeit einer kurzen Predigt.

I

„Als aber die Zeit erfülltet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau ...“.

Paulus begreift die Schwangerschaft der Maria als die Schwangerschaft der Zeit, als ihr Herangereiftsein für etwas Neues von Gott her. Nur wer sieht, daß da etwas durch die Zeiten im Wachsen und Kommen ist, versteht, was mit Jesu Geburt eintritt. Darum geht die Zeit des Adventes dem Fest der Weihnacht voran. Und nur so läßt sich verstehen, daß die Evangelisten Mt und Lk ein solches Interesse an Jesu Geburt und Kindheit zeigen.

Doch schon die ganze vorchristliche Geschichte der Religion überhaupt ist voll von der Erwartung eines göttlichen Kindes gewesen; das berühmteste Zeugnis dafür steht in der 4. Ekloge des römischen Dichters Vergil, der eben zu der Zeit, da der Kaiser Augustus regierte, die Ankunft eines göttlichen Kindes weissagte, das der Welt Heil bringen werde. An die Geburt eines Kindes knüpfen sich von alters her Hoffnungen auf eine Geschichtswende. Blickt man auf die Geschichte der Religionen, die Geschichte des religiösen Bewußtseins der Menschheit, so zeigt sich: daran arbeitet sich etwas aus, drängt ans Licht, will Wirklichkeit werden: eine geheimnisvolle Vorahnung und Erwartung, die uns zu denken gibt.

Aber wir brauchen gar nicht in die Dämmerungen der vorchristlichen Religionen zurückzugehen, liebe Gemeinde. In unserem Gottesdienst zu Weihnachten, heute, werden diese Ursprünge auch mitgeführt und gegenwärtig gehalten. Ich meine die alttestamentlichen Prophetenlesungen, die wir hier immer hören. Achten wir jetzt einmal auf diese Stimmen, in denen sich das Neue der Weihnacht ankündigt: ein herankommendes Gotteshandeln, die Gottesgeburt in einem Kind.

So heißt es beim Propheten Jesaja: „Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie Immanuel nennen“ (7, 9). Mit diesem Kind kommt Gott selber in die Welt; daher übersetzt Mt in seiner Geburtsgeschichte das Wort „Immanuel“ durch „Gott mit uns“ (Mt 1, 23). Das hat Jesaja schon vorweggenommen: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst, auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich“ (Jes 9, 5 u. 6a). Jesus selber spricht es dann definitiv aus: „das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1, 15), nämlich mit ihm, Jesus selbst. Erkennen wir denn in Jesus nicht den wieder, den Jesaja schon beschrieben hat: „Und es wird ein Sproß hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel hervorsprießen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn: der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“ (Jes 11, 1f.)? Kennen wir ihn denn nicht?

Diese Worte weisen auf das Kind von Bethlehem voraus. Eine Wolke von Zeugen und Zeugnissen bereitet das Erscheinen Jesu vor.

Und alle diese prophetischen Worte, sie sind nicht nur menschliche Worte über etwas, was Gott einmal tun wird. Nein, diese Worte bringen das Zukünftige schon auf den Weg; mit diesen Worten der Propheten und durch sie kommt Gott selber, in diesen Worten ist Gott selber unterwegs zu uns. Gott kommt von weither durch die religiöse Geschichte Israels, und sein endgültiges Kommen bahnt sich darin an: „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau ...“ - diese Geburt in der Zeit ist eine Gottesgeburt in der Ewigkeit. Und wenn es über Jesus heißt: „Du bist mein Sohn. Heute habe ich dich gezeugt“ (Ps 2, 7; Hebr 1, 5; Act 13, 33), so ist das das Heute von Weihnachten, das ewige Heute und das Heute für uns. „Von dem Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbar vor unsern Augen“ (Mk 12, 11).

II

Der Nacht von Weihnachten geht eine Nacht der Welt voraus. Das war zur Zeit des Propheten Jesaja nicht anders als in unseren finsteren Zeiten: „Volk, das im Finstern wandert, seht ein großes Licht, und die ihr wohnt im Lande und Schatten des Todes, ein Licht wird über euch erstrahlen“ (Jes 9, 1).

Dunkel, Friedlosigkeit, Ungerechtigkeit und Todesdrohung aller Art - wie gut können wir das verstehen. Aber die Frommen des Alten Bundes sahen auch da das Kommen Gottes und vertrauten auf das Licht, das von Gott her in der Finsternis scheint, auch wenn es die Finsternis nicht begriffen hat (Joh 1, 5). Der Prophet sieht es an wie das Dunkel vor der Schöpfung, und erwartet, daß Gott noch einmal und endgültig sprechen wird: „Es werde Licht!“ (Gen 1, 3). Er kann sich mit der herrschenden Finsternis seiner Zeit nicht abfinden. Auch darin können wir ihn und die anderen Propheten gut verstehen: in ihrer Unruhe und daß sie kein Genüge im schlechten Zustand aller Dinge finden, sich nicht abfinden können, daß sie „hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ Gottes; Jesus preist solche Ungestillten selig und verheißt ihnen Sättigung (Mt 5, 6).

Sie sehen das Negative ihrer Gegenwart im Licht eines Positiven, das sie sehnsüchtig erwarten, das von Gott zu erhoffen sie nicht müde werden, um das sie inständig bitten. Wie gut können wir sie verstehen!

Diese Propheten, sensibel für Gottes Kommen in der Zeit, sie erkennen die Wirklichkeit, wie sie ist, und doch blicken sie darüber hinaus. Noch einmal Jesaja, der dritte Jesaja: „Denn siehe Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir“ (Jes 60, 2). Gott wird erscheinen, Spuren seines Lichtes leuchten auch in den Trümmern der Geschichte. Er wird alles Dunkel mit seiner Gegenwart erhellen; das kommt im Licht der Weihnacht zur Erfüllung und ist mit dem Licht von Ostern ewig an sein Ziel gelangt. Gott durchdringt mit seiner Herrlichkeit, seiner Doxa, d.h. dem Lichtglanz seines eigenen Seins, das Dunkel des Stalles von Bethlehem - zu unauslöschlicher Freude und den Menschen ein Wohlgefallen (vgl. Lk 2, 10f. u. 14).

III

Dies große Ereignis ist durch die Gottesgeschichte hindurch unterwegs zu uns. Was die Propheten angekündigt haben mit ihren wunderbaren Worten, das hat sich als Gottes eignes Kommen verwirklicht. Denn „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1, 14). Gottes durch die Geschichte im Kommen begriffenes Wort, Gottes eigenes Unterwegssein zu uns, es ist im Kind von Bethlehem leibhaftig geworden. Mit diesem Kind hat Gott sein Volk heilvoll „heimgesucht“ (Lk 7, 16), d.h. barmherzig angesehen und besucht, so daß er bei ihm wohnen will: „auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“, wie das Echo aus Jesaja bei Lk erklingt (Lk 1, 79).

Damit ist Gottes Handeln von weither durch die Zeiten an sein Ziel gelangt: „daß es ausgeführt werde, da die Zeit erfüllet war, auf das alle Dinge zusammengefaßt würden in Christus“, so im Eph.-brief (Eph 1, 10).

Die Stimmen der Propheten erfahren im Neuen Testament eine Antwort, mit der sie wahrgemacht werden: „Gelobet sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat heimgesucht und erlöst sein Volk“ (Lk 1, 68).

Liebe Gemeinde, dies durch die Geschichte wandernde Wort von Gottes kommendem Licht will bei uns ankommen, heute, in der Zeit der Erfüllung, in der erfüllten Zeit des Weihnachtsfestes. Das Ziel dieses Weges Gottes durch die Zeit ist jeder einzelne von uns, heute. Öffnen wir unsere Herzen für die Gottesgeburt; mit den unglaublich schönen Worten des Jes.Buches gesagt: „Mache die auf, werde licht! Denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir“ (Jes 60, 1).

Das schenke der lebendige Gott dir und mir.

Amen

Abt Prof. Dr. J. Ringleben
c/o Regine.Pfau@theologie.uni-goettingen.de

 


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