Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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3. Sonntag im Advent, 17. Dezember 2006
Predigt zu Matthäus 11, 2-10, verfaßt von Eva Meile (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wie immer ist die biblische Erzählung kurz und knapp. Ohne psychologische Erklärungen wird mit sparsamen Strichen eine Situation gezeichnet: Johannes ist ins Gefängnis gekommen, hört von den Taten Jesu, schickt seine Jünger zu ihm, um zu fragen: Bist du es, der da kommen wird, oder sollen wir auf einen anderen warten?

Unmittelbar klingt seine Frage sehr verständlich und glaubwürdig, aber nun wissen wir ja, dass Johannes früher – als er Jesus, gewiss zum ersten Mal, sah – ohne zu zögern die verblüffenden Worte sprach: ”Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!” Welch klarer Blick! Und welche Umwälzung in seinem Innern zu der Frage, die er jetzt stellt: Bist du der, der kommt? Also: Bist du Gottes Lamm, der Erlöser und Versöhner, der die Last der Sünden von unseren Schultern und von unseren Herzen nimmt?

Man kann es kaum lassen zu versuchen, näher an die Seele des Johannes heranzukommen, als es im Neuen Testament selbst geschieht. Man ist versucht, seine Gedanken lesen zu wollen. Nicht bloß, weil er eine interessante biblische Person ist, sondern weil wir von uns selbst nur allzu gut die Situation kennen, in der er sich befindet, von den Gelegenheiten, bei denen wir selbst in ein schwarzes Loch geraten waren, als wir nicht wussten, wer wir selbst sind, wofür für stehen und was der Sinn unseres Lebens ist. In solchen Augenblicken fragen auch wir: Ist alles, woran ich geglaubt habe, eigentlich Wahrheit, oder habe ich mich selbst hinters Licht geführt und getäuscht?

So sitzt Johannes jetzt da und denkt: Was war das eigentlich, all das mit Jesus? War er wirklich die Wahrheit, wie er sagte? Oder habe ich mein Leben an eine Lüge verschwendet? Das ist ein verzweifelter Gedanke, ich muss Jesus noch einmal zu fassen kriegen, muss ihn zwingen, mir einen Beweis zu liefern, dass er der Richtige ist, der Gesandte Gottes, Christus. Aber wie kann ich hier im Gefängnis mit ihm Kontakt aufnehmen? Ich muss einige meiner verlässlichen Jünger zu ihm schicken und sie ihn eindringlich fragen lassen: Bist du Christus? Bist du der, der kommen wird?

Wie gesagt, so getan. Die Jünger gehen zu Jesus und überbringen ihm die Frage des Johannes. Und was antwortet Jesus? Weder ja noch nein. Er hätte doch wirklich ein paar tröstende Worte sagen könnnen, etwa: Lieber Johannes! Du weißt doch, wer ich bin. Du hast es doch selbst gesagt, als ich zu dir kam, um im Jordan getauft zu werden. Du kannst dich fest darauf verlassen, dass du richtig gesehen hast. Ich bin es. Ich bin Christus.

Aber das sagte er nicht. Er sagte stattdessen: Geht hin, und erzählt dem Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen, und Taube hören, und armen Menschen wird das Reich Gottes gepredigt. Genauso wie Johannes es ja sowieso schon wusste, genauso wie er es selbst gesehen hatte.

Aber ein Mann, der im Gefängnis sitzt, vergisst leicht, was er zuvor von der Herrlichkeit und Schöpferkraft Gottes gesehen hat. Wir brauchen uns über die Vergesslichkeit des Johannes nicht zu wundern. Unsere eigene Vergesslichkeit ist in solchen Situationen formidabel. An dem einen Tag können wir sagen: Welcher Reichtum des Lebens! Welches Geschenk Gottes! Ich verdiene doch all seine Güte gar nicht. Aber schon am darauf folgenden Tag – wenn wir in das schwarze Loch fallen – sagen wir: Das Leben ist hart. Hat Gott mich vergessen? Wenn er mir doch nur ein Zeichen gäbe, dass er noch immer derjenige ist, der er ist.

Aber ich fürchte, dass Gott hier dieselbe Haltung einnimmt wie Jesus im Evangelium von heute, nämlich: Wenn du nicht daran glaubst, was du bereits erfahren hast – obgleich es in diesem Augenblick für dich verborgen ist –, dann kann ich nichts mehr für dich tun. Meine Gegenwart, meine Liebe und Treue sind nicht zu beweisen.

In Shapekspeares Schauspiel König Lear will der König seine drei Töchter dazu zwingen, ihre Liebe zu ihm zum Ausdruck zu bringen. Zwei von den Töchtern überhäufen ihn mit leeren Schmeicheleien, die jüngste aber, Cordelia, verweist ihn bloß auf die Zeichen ihrer Hingabe, die er selbst sehen kann und schon immer hat sehen können. Aber das genügt ihm nicht. Er will sich nicht damit begnügen, er verstößt Cordelia deshalb, und damit beginnt sein tragischer Sturz.

Johannes der Täufer ist trotz allem kein König Lear. Er ist und bleibt der, der ausersehen war, den Weg für Gottes eigenen Sohn zu bereiten, deshalb ist er mit einem unlöslichen Band an ihn gebunden, an guten wie an schlechten Tagen, und zu Zeiten, da das Band fühlbar ist, und da es nicht fühlbar ist. Das Evangelium schildert seine Reaktion nicht, als die Jünger ihm Jesu Worte überbringen, aber er wäre kaum Johannes, wenn nicht mitten in seinem Zweifel und seiner Pein ein Erinnerung aufbräche an das, was er in dem Augenblick gesehen hatte, der für sein Leben entscheidend wurde: Als er und Jesus sich zum ersten Mal gegenüber standen und sahen, wer sie waren: Gottes Lamm, der Erlöser der Welt, und sein Herold, der erste unter den von Frauen Geborenen.

Das sollte der Anfang einer Liebe fürs Leben werden. Denn Liebe ist ja gerade dies, einander sehen und Gottes Absicht mit- und ineinander sehen zu können. Aber selbst eine solche Liebe kann von Zweifel heimgesucht und von Vergesslichkeit verschleiert werden. Aber sie kann nicht sterben. Deshalb wusste Jesus, was er tat, als er für Johannes ihr altes gemeinsames Wissen wiederholte: Das Reich Gottes ist nahe, hier, wo Blinde wieder sehen und Kranke geheilt werden, wo für Menschen im Elend von der Liebe Gottes erzählt wird.

Das Evangelium von heute ist auf unsere Vergesslichkeit gerichtet. Es sagt zu uns: Das Reich Gottes ist auch hier. Mitten in unserer Wirklichkeit. Es ist überall, wo uns die Augen geöffnet werden für unseren Rang als Kinder Gottes und wo wir das, was wir sehen, zu schätzen beginnen. Das Reich Gottes ist da, wo sich die Lebenskraft durchsetzt, so dass Krankheiten ihre Macht über uns verlieren und wir an Geist und Seele gesund werden. Aber das Reich Gottes ist auch da, wo wir keinen Ausweg wissen, keine Heilung, keine Befreiung, da, wo wir in das schwarze Loch der Depression versunken sind, da, wo wir auch nicht den geringsten Streifen eines blauen Himmels erspähen können.

Jesu Antwort an Johannes heute ist die Antwort, die für uns lautet, wenn wir unsere bangen Gebete als Ausgesandte zu ihm schicken, um in dem Glauben gestärkt zu werden, dass er derjenige ist, der kommt, der gekommen ist und der wieder kommen wird – ja wieder und wieder kommen wird – und der alles gut machen wird. In dem Glauben, dass er, auch wenn mein Leben sich auf und ab bewegt, in Ewigkeit derselbe ist. Hörst du, mein Herz? Breite die Flügel deiner Freude aus und fliege. Fliege hinaus durch das Zellenfenster und sieh dich um: siehe, die öden Fluren stehen voller Blüten!

Wie lieblich klingen die Schritte derer, die gute Nachrichten bringen! So muss Johannes gedacht haben, als seine Jünger mit Jesu Antwort zurückkehrten. Und so müssen wir denken, wenn wir ihren Bescheid hören. Es gibt eine Welt außerhalb des Gefängnisses. Sie heißt Hoffnung und Freiheit. Sie heißt Reich Gottes, und dort ist unsere Wohnung.

Amen.

Pastor Eva Meile
C.F. Richs Vej 2
DK-2000 Frederiksberg
Tel.: ++ 45 – 38 33 19 12
e-mail: eva@meile.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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