Göttinger Predigten im Internet
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Predigt zur Konfirmandentaufe über „Wer bin ich?“ von Dietrich Bonhoeffer
verfaßt von Christoph Dinkel, Oktober 2006
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde – und heute besonders:
liebe neu Getaufte!

„Wer bin ich?“ – Diese Frage stellt Dietrich Bonhoeffer in einem Gedicht, das er als Gefangener im Juli 1944 kurz vor dem fehlgeschlagenen Attentat auf Adolf Hitler verfasst hat. „Wer bin ich?“ – Diese Frage drängt sich ganz besonders auf, wenn man gefangen ist, wenn man zum Nichtstun verbannt ist, wenn man unendliches Leid miterlebt und um das eigene Leben und das von Angehörigen bangen muss.

Aber die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich nicht nur in Gefangenschaft oder unter ganz besonders herausfordernden Umständen. Bonhoeffer selbst stellt im Blick auf sich und das Leben moderner Menschen überhaupt fest, dass das Leben seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Moderne Biographien sind sehr viel brüchiger als es die Biographien der Menschen vergangener Jahrhunderte im Durchschnitt waren. Durch Geburt und Herkunft ist weniger festgelegt als ehemals. Bildung, Leistung, Können, Auftreten und Geschick sind viel entscheidendere Faktoren geworden. Moderne Biographien sind viel weniger rund und abgeschlossen als die Biographien der Menschen früherer Zeiten. Es ist heute keinesfalls sicher, dass man den Beruf, den man einmal gelernt hat, bis zur Rente ausüben wird. Es ist nicht sicher, ob man in zehn Jahren noch dort lebt, wo man heute lebt. Bonhoeffer selbst gebraucht zur Beschreibung solch brüchiger Lebensläufe das Wort „Fragment“. Ein Fragment ist etwas Unvollendetes, etwas, dessen Fertigstellung noch aussteht, wenn es denn je fertig gestellt wird. Moderne Biographien sind zumeist fragmentarische Biographien und deshalb stellt sich für moderne Menschen viel eher als für die Menschen vergangener Jahrhunderte die Frage, wer sie sind.

„Wer bin ich?“ fragt deshalb Dietrich Bonhoeffer und schreibt dann im Blick auf seine eigene Situation weiter:

[…] Sie sagen mit oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Um festzustellen, wer er ist, führt Bonhoeffer das an, was andere über ihn sagen. Das Urteil der anderen fällt dabei ausnehmend positiv aus: gelassen, heiter, fest, – frei, freundlich, klar, – gleichmütig, lächelnd und stolz – drei mal drei Eigenschaften, die andere ihm zuschreiben, zählt Bonhoeffer auf, um darzulegen, wer er im Urteil anderer ist.

Auch wir sind zur Beantwortung der Frage, wer wir sind, auf das Urteil anderer angewiesen. In der Schule erhalten wir Beurteilungen und Zeugnisse. Sie geben über das Auskunft, was wir im Zusammenhang der Schule zu leisten vermögen. Dass dieses Urteil der Schule über einen Menschen von höchst begrenztem Wert ist, ist eine Binsenweisheit. Aber obwohl die Urteile anderer oft oberflächlich und einseitig sind: Wir sind im Leben auf Rückmeldungen von außen angewiesen. Das fängt schon bei der Kleidung an und der Frage, ob uns Frisur, T-Shirt oder Schmuck stehen. Wir müssen wissen, wie andere uns einschätzen, was sie uns zutrauen und was nicht. Wer sich ganz unabhängig vom Urteil anderer macht, wird sozial auffällig, gilt leicht als arrogant oder als verschroben und sonderbar.

Aber bei all dem, was andere über uns sagen, und selbst wenn es schmeichelhaft ist – in uns selbst sieht es oft ganz anders aus. Unser eigenes Urteil über uns selbst weicht nicht selten stark vom Urteil anderer über uns ab. Manchmal sind wir dabei realistischer und ehrlicher als andere. Aber oft genug unterlaufen uns auch bei der Selbsteinschätzung eklatante Fehlurteile. So hält sich ein großer Teil von Mädchen und Frauen für zu dick, obwohl viele von ihnen längst an der Grenze zur Magersucht sind. Auch die Psyche kann einem manchmal einen Streich spielen. Wer zu Depressionen neigt, sieht um sich herum oft nur Feinde. Die Unachtsamkeiten und Oberflächlichkeiten anderer werden als absichtsvoll-böse Anschläge wahrgenommen. Hinter freundlichen Worten wird nur Schmeichelei und Täuschung vermutet. Die eigene Sicht auf uns selbst ist also keinesfalls immer wahrer oder zutreffender als die Sicht anderer auf uns.

Für Dietrich Bonhoeffer wird der Unterschied zwischen der Einschätzung anderer und seiner Selbsteinschätzung zu einer schweren Zerreißprobe. Eine ganze Kaskade von Einwänden gegen das Urteil der anderen bricht aus ihm heraus. So vieles in seiner Seele steht in so krassem Widerspruch zu dem, was andere über ihn sagen:

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Das Gedicht führt uns eindrücklich die Situation Bonhoeffers in der Haft vor Augen. Er wartet darauf, dass der Anschlag auf Hitler endlich stattfindet und rechnet mit dessen Gelingen. Er leidet unter der Isolation, unter der Haft, darunter nichts tun zu können und alles nur passiv ertragen zu müssen. Bonhoeffer hat kein Betätigungsfeld für seine Kraft und seinen Verstand. Das Gedicht wird zum Ventil, zur Sublimation all des ungelebten und durch die Haft unterdrückten Lebens in ihm.

Innen- und Außensicht – Bonhoeffer bekommt beides nicht zusammen. Sieht er von außen wie ein stolzer Gutsherr aus, so sieht Bonhoeffer sich selbst als kleinen Vogel, der im Käfig eingesperrt ist. Während ihn andere als gelassen, heiter und fest beschreiben, kocht in ihm der Zorn über die Kränkungen und die Willkür der Haft. Innen- und Außensicht – für Bonhoeffer stehen sie sich unvermittelbar gegenüber und wieder stellt er die Frage: „Wer bin ich?“

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

So sehr Bonhoeffers Gedicht aus seiner Situation der Haft heraus zu verstehen und zu interpretieren ist, so ist es doch zugleich ein Gedicht, in dem exemplarisch die Zerrissenheit modernen Menschseins sichtbar wird. Dass Innen- und Außensicht nicht zusammenzukriegen sind, das werden sehr viele von uns in ihrem Leben schon erfahren haben. Gerade in Euerm Lebensalter, in dem Ihr Täuflinge und Konfirmanden sein, erlebt man den Unterschied zwischen Innen- und Außensicht oft ganz besonders dramatisch. Man stellt sich selbst in Frage, man überlegt, ob das stimmt, was andere über einen sagen. Man muss mit Verletzungen und Kränkungen zu Recht kommen. Ihr müsst damit leben, dass vieles noch für Euch entschieden wird, was ihr gerne selbst und vielleicht auch anders entscheiden würdet. Ihr schmiedet Pläne, was aus Euch einmal werden soll oder was lieber nicht. Ihr müsst diese Pläne abgleichen mit dem, was Ihr selbst oder was andere an Fähigkeiten und Begabungen an Euch entdecken. Die Frage „Wer bin ich?“ ist eine Frage die Ihr Euch in dieser oder in einer anderen Form wahrscheinlich immer wieder stellt. Und ihr müsst damit leben, dass es auf diese Frage auch so schnell keine Antwort gibt. Und wie Ihr an Dietrich Bonhoeffer seht, kann es einem sogar ein ganzes Leben lang so gehen, dass man nicht wirklich weiß, wer man ist, dass Innen- und Außensicht weit auseinander liegen, dass das Leben fragmentarisch und brüchig und widersprüchlich bleibt.

Bonhoeffer fragt „Wer bin ich?“ Die Antworten auf diese einfache Frage gehen weit auseinander und zerreißen ihn fast. Weder die Außensicht noch seine Innenansicht von sich selbst sind für Bonhoeffer überzeugend. Die Antwort auf seine Frage, wer er ist, findet Bonhoeffer nicht in der Immanenz, weder in der Welt, die ihn umgibt, noch in der Welt, die seine eigene Seele darstellt. Die Antwort auf die Frage, wer er ist, findet Bonhoeffer in seinem Glauben, er findet sie bei Gott. Sein Fragen nach sich selbst mündet am Schluss des Gedichts in ein Gebet, in dem er all sein Fragen und all die auseinanderstrebenden Antworten an Gott abgibt und ihm überlässt:

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“, so stellt Bonhoeffer fest, kann nicht innerhalb dieser Welt gegeben werden. Allein außerhalb, außerhalb seiner Innensicht, aber auch außerhalb der Sicht anderer auf ihn, kann die Wahrheit über ihn und sein Leben liegen. Für den in der Haft beinahe verzweifelnden Bonhoeffer wird Gott zum Garanten seiner Identität. Als Christ, als Getaufter weiß er sich zu Gott gehörig, was immer andere über ihn sagen mögen, was immer an schlimmen Fragen und bitterem Zorn in ihm wütet. Sein Leben mag ein Fragment bleiben, vielfach gebrochen, uneindeutig, zwiespältig – als Getaufter, als Christ weiß er sich als Kind Gottes. Gottes Liebe, Gottes gute Mächte umgeben ihn auch in der Enge und Finsternis des Kerkers.

Kann Bonhoeffers Gedicht, kann Bonhoeffers Gebet ein Beispiel für Euch sein, die Ihr heute getauft wurdet und die ihr demnächst hier konfirmiert werdet? Ihr müsst das selbst ausprobieren, prüfen und entscheiden. Ob die Beispiele und Überlegungen anderer für Euch tragfähig sind, das herauszubekommen nimmt Euch niemand ab. Aber bei allem, was auf Euch zukommt, bei allem Fragen danach, wer Ihr seid und was aus Euch werden soll, könnt Ihr Euch daran erinnern und darauf verlassen, dass Ihr als Getaufte Gottes Kinder seid. Ihr seid von Gott gesegnet. Gottes gute Mächte begleiten Euch. – Amen.


Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de


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