Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Theologische Meditationen zur Passionszeit
Texte im Anschluß an Briefe, Gedichte und Reflexionen aus Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“
Predigtmeditation zu „Christus und die mündige Welt“, Wolfgang Vögele

(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Christus und die mündige Welt. Bonhoeffers Brief an Eberhard Bethge vom 8.Juni 1944.

In wenigen seiner späten Briefe widmet sich Bonhoeffer revolutionären und neuen Gedanken über die zukünftige Gestalt des Christentums. Bonhoeffer macht einige Andeutungen über ein „religionsloses“ Christentum in einer mündigen Welt, so auch in einem langen Brief, den er am 8.Juni 1944 während seiner Tegeler Haftzeit an seinen Freund Eberhard Bethge schrieb. (*)

Diese Aussagen riefen schon bei ihrer Veröffentlichung besonderes Aufsehen hervor: Das protestantische Nachkriegschristentum schwankte zwischen dem Wunsch nach dem Wiederaufleben des christlichen Abendlandes und der Anerkennung einer zunehmend säkularen Gesellschaft. In dieser Atmosphäre aus Sehnsucht und Furcht wirkten Bonhoeffers Bemerkungen prophetisch und hellsichtig wirken. Da hatte jemand Morgenröte und Gewitterwolken zugleich am Horizont aufgehen sehen. Und er hatte einen Weg für das Christentum angedeutet, den viele als den schmalen Grat zwischen fundamentalistischem Rückzug und Anpassung an die Moderne sahen.

Aber die Zauberformel vom religionslosen Christentum produzierte ganz unterschiedliche, einander widersprechende Deutungen. Konservative Theologen lasen diese Bemerkungen als ein Manifest für die Wahrheit des Neuen Testaments, an der keine Säkularisierung rütteln kann. Liberale Theologen sahen in Bonhoeffer den Kronzeugen eines Christentums, das die „mythologische“ und kindergläubige Phase des Kinderglaubens überwunden hatte und zu einer freien, selbstbewussten Sicht auf die Moderne gelangt.

1. Nach der Aufklärung

Zuerst verabschiedet Bonhoeffer in seinem Brief die „Arbeitshypothese: Gott“: „Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ‚Arbeitshypothese: Gott’.“ Hätte Bonhoeffer die Haft überlebt, er hätte miterleben und erkennen können, wie wissenschaftliche Erklärungsmodelle an die Stelle Gottes treten.

An die Stelle der Arbeitshypothese Gott hat sich die Evolutionstheorie gesetzt: Sie erklärt die Abstammung des Menschen von den Tieren, vom Einzeller bis zum Menschenaffen.

An die Stelle der Arbeitshypothese Gott haben sich Bakterien und Viren gesetzt. Sie sind die Verursacher von Krankheiten und Infektionen. Die Vogelgrippe ist keine Strafe Gottes, sondern „nur“ eine gefährliche Epidemie.

An die Stelle der Arbeitshypothese Gott haben sich aneinander reibende Erdplatten gesetzt. Wenn sie aneinander stoßen, verursachen sie verheerende Erdbeben und Tsunamis.

An die Stelle der Arbeitshypothese Gott haben sich Gene und der Zufall gesetzt. Beides zusammen bestimmt den Menschen, seinen Intellekt und seine Krankheiten, seine Fähigkeit zu fühlen und seine Lebenserwartung.

Der Zufall, die Gene, die Quanten, die natürliche Selektion – all das bestimmt blind und ohne Gnade die Entwicklung des Lebens auf der Welt. Die Naturwissenschaft hat Gott aus der Welt herausgedrängt. Wir brauchen Gott nicht mehr, um die Welt zu erklären. An die Stelle der Religion ist das stahlharte Gehäuse eines neuen Naturalismus getreten. Der Mensch denkt, das Gen lenkt.

Ganz hellsichtig sah Bonhoeffer, daß diese Entwicklung nicht nur Vorteile mit sich bringt: „Die zum Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Lebensgesetze gekommene Welt ist ihrer selbst in einer Weise sicher, daß uns das unheimlich wird (...).

Die Menschen werden sich bewußt: Wir haben uns von der Abhängigkeit von einem alles bestimmenden Gott befreit. Aber dieses Bewusstsein währt nur für einen kurzen historischen Moment. Dann treten neue Abhängigkeiten an die Stelle der alten Abhängigkeit von Gott. Die Abhängigkeit von den Genen, vom Zufall, von den gnadenlosen Mechanismen der Selektion.

Bonhoeffer mokiert sich über den „säkularisierte[n] Methodismus“ der Psychotherapeuten und Existenzphilosophen, die dem Menschen großartige Freiheit versprechen und in Wahrheit nur die alten und neuen Abhängigkeiten verdecken.

2. Der neue Mythos

Theologen haben versucht, Unterscheidungen einzuführen, um Naturalismus und Christentum zu versöhnen.

Bonhoeffer erwähnt Bultmanns Entmythologisierungsprogramm. Diese diente dazu, das wahre geglaubte Christentum aus dem mythologischen Weltbild der antiken Religionsgeschichte herauszuoperieren. Aber das überzeugt Bonhoeffer nicht: Man kann nicht den wahren Glauben aus dem Mythos herausschmelzen oder herausätzen und dann alles Mythologische wegschmeißen wie überflüssige Schlacken.

Ich bin nun der Auffassung,“ schreibt Bonhoeffer, „daß die vollen Inhalte einschließlich der ‚mythologischen’ Begriffe bestehen bleiben müssen – das Neue Testament ist nicht eine mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit!, sondern diese Mythologie (Auferstehung etc.) ist die Sache selbst! (...)“ Das Neue Testament erschließt sich nicht in der Unterscheidung von Mythos und Glauben; beides ist untrennbar ineinander verwoben.

An die Stelle der unterscheidenden Entmythologisierung setzt Bonhoeffer die nicht-religiöse Interpretation des Glaubens. Er fordert, daß „diese Begriffe nun in einer Weise interpretiert werden müssen, die nicht die Religion als Bedingung des Glaubens (...) voraussetzt.

Was meint Bonhoeffer damit?
Kann man Glauben ohne Religion denken?
Kann man Kirche ohne Religion denken?
Kann man Christus ohne Religion denken?

3. Offenbarungspositivismus

Eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu lösen, besteht in der Gegenübersetzung von Religion und Christentum, wie es der Schweizer Theologe Karl Barth vertrat. Christentum ist danach fundamentale und radikale Kritik aller Religion, besonders der Religion innerhalb des Christentums. Denn Religion muß verstanden werden als der Versuch des Menschen, sich Gott verfügbar und gefügig zu machen. Religion war für Barth Unglaube. Dieses zum Scheitern verurteilte Unternehmen galt es nach Barth zu entlarven, im ureigenen Interesse der christlichen Kirche.

Aber Bonhoeffer sah, daß auch die radikale Religionskritik Karl Barths und seiner Schüler sich nicht auf Kritik beschränken (nicht beschränken konnte). Auch die Religionskritik aus christlichen Motiven muß eine bestimmte Position einnehmen. Und diese Position macht sich ihrerseits angreifbar, auch wenn sie tief in allen religionskritischen Argumenten verborgen war.

Diese Position kritisierte Bonhoeffer als den „Offenbarungspositivismus“ der Bekennenden Kirche. Man zog sich, bei aller berechtigten Religionskritik, willkürlich auf eine Glaubensposition zurück, die man für unangreifbar hielt. Leider galt diese Position nur innerhalb der Kirche für unangreifbar. Außerhalb wurde sie heftig bestritten. Der Rückzug in die schützenden Mauern der Kirche wird der mündigen Welt nicht gerecht.

Also nochmals die Frage: Kann man Glauben ohne Religion denken?

4. Mündige Welt und die Passion Gottes

Bonhoeffer folgte in seinen unfertigen Gedanken weder Bultmann noch Barth, er entdeckte einen eigenen Weg, Jesus Christus und die mündige Welt zusammen zu denken.

Die Mündigkeit der Welt ist nun kein Anlaß mehr zu Polemik und Apologetik, sondern sie wird nun wirklich besser verstanden, als sie sich selbst versteht, nämlich vom Evangelium, von Christus her.

Der Naturalismus der mündigen Welt, besonders der Naturalismus der Naturwissenschaften birgt Gefahren in sich. Bonhoeffer konnte die moderne Hirnforschung noch nicht kennen. Trotzdem werden seine Bemerkungen über die mündige Welt ein zweites Mal prophetisch aktuell, wenn man sieht, wie moderne neurophysiologische Forschung Begriffe wie Selbstbewusstsein, freier Wille, Ich und verantwortliches Handeln kritisiert. Neulich fragte ein bekannter Wissenschaftler in einem Nachrichtenmagazin selbstkritisch: Wer ist eigentlich für die Aufräumarbeiten zuständig, wenn die Wissenschaft vorher ihre Zerstörungsarbeit geleistet hat?

Der christliche Glaube soll nicht erneut die Wissenschaft bevormunden. Das wäre nichts anderes als Fundamentalismus.

5. Passion der mündigen Welt

Die moderne Welt vom Evangelium her verstehen kann nur folgendes heißen. Evangelium ist eine Botschaft, eine Sprache.

Naturalismus führt zu einer wissenschaftlichen Welt, in der Gott als Erklärung nicht mehr benötigt wird. Gott wird nicht mehr gebraucht. Fundamentalismus führt in eine religiöse Welt, in der Gott als Erklärung für alles herhalten muß. Wissenschaft wird ignoriert, im besten Fall benutzt. Die Sprache des Evangeliums hält die Kluft offen, die sich zwischen Naturalismus und Fundamentalismus auftut, zwischen dem stahlharten Gehäuse aus Experimenten und Hypothesen und der Flucht ins vormoderne religiöse Überzeugungsgefängnis.

Wer Gott ist, das kann christlich nur von Jesus Christus her bestimmt werden. Wer Gott ist, das zeigt sich am Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi. Wie Jesus Christus am Kreuz litt, ist Gott in der Welt im Leiden gegenwärtig, solidarisch mit denen, die von Zufall, Viren und Genen gequält werden.

Das Evangelium ist eine Sprache von der Gnade gerade im Leiden, von der Hoffnung gerade in der Trostlosigkeit, von der Auferstehung gerade nach den Qualen des Kreuzes.

Das Evangelium ist eine Sprache, die in Barmherzigkeit den Menschen mündig macht. Sie befreit ihn von den Zwängen der Gene, Neuronen und Beliebigkeiten. Das Evangelium befreit den Menschen aus den Zwängen, in die er sich fundamentalistisch oder naturalistisch verstrickt.

(*) Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Neuausgabe, München 1977², 355-361. Alle folgenden Zitate stammen aus diesem Brief.

PD Dr. Wolfgang Vögele
Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de


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