Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12. November 2006
Predigt zu Hiob 14, 1-6, verfaßt von Heiko Naß
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


1 Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
2 geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
3 Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
4 Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!
5 Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann:
6 so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.


Liebe Gemeinde,

Im Jahr 1932 reisten zwei Sozialforscher nach Marienthal, einem kleinen Ort in der Nähe Wiens. Nachdem die einzige Fabrik dort schließen musste, waren nahezu alle Erwerbstätigen arbeitslos geworden. Die beiden Forscher führten Interviews mit den Betroffenen. Bei beinahen allen spiegelt sich die traurige Lage der Arbeitslosen von Marienthal. Männer benötigten für eine Tätigkeit, die unter normalen Umständen zehn Minuten in Anspruch nahm, einen halben Tag. Zum Mittagessen kamen sie immer zu spät.
Um Armut ging es dabei nicht. Denn die Arbeitslosen erhielten von den Behörden eine ausreichende Unterstützung. Aber sie konnten ihrem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen. Während noch wenige neue Pläne machten, hatten die meisten trotz einer relativen Sicherheit für ihren Lebensunterhalt resigniert. Ihr Ich war zusammen gebrochen. Sie fühlten sich sozial ausgeschlossen und hatten die Hoffnung aufgegeben, es könnte sich das Leben noch einmal zu einem Besseren wandeln.

Vor zwei Wochen haben uns neue Statistiken und Studien der Sozialforschung aufgeschreckt. Sie haben Untersuchungen zur Armut in Deutschland veröffentlicht und sprechen davon, dass beinahe 8 % der Bevölkerung in unserem Land von den gleichen Problemen und Herausforderungen wie einst die Menschen in Marienthal betroffen ist. Aber die Zahlen bleiben anonym, wenn wir nicht uns vor Augen stellen, dass hinter den Zahlen Schicksale stehen. Lassen Sie uns die Zeit nehmen, um zu verstehen und nicht gleich Konzepte zu entwerfen, was man dagegen tun könnte, Fordern und Fördern und was so alles darüber nachgedacht wird.
Lassen Sie uns versuchen zu begreifen, was es bedeutet, ausgeschlossen zu sein, keinen Sinn mehr zu erkennen in seinem Tun, wie es ist, wenn man keinen Horizont mehr kennt, keine Weite sieht und darum selbst die Mühe zu schwer ist, den Kopf zu heben und über den Tag hinaus zu blicken, der schon genug Sorgen in sich trägt.

Eine Verstehenshilfe bietet uns unser heutiger Predigttext aus dem Buch Hiob. In wenigen Zeilen drängt sich hier die Erfahrung von Verlust und Sinnlosigkeit des Lebens zusammen. Hiob, so erzählt uns die einleitende Geschichte um seine Person, stürzen unvermittelte Schicksalsschläge aus der Höhe des Lebens herab in eine Tiefe, in der es keine Sicherheit und keinen Grund mehr gibt. Zunächst verliert er sein Haus und seinen Hof. Dann erleidet er den Verlust seiner Erben und Kinder. Und schließlich, als ob es immer noch nicht genug wäre, überfällt ihn eine Krankheit vom Scheitel bis zur Sohle, die die Verwundung innerlich und äußerlich unerträglich macht. In dieser Situation gibt es für Hiob keinen Halt mehr. Seine Worte ziehen über das Leben ein bitteres Resümee:
Dem Mensch gehört nur eine kurze Zeit,
auch wenn er aufblüht, wie eine Blume auf dem Feld,
so ist sein Ende schon nah.
Flüchtigkeit, ein Augenblick nur, das ist der Mensch.
Die Macht der Vergänglichkeit drängt sich angesichts aller Erfahrung von Verlust auf. Wo ihm alles aus den Händen genommen worden ist, da bleibt seinen Händen auch kein Halt, an dem er sich noch festmachen kann. Nichts wird bleiben. Unaufhaltsam wachsen die Schatten. Die Gedanken der Nacht verdunkeln die Klarheit des Tages. Da redet eine zutiefst verletzte Seele, deren Lebensmut Schritt für Schritt weniger wird. Stück für Stück zieht sie sich immer weiter in sich selbst zurück, wie ein vorweggenommenes Sterben.

Nur an wenigen Stellen der Bibel wird so gesprochen. Nur in einigen wenigen Passagen kommt zur Sprache, dass das Leben auch so, unter dem Vorzeichen des dunklen Abgrundes, erfahren werden kann. Die Bibel hat es schwer, diese Seite menschlicher Erfahrung auszuhalten. Dort, wo die Wucht der Vergeblichkeit wie eine Sturmwelle anrollt und das winzige Schiff menschlicher Geborgenheit zu überspülen droht, wird immer wieder dagegen gehalten, dass der Mensch doch Gottes Geschöpf ist und daher Gott ihm Trost und Halt in der Not geben kann. Gerade weil die Tage des Menschen gezählt sind und vor Gott nicht mehr als eine Handbreit sind, so ist es doch umso verwunderlicher, erstaunenswert, dass Gott sich gnädig zuwendet, und der Mensch die Werke Gottes rühmen darf.
„Menschliches Wesen, was ist’s gewesen? / In einer Stunde / geht es zugrunde / sobald das Lüftlein des Todes drein bläst“, wird später Paul Gerhardt dieses Gefühl der Vergänglichkeit formulieren, aber sofort dagegen festhalten: „Alles vergehet, / Gott aber stehet… Sein Heil und Gnaden, / die nehmen nicht Schaden, / heilen im Herzen / die tödlichen Schmerzen, / halten uns zeitlich und ewig gesund.“

Ein solcher Trost ist Hiob versagt. Zwar rechnet er auch mit Gott. Aber von Gott erwartet er in dieser Situation der Verlassenheit keine Hilfe. Zwar hat Gott, so sagt Hiob, die Tage begrenzt und dem Leben ein Maß an Monaten und Jahren geben. Und im Inneren des Menschen ist eine Unruhe, eine Sehnsucht, ein Lebenshunger nach Erfüllung vorhanden. Aber, und das ist die wirklich bittere Bilanz des Hiob in seiner Not: Das wirkliche Leben wird dieser Sehnsucht nicht gerecht. Es gibt keine Erfüllung, weil es kein Verweilen, kein Anhalten und kein Aufhören im Vergehen gibt.

Viele Jahrhunderte später werden Kunst, Literatur, Philosophen, entdecken, dass dieser Hiob, mit solchen Zeilen der Lebensmüdigkeit mitten unter uns sitzt. Hiob ist unter den Menschen von Marienthal, die keinen Sinn mehr sehen, etwas zu tun. Er ist gegenwärtig in der Frau, die eines Tages ihre Tür nicht mehr aufmachte, zu ihren Gefühlen, zu ihrem Herzen, zu ihrer Wohnung, und deren Angehörigen nach einer Zeit der immer wieder versuchten, vergeblichen Mühe letztlich an einem Grab stehen und der Erde anvertrauen mussten, was ihnen lieb und teuer war.
Hiobs Zeilen sind manchmal in einem Anflug nur einen Schatten von uns entfernt, nicht einmal erst in konkreter Bedrohung durch Krankheit oder Unfall, sondern auch dann, wenn wir durch die Schlucht von dunklen Gedanken gehen. Es gibt Zeiten, da fliegt auch uns die Endlichkeit an, da merken wir, dass die Kraft weniger geworden ist, dass wir frühere Ziele nicht mehr erreichen werden. Wir müssen uns eingestehen, dass wir auf der Mitte umkehren müssen, und wir werden dabei anderen, Jüngeren nachblicken, die an uns vorbeiziehen, und einen unausdeutbaren Schmerz im Inneren unseres Gemüts spüren.

Liebe Gemeinde, es ist die Weisheit der Bibel, dass sie uns den Schmerz Hiobs, die Trauer um die Vergeblichkeit, nicht verschweigt. Diese tiefe seelische Not, es sind tatsächliche Erfahrungen und sie lassen sich nicht übergehen oder wegleugnen oder mit einem fröhlichen beiläufigen aufmunternden Wort beiseite schieben. Sie machen deutlich, dass der Glaube, die Hoffnung auf Trost, nicht etwas ist, was immer feststeht, sondern dass er mit Fragen und Zweifeln, mit Ringen, Verlieren und Wiedergewinnen von Gewissheit verbunden ist.
Wenn wir von den Zeilen Hiobs lernen können, dann ist es dieses Verstehen um die Not der bedrängten Seele und dann ist es, aus diesem Verstehen heraus, die Gabe, auszuhalten und zu warten. Es wird erzählt, dass die drei Freunde Hiobs, die sich zu ihm in seiner Not begaben, bei ihm saßen und warteten, sieben Tage und sieben Nächte lang, und während dieser ganzen Zeit nichts redeten, weil sie sahen, wie seine Schmerzen groß waren.

Warten, eine Hand nehmen, Nähe zeigen, nicht aufdringlich, sondern allein aufmerksam und sorgenvoll. Nichts machen und nichts bewegen wollen, sondern mit aushalten, teilen von Not und Schmerz. Wenn wir am Bett eines Kranken sitzen oder im Pflegeheim Menschen besuchen, deren Lebensradius auf Bett und Stuhl beschränkt ist, fällt es sonderbar schwer, die Stille zu teilen, sie als gesammeltes Miteinander zu verstehen und nicht durch belangloses Reden zu übertönen. Es erschöpft eher, als dass es stärkt. Uns sollte zu denken geben, dass nach den Berichten der Bibel und Legenden, die Engel, diese freundlichen Seelenboten, mit herzlich wenig Worten auskommen und ihren Trost doch eher in freundliches Aufblicken oder ein vorsichtiges Berühren legen. Vielleicht gelingt es, so einem anderen zum Tröster zu werden.

Schließlich bleibt uns als eine der christlichen Tugenden der Barmherzigkeit auch noch das fürbittende Gebet. Sich an Gott richten und für den beten, der selbst nicht mehr beten kann. Ein Fürbittender muss nicht erklären, er selbst braucht keine Antworten zu geben auf das Warum und Wieso, das an Angst und Sorge im Raum steht. Sondern, was ihm zu Herzen geht, das teilt sein Gebet Gott mit und legt sein Vertrauen darein, dass Gott auch Wege zu einem Menschen finden wird, wo sich unsere Wege und unsere Möglichkeiten schon längst erschöpft haben. In dieser Haltung hat Jesus gelebt und uns ermutigt, ihm darin nachzufolgen, fürbittend teilzunehmen am Leid des anderen unter dem Versprechen, dass ein Gebet eine Antwort erfahren wird. Jesus sagt: Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan.

Und der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Pastor Heiko Naß
Referent der Kirchenleitung der Nordelbischen Kirche
hnass.nka@nordelbien.de

Anmerkung:
Teile des ersten Abschnitts habe ich einem Artikel von Rainer Hank aus der FAZ vom 22.10.06 (Nr. 42), S. 6 entnommen.


 


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