Göttinger Predigten im Internet
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21. Sonntag nach Trinitatis / Reformationsfest, 5. November 2006
Predigt zu Johannes 8, 31-36, verfaßt vonGottfried Brakemeier
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Der Reformationstag bringt nicht wenige evangelische Christen in Verlegenheit. Was soll da schon gefeiert werden? Mit dem Thesenanschlag Martin Luthers beginnt eine leidvolle Geschichte, die unzählige Opfer gefordert hat. Ist nicht der 31. Oktober der Tag der kirchlichen Spaltung? Religionskriege waren die Folge und eine konfessionelle Rivalität, die trotz gewaltiger ökumenischer Bemühungen bis heute nicht wirklich überwunden werden konnte. Die Schattenseiten dieses Gedenktages dürfen nicht vom Tisch gefegt werden. Es ist den Verantwortlichen in Kirche und Politik damals nicht gelungen, die Einheit zu wahren, Grund genug den Reformationstag als Verpflichtung zu verstehen, es heute besser zu machen. Er ist Zeichen der ökumenischen Herausforderung schlechthin und geht darum alle Christen an.

Auch unter einer anderen Perspektive hat der Reformationstag gesamtchristliche Bedeutung. Davon spricht der Text, der heute bedacht werden will. Es handelt sich um ein Stück aus dem 8. Kapitel des Johannesevangeliums, die Verse 31 bis 36:

“Da sagte Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bei dem bleibt, was ich euch gesagt habe, seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da sagten sie zu ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind nie jemands Knecht gewesen. Wie kannst du dann sagen: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht für immer im Haus; der Sohn aber bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.”

Christsein entscheidet sich am Bleiben bei dem, was Jesus Christus gesagt hat. Anders gesagt, es ist die Treue zum Evangelium, welche die Kirche zur Kirche macht. Sie kann ihren Herrn verraten und hat das in ihrer Geschichte vielfältig getan. Sie muss dann umkehren, zurückkehren, um ihre Identität wieder zu gewinnen. “Back to the roots” nennt man das in moderner Sprache, “zurück zu den Wurzeln” damit man weiss, wer man ist, woher man kommt und woran man sich zu orientieren hat. Nichts anderes wollte die Reformation des 16. Jahrhunderts. Sie wollte, dass die Kirche wieder evangelisch würde. Missbräuche sollten beseitigt werden und das Volk sollte direkten Zugang haben zu den Quellen des Glaubens.

Reformbewegungen sind unsympatisch. Das war damals nicht anders als heute. Reform heist Veränderung, und dagegen opponieren die, die um ihre Privilegien fürchten. Handfeste Interessen blockieren die Initiativen und produzieren den berüchtigten Reformstau, bis der Eimer überläuft und gefährliche Konsequenzen entstehen. Wohl dem Land, das die nötigen Reformen rechtzeitig über die Bühne bringt und damit Schaden abwendet. Die damalige Reformation war überfällig. Sie hat trotz der Verhärtung der Fronten und unendschuldbarer Grausamkeiten den Weg der Kirche zum Besseren gewandt. Die Verkündigung des Evangelium in protestantischer Gestalt hat nicht nur kirchliche, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen bewirkt, auf die heute niemand verzichten möchte. Die moderne Welt ist vielfach Schuldner des reformatorischen Geistes.

“Zurück zu den Wurzeln”, das heisst nicht Altertumspflege oder blosse Wiederherstellung des Früheren. Reformwillig ist nicht gleich “konservativ”. Im Gegenteil, man will ja die Veränderung. Aber nicht um der Veränderung selbst oder der blossen Anpassung willen. Jede Reform braucht ein Konzept, beispielsweise das Konzept der sozialen Gerechtigkeit, das unter heutigen Bedingungen in die Praxis umgesetzt werden will. Das Konzept der Kirche ist das Evangelium, das Wort, das in Jesus Christus seinen Ursprung, seine Wurzel hat. Und das ist Leben und Wahrheit. Den Jüngern, die Jesus einlädt, bei dem zu bleiben, was er ihnen gesagt hat, wird versprochen, dass sie die Wahrheit erkennen werden und dass die Wahrheit sie frei machen wird.

Wahrheit, ein grosses Wort, fast zu gross. Seit der berühmten Frage des Pilatus wird es mit Skepsis aufgenommen. Was ist schon Wahrheit? Wenn überhaupt, gibt es nur Wahrheiten, im Plural. Jeder hat das Recht auf seine eigene Wahrheit. Das scheint das Gesetz der multikulturellen Gesellschaft zu sein, die in Beliebigkeit endet. Der Reformation ging es um die Wahrheit, um die christliche Wahrheit, um die ewige Wahrheit, die nur eine sein kann. Wieso und inwiefern? Fragt man Martin Luther, gibt er eine klare Antwort. Wahr ist, dass Gott barmherzig ist. Das war seine reformatorische Erkenntnis, seine grundlegende Entdeckung in der Bibel, die, wie er sagte, ihn buchstäblich in das Paradies versetzte. Anstatt zu verurteilen, sich am Sünder zu rächen, ihn zur Hölle sinken zu lassen, vergibt er ihm die Schuld, rechtfertigt ihn aus Gnaden, nimmt ihn an wie ein Vater seinen Sohn und seine Tochter. Wahr ist, dass Gott Liebe ist, wie es im ersten Johannesbrief heisst. Und weil das so ist, ist Liebe auch das höchste Gebot.

Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Das ist nicht die zeitgebundene, aus einem überempfindlichen Gewissen geborene Frage Martin Luthers. Das ist die entscheidende Frage der Menschheit überhaupt. Man könnte einwenden und sagen, wichtiger als die Frage nach dem barmherzigen Gott ist die Frage nach einer barmherzigen Gesellschaft, nach einer humanen Welt. Selten war die Sehnsucht nach Friede, Gerechtigkeit, nach einer aussichtsreichen Zukunft so gross wie heute. Es ist zuzugeben, dass die Brutalität des Alltags, die Erfahrung von Gewalt, die soziale Apartheid, die Menschen unmittelbarer bedrängen als die Frage nach einem barmherzigen Gott. Nur ist das Eine ohne das Andere nicht zu haben. Ohne gnädigen Gott keine wirklich menschliche Welt. Wo sollte der Atheismus schon Barmherzigkeit lernen? Umgekehrt ist Religion nicht ohne Weiteres Garantie für Menschlichkeit. Im Gegenteil, im Namen Gottes geschehen unglaubliche Verbrechen. Deshalb ist es nicht gleichgültig, an welchen Gott wir glauben. Nur ein gnädiger Gott bringt Licht in diese Welt, nur er ist wahr. Ein Gott, der den Hass legitimiert, vielleicht sogar provoziert und dazu anstiftet, ist nicht nur überflüssig, er ist gefährlich.

Der Gott Jesu Christi ist barmherzig. Das ist die Wahrheit. Er befreit von der Sünde, befreit zur Menschlichkeit. Die Gesprächspartner Jesu wundern sich, dass Jesus ihnen die Freiheit verspricht. Sie meinen als Angehörige des Volkes Gottes eo ipso frei zu sein, auch wenn sie Jahrhunderte lang Fremdherrschaft erdulden mussten. Sie täuschen sich. Frei sind nur die, die von Gott Barmherzigkeit erfahren haben und ihm dafür danken. Frei sind die, die sich durch diese Barmherzigkeit in ihrem Handeln inspirieren lassen. Sie werden gegen die “Sünde” in der Welt aufstehen, gegen Ausbeutung und Bevormundung protestieren, die Ungerechtigkeiten beim Namen nennen und schliesslich den Kampf gegen den Terror in einen Kampf gegen den Hass umwandeln. Nur Liebe kann Hass überwinden. Frei ist, wer auf Rache verzichten und die eigenen Interessen der guten Sache unterordnen kann. Die Wahrheit wird euch frei machen zum Dienst an Gott und am Nächsten.

Die Reformation war eine grosse Freiheitsbewegung, getragen von der Gewissheit, dass Gottes Liebe rettet und nichts sonst. Sie hat Menschen aus kirchlichen und politischen Abhängigkeiten befreit und die Christenheit an ihren Ursprung erinnert. Die Reformation hat ihre Zeit gehabt. Der Gedenktag will die Impulse wachhalten, die sie der Christenheit vermittelt hat. Der 31. Oktober ist so gesehen ein Tag der Ermutigung zu einem neuen Aufbruch, nicht nur für Lutheraner und Reformierte, sondern für die gesamte Christenheit. Zurück zu den Wurzeln und damit vorwärts zu einem neuen Angriff auf die Welt. Der Reformationstag dürfte einer wichtigsten Tage im Leben der Kirchen sein.

Amen.

Professor Dr. Gottfried Brakemeier
Nova Petrópolis, RS, Brasilien
gbrakemeier@gmx.net


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