Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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21. Sonntag nach Trinitatis, 5. November 2006
Predigt zu Jeremia 29,1.4-7.10-14, verfaßt von Ekkehard Lagoda
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Jeremias Brief an die Weggeführten in Babel

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte
4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:
5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;
6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.
7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.
10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.
11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet.
12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten und ich will euch erhören.
13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,
14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Liebe Gemeinde,
im 6. vorchristlichen Jahrhundert trat ein Prophet auf, der sein Volk warnte und rief. Die angekündigte Katastrophe blieb nicht aus und er musste sein Volk in den Untergang begleiten. Ich rede vom Propheten Jeremia. Eine faszinierende Gestalt.
Er beklagte immer wieder seine Einsamkeit, entlarvte Propheten, wenn sie in Momenten, als alle Zeichen auf Sturm standen, diese schönredeten und sich beim Volk einschmeicheln wollten. Jeremia wollte mit gewagten Provokationen sein Volk aufrütteln. Er, der einer Priesterfamilie entstammte, hielt es für seine Aufgabe, der damals herrschenden Meinung, und das war meist die Meinung der Herrschenden, heftig zu widersprechen. Und oft genug hat er unter dieser schweren Aufgabe gestöhnt und geheult.

Die damals Herrschenden kümmerte das wenig. Sie hatten die Macht, und die Untergebenen trugen das Risiko. Ihre Macht richtete sich auf einen mächtigen Verbündeten im Südwesten, ich meine Ägypten. Der damalige König war von dieser Großmacht eingesetzt worden. Aber Jeremia fühlte sich allein an Gott gebunden, nicht an außenpolitische Bündnisse. Dieser Gott hatte sein Volk einst aus der Sklaverei Ägyptens befreit und hatte ihm in der Wüste eröffnet, wie er sich menschliches Leben denkt und schenkte ihm die zehn Wegweisungen, die zehn großen Freiheiten, für gelingendes Leben. Gott hatte ihnen ein Land gegeben, damit sie dort Gottes Ideal von Leben Wirklichkeit werden lassen.
Doch dieses Leben, wie Gott es meint, war ihnen auf die Dauer zu mühsam geworden. Sie wollten lieber leben wie andere Völker auch. Sie passten sich an den Lauf der Welt an. Und weil sie sich nicht voll auf das befreite Leben mit Gott einlassen wollten, konnten sie auch seinen Verheißungen, seinem Beistand nicht mehr ganz vertrauen. Und wer nicht mehr vertraut, muß sich absichern. Sie sicherten sich -in Anführungszeichen- scheinbar „vernünftig“ ab, indem sie ausgerechnet ein Bündnis mit den Sklavenhaltern von gestern eingingen, die an allen, die ihnen hätten gefährlich werden können, mit so menschenverachtenden Methoden wie der Folter hantierten. Diesen Rückfall bekämpft Jeremia leidenschaftlich: Verlaßt euch nicht auf dieses westliche Bündnis und schon gar nicht auf die Kraft einer militärischen Allianz. Solche äußere Sicherheit habt ihr ja nur nötig, weil ihr euch im Innern nicht voll auf Gottes Bund einlassen wollt und ihm nicht vertraut. Beseitigt alle ägyptischen Verhältnisse bei euch, alle Unterdrückung und Ausbeutung. Prangert jede Menschenrechtsverletzung und Form von Folter an, auch wenn dies im Namen eines Kampfes gegen das Böse geschieht. Schafft innenpolitisch und außenpolitisch soziale Gerechtigkeit und Frieden, statt euch durch zweifelhafte Bündnisse abzusichern.

Die Politiker sagten: Wir sind Politiker und tragen die Verantwortung. Die Ökonomen dagegen hielten sich für die Sachverständigen und alle waren sich darin einig, daß dieser Mann Gottes und Prophet eher ein Träumer war, als daß er von den Realitäten einer funktionierenden Wirtschaft etwas verstehen konnte. Für sie gab es Sachzwänge, denen sie nicht ausweichen konnten. Gottes Wort kann einfach nicht in politische Programme umgesetzt werden.
Politik ist die Kunst des Möglichen. Jeremia, der für das „Unmögliche“ stritt, scheiterte folgerichtig. So wurden dann zunächst nur die oberen Zehntausend von Juda, also die politisch-religiösen Verantwortlichen nach Babel entführt. Dort war ihr Problem nicht so sehr die materielle Verelendung, sondern vielmehr die Fremde.

Doch war die Provokation nur ein Teil von Jeremias Leben. Er verkündete auch einen neuen Bund Gottes mit den Menschen, der selbst dann gilt, wenn die Menschen versagen. Seine Utopie heißt Schalom. Wir können diesen Begriff mit „Frieden“ übersetzen, würden damit aber zu kurz greifen, weil er in seinem Kontext auch soziale Gerechtigkeit meint - soziale Gerechtigkeit als ein entscheidender Baustein für umfassenden Frieden. Schalom für sein Volk, das im Exil leben muß, bedeutet auch: Leben ohne Entfremdung.

Unser Predigttext ist eigentlich ein Brief, den der Prophet von Jerusalem aus an den Rest der Ältesten in der Fremde, an die Priester und die Propheten, sowie an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel entführt hatte, schrieb. Daß Jeremia den Entführten Gottes Wort schreibt, macht deutlich, daß sie zwar in der Fremde, aber nicht gottverlassen sind.

Hören wir noch einmal auf die Verse 4-7:
4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:
5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;
6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.
7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.

Wenn der Prophet spricht, dann sind das nicht menschliche Worte, sondern hier meldet sich Gott durch sein Sprachrohr Jeremia.
Hat aber Gott zu Krieg, Verschleppung und Exil nicht mehr zu sagen als:
Damit müsst ihr euch eben abfinden, macht das Beste daraus?

Unter den Verbannten kommt es zu einem Sturm der Empörung: Empfiehlt Jeremia nicht blinde Anpassung? Anpassung an das System ihrer Unterdrücker? Oder stabilisiert er nicht gar ihre Unterdrücker?
Sollen sich die Israeliten aufs Private zurückziehen, auf Haus, Garten und Familie? Soll das Streben nach materiellem Wohlstand in Babel ihr höchstes Ziel sein?

Die Aufforderung „Baut Häuser und wohnt darin“ bedeutet ja, einen fest umrissenen Ort innerhalb der verachteten Metropole zu beanspruchen und zugleich ein Stück Sesshaftigkeit in einem fremden und ungeliebten Land. „Einen Garten pflanzen“ heißt für die Unterdrückten, die paradiesische Kultur ins babylonische Großreich hineinwirken zu lassen. „Früchte essen“ und sich der Mose-Verheißung erinnern, lädt ein, einen Anteil der Ernte selbst zu genießen und das „einander heiraten“ und „Töchter und Söhne zeugen“ erinnert an die Erzväterverheißung und beinhaltet eine einzige Demonstration von Hoffnung auf eine gelingende Zukunft.

Jeremias Aufforderung ist in einem noch weiteren Sinn zu verstehen: Die Deportierten werden von Gott durch Jeremia eingeladen aus der neuen Situation das Beste zu machen, für sich und damit auch für Babylon. Babylon ist kein Zwischenstop/ stopover zwischen goldener Vergangenheit und traumhafter Zukunft, sondern eine Station, an der länger auszuharren ist: Laßt euer Heimweh hinter euch. Lebt nicht nur in der Erinnerung an goldene Zeiten, an eine bessere Vergangenheit in Jerusalem. Gebt euch nicht nur euren Illusionen von einer idealen Zukunft hin. Lebt in der Gegenwart. Statt vorgestern oder übermorgen, heute! Im Übrigen geht Jeremia davon aus, daß die Rückführung der Israeliten ins eigene Land erst in 70 Jahren stattfinden wird.

10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.
11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet.
Siebzig Jahre gilt es zu überbrücken. Seine Empfehlungen zielen darauf ab, daß sie zahlenmäßig und kulturell überleben.

In den Worten Jeremias heißt es auch:
7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.
Dieses biblische Wort benutzen wir hier in Genf in der Arbeit mit Menschen, die aus Gründen der Unterdrückung, wegen Armut oder Umweltzerstörung ihre Heimat verlassen mussten. Sie leben als Fremde, zumeist unfreiwillig, in dieser Stadt. 85 unterschiedliche kirchliche Gemeinschaften und Kirchen sind uns inzwischen bekannt, vornehmlich protestantischer Herkunft. Sie suchen Raum für ihre Gottesdienste.
Um die biblische Aufforderung „suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl“ ernst zu nehmen, organisieren wir für ein Wochenende im Mai 2007 eine gemeinsame Aktion. In einer Gebetsnacht gestaltet je eine Gemeinschaft jeweils eine Stunde. Am Sonntagmorgen feiern Christinnen und Christen aus Genf mit Pfingstlern, Lutheranern und Mitgliedern der Heilsarmee gemeinsam in ihren Stadtteilen einen Gottesdienst, feiern miteinander das Abendmahl und essen gemeinsam zu Mittag. Am Nachmittag begeben sich aus allen Stadtteilen kleine Pilgerzüge in Richtung der Kathedrale St. Pierre, um noch einmal über Christus als Quelle des Friedens nachzudenken und miteinander zu beten.
In Genf, der Stadt der Flüchtlinge seit den Tagen der Reformation, suchen wir ein gemeinsames Zeugnis abzulegen, suchen wir der Stadt Bestes, teilen unsere Gaben des Heiligen Geistes und beten für die Versöhnung der Welt.
Zugewanderte Menschen haben Fähigkeiten, die sie zum Wohl der gesamten Gesellschaft einbringen können. Darum wollen wir Migrantinnen und Migranten zu einer öffentlichen Plattform verhelfen, wollen wir uns mit ihnen in der Öffentlichkeit einsetzen gegen Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, gegen Ausgrenzung und soziale Benachteiligung.
Die damaligen Deportierten in Babylon und die heutigen Migranten in Genf, aber auch die in Genf Etablierten, werden von Gott durch Jeremia aufgefordert aus der neuen Situation das Beste zu machen, für sich und damit auch für ihre Stadt.

Solche Worte würden Jeremias schönfärbenden Prophetenkollegen nicht finden. Das unterscheidet ihn von den sogenannten falschen Propheten. Er plädiert unbequem dafür, sich auf das Heute einzulassen und mit ganzer Kraft für mehr Frieden zu arbeiten, gerade in Babylon: Wartet nicht auf bessere Zeiten, lebt und handelt heute in der Gegenwart. Denn wer zurückschaut, der erstarrt. Wer aber in und aus der Gegenwart das Bestmögliche macht, die Zukunft im Blick hat und der alten Verheißung vertraut, der spürt ihre Wahrheit: „Ich bin mir wohl bewusst, was für Gedanken ich über euch habe, spricht der Herr, nämlich Gedanken des Heils und nicht des Unheils, euch zu geben Zukunft und Hoffnung.“


Pfarrer Ekkehard Lagoda
Evangelisch-Lutherische Kirche in Genf
20, rue Verdaine
CH – 1204 Genève
Tel 0041 22 310 41 87
Fax 0041 22 310 41 51
pfarrer@luther-genf.ch
www.luther-genf.ch

 


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