Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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20. Sonntag nach Trinitatis, 29. Oktober 2006
Predigt zu Matthäus 21,28-44, verfaßt von Kirsten Bøggild (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


FRUCHT

Ein Weinberg ist nicht gerade besonders dänisch, aber er ist doch ein altererbtes Bild für das Paradiesische. Eine Vorstellung, ein inneres Bild, das wir aus der Bibel haben. So wie wir es heute gehört haben, aus dem Alten und aus dem Neuen Testament. Und in einer Symbolsprache, die sich in vielen Kirchenliedern wiederfindet. – Der Weinberg ist der Garten Gottes und das Reich Gottes. Aber was bedeutet das? Wie wir gehört haben, ist es der Gedanke Gottes, dass die Menschen, die er liebt, ein Leben leben sollen, in dem gute und gerechte Verhältnisse herrschen. Ein Leben, in dem wir füreinander sorgen und in dem die Elenden und Armen nicht aus lauter Not und Elend auf der Erde schreien. Dass wir ein Leben leben, in dem wir einander nicht kränken, indem wir alles an uns raffen und die anderen sich selbst und ihrer Armut und ihrer Ohnmacht überlassen. Gottes Weinberg ist als ein Leben gedacht, in dem gerechte Güte herrscht und in dem Liebe und Barmherzigkeit Freude und Glück blühen und tägliche Frucht tragen lassen. Das Paradies – mein Land, sagt Gott, ist Himmel und Erde, wo die Liebe wohnt. Frei zitiert nach Grundtvig. Wir haben uns ein Leben vorzustellen, in dem wir alle daran arbeiten, dass die Freude vollkommen werde. Nicht nur unsere eigene Freude, sondern die gemeinsame Freude. Denn Freude ist etwas, was zwischen Menschen entsteht und gedeiht, in der Begegnung zwischen Menschen, im Mitgefühl, in der praktischen Verantwortung. Die Freude ist nicht abstrakt, sie ist konkret im Verhältnis von Mensch zu Mensch. Freude ist etwas, was zu uns kommt – wie haben es so oft gehört – Freude ist etwas, was uns widerfährt, wie die Alten sagten, – aber Freude ist auch etwas, woran wir selbst arbeiten und wofür wir selbst Verantwortung übernehmen sollen. Weil sie sich als Liebe zwischen Menschen abspielt – und nicht bloß als Gefühle des Einzelnen ins Blaue!

Aber der Weinberg kann verfallen und die Trauben können wild und bitter werden. Oder die Ernte kann gestohlen werden. Es gibt massenhaft Ausdrücke dafür, dass es schief gehen kann mit dem Garten Gottes. Ja, nicht nur, dass es schief gehen kann, sondern auch, dass es schief gegangen ist. Die Freude ist nicht vollkommen. Nein, sie kann erlebt werden, als gäbe sie es fast nicht mehr. Als ob Menschen einander nichts mehr angingen und nur mehr als genug damit zu tun hätten, für sich und das Ihre zu sorgen. Wenn der Prophet Jesaja schreibt, dass der Weinberg nicht – wie erwartet – gute Trauben brachte, süße, herrliche Trauben, sondern stattdessen nur schlechte, saure, bittere Trauben, dann ist das ein Ausdruck dafür, dass das Leben verkehrt gelebt wird. Dass wir das Leben anders leben, als Gott es gedacht hat. Dass wir wie wilde, unzivilisierte Menschen leben, unter denen Worte und Taten mehr schmerzen als guttun. Weil die Menschen sich zu weit von Gottes ursprünglicher Absicht mit uns entfernt haben, dass es fast keine Verbindung gibt zwischen der liebevollen Absicht, die er hatte, als er uns in die Welt setzte. Die schlechten Trauben sind wie die moderne Verwirrung in den Gefühlen und Gedanken von Menschen. Eine Verwirrung, die sich in praktischer Ohnmacht gegenüber dem schwierigen Leben in der Gemeinschaft auswirkt. Die Bitterkeit ist wie die verbreitete Enttäuschung darüber, dass sich zeigt, dass das Leben nicht die Sehnsüchte erfüllt, die wir haben, die wir aber nicht mehr respektieren oder verstehen. Sie ist wie der verzerrte Ausdruck im Gesicht und um den Mund eines Menschen, der alles das tut, was er nicht will, es aber eben doch tut.

In allen Worten für den heutigen Tag ist Wert gelegt auf die Rolle von Menschen in dem Leben, das wir bekommen haben: sie besteht darin, Gottes Arbeiter zu sein. Sie besteht darin, uns selbst, alles was wir sind, ihm zu geben. Wenn wir hin und wieder uns selbst oder einander fragen, wer wir sind und warum wir hier sind, antwortet Jesus in Gleichnissen: Du bist hier, um Gott und deinen Nächsten zu lieben. Du bist hier, um für ein freudevolles Leben zu arbeiten. Und du bist hier, um dich deines Mitmenschen anzunehmen und ihm dieselbe Barmherzigkeit zu erweisen wie die, von der du selbst lebst, Gottes Barmherzigkeit. Es ist eine Irrtum, dass du nicht weißt, wer du selbst bist oder warum du hier bist. Es ist eine verbreitete moderne Verwirrung. In Wirklichkeit ist es so einfach: Du bist von Gott geschaffen, geschaffen aus Liebe – und deshalb geht es darum, dass du selbst Liebe bist. Wie du das sein sollst – das zu verstehen, ist deine eigene Aufgabe. Es ist deine eigene Freude, es herauszufinden. Es ist deine Freiheit. Die Freiheit – die du nicht dazu missbrauchen sollst, stattdessen nur dich selbst zu lieben und so deinen Mitmenschen im Stich zu lassen. Das Gefühl der Leere und Enttäuschung, das überall im modernen, oberflächlichen, schnellen Leben auf uns lauert, erhält eine strenge Antwort vom Wort Gottes: Wie kannst du dich leer und enttäuscht fühlen, wenn die Aufgabe zu lieben gestellt ist und es keinen andern gibt, sie auf sich zu nehmen? Wie ist es möglich, sich ohnmächtig und desorientiert zu fühlen, wenn es so viel zu tun gibt? Und wenn du doch nicht zweifeln kannst, was du zu tun hast?

Die beiden Brüder, die gebeten werden, in den Weinberg zu gehen und dort zu arbeiten, wissen selbstverständlich, was das bedeutet. Aber beide sagen eines, und tun etwas anderes. Das Entscheidende ist indessen nicht, was sie sagen, sondern was sie tun. Deshalb gleicht die Welt mehr und mehr einem verwüsteten Weinberg. Denn Worte haben wir reichlich, aber Güte in der Praxis fehlt uns allzu sehr. Der Glaube an Gott ist nicht nur eine Frage nach dem, was wir sagen, sondern nach dem, was wir tun. Ein Mann unserer eigenen Zeit hat über den Glauben, der so ausführlich diskutiert wird, gesagt:

„Man verliert nicht den Glauben. Er hört auf, das Leben eines Menschen zu formen, das ist alles.“

Glaube, der keine praktischen Konsequenzen hat, ist tot. Man merkt ihn nicht mehr. Bereitet das uns so viel Zweifel und so viele Fragen? Dass das, was wir sehr wohl wissen, – dass wir geliebt sind und dass wir selbst lieben sollen – dass dieses an und für sich selbstverständliche Wissen und Glaube aufgehört hat, unser Leben zu formen, so dass wir in der Praxis danach leben? Oder versuchen wir, danach zu leben? Und dass es nur dann geschieht, wenn wir den Tiefpunkt der inneren Leere oder das Äußerste an Hilflosigkeit und Abhängigkeit erreichen – wie die Zöllner und Huren im Gleichnis Jesu – dass wir nur dann zu dem Wissen und dem Glauben zurückkehren, mit denen wir geboren sind? Erkennen wir nur in der Verzweiflung, wer wir sind und was wir tun sollen? Also, wenn wir anscheinend am allerweitesten von der Freude entfernt sind, für die wir betimmt sind, dann glauben wir an sie, denn dann sehen wir ein, dass sie es ist, auf die alles ankommt und auf die hin alles wächst. Kann man den Glauben verlieren und dennoch wiedergewinnen? Kann man von dem einen Extrem zu anderen kommen wie der Bruder, der zuerst eines sagte und dann das Gegenteil davon tat? Kann man das tun, was man nicht glaubt – um mit Hilfe dessen, was man tut, den Glauben wiederzugewinnen? Den Glauben an die Güte? An das Recht der Barmherzigkeit über das kalte, rechthaberische Herz?

Aber es gibt ja auch eine Bosheit in der Welt, die mehr und anderes ist als bloße Untätigkeit. Als bloß nichts zu tun und Glauben und innere Gewissheit verfallen lassen. Die Weinbauern, die Gottes Boten und schließlich auch Gottes eigenen Sohn schlugen und töteten, taten es um des eigenen Gewinns willen. Sie gestatteten dem primitivsten Egoismus, der Habgierigkeit, sich zu entfalten. Und durch ihre Handlungen töteten sie nicht nur Gottes Sohn, sondern auch den Glauben an die Liebe. Der Sohn kam, um die Frucht all dessen zu empfangen, was getan sein sollte, damit die Freude wachsen und die Welt erfüllen konnte. Sie schlugen ihn tot und behielten die Freude für sich selbst. Gönnten anderen keinen Anteil an ihr. Das ist die Bosheit, die wir praktisch gegeneinander entfalten, dass wir einander nicht gönnen, glücklich zu sein. Dass wir eifersüchtig handeln. Dass wir nach Kräften stehlen – nicht allein die materiellen Güter, sondern die Lebensfreude der anderen. Bosheit haben wir in sichtbaren Bildern, tagtäglich – aber wir haben sie nicht zuletzt auch in uns selbst in den kleinen unsichtbaren, unmerklichen Gedanken, die wir uns über einander machen. All das, was nicht die Freude der anderen zulassen will. – Ja, aber so sind wir doch nicht? Nein, so sind wir nicht nur, denn dann wären wir nicht mehr hier, aber so sind wir auch. Und wir kommen nicht darum herum. Wir können es nur zugeben – und alles tun, was wir vermögen, damit wir das Gute in uns, das wir wollen, auch tun, aber das Böse in uns, das wir nicht wollen, auch nicht tun. Um auf die berühmte Einsicht des Paulus anzuspielen: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich... Ich elender Mensch.“

Denn es heißt am Schluß des heutigen Evangeliums, dass, wer über diesen Stein, der Christus d.h. die Barmherzigkeit, ist, fällt – der wird verletzt werden. Und das macht nichts, denn dann lernt er, besser aufzupassen und die Verantwortung für das zu übernehmen, was er tut und woran er denkt. Aber der, auf den der Stein fällt, der wird zermalmt werden. Er wird vernichtet werden – dadurch dass er die Bedeutung der Liebe und Barmherzigkeit für unser gemeinsames Leben nicht versteht oder missachtet. – Wir hören also wiederholt, dass wir eine unentrinnbare Verantwortung haben für das, was wir mit dem Leben tun, das uns anvertraut ist. Sowohl unser eigenes Leben als auch das der anderen ist unsere Verantwortung. Dass die Freude nicht versäumt, gestohlen, ja erschlagen wird – das ist unsere Pflicht. Wir haben eine Rolle im Leben: Dafür zu arbeiten, dass die Freude vollkommen werden kann. Es ist eine glückliche Rolle – wie utopisch ihr Ziel auch sein mag. Denn Gott ist es, der uns die Rolle gegeben hat, und er ist bei uns alle Tage bis an der Welt Ende.

Amen!

Pastor Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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