Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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20. Sonntag nach Trinitatis, 29. Oktober 2006
Predigt zu 1. Korinther 7, 29-31, verfaßt von Esther Kuhn-Luz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Die Zeit ist kurz.
Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine;
Und die weinen, als weinten sie nicht;
Und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als kauften sie nicht;
Und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht.
Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Liebe Gemeinde,

Unser Predigttext ist so etwas wie eine Zeitansage – und man hat zunächst den Eindruck, der Apostel Paulus sieht keine Zukunft mehr.
„ Die Zeit ist kurz – das Wesen dieser Welt vergeht“.
Das klingt fast so resignativ, wie viele heute die Entwicklung unserer Gesellschaft mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit und Armut sehen.
Es geht halt alles den Bach runter.. sagen manche – und ziehen sich resigniert oder enttäuscht zurück.
„ Die Zeit ist kurz, das Wesen dieser Welt vergeht…“

Manch andere verstehen das als Aufforderung, gerade jetzt in dieser scheinbar noch kurzen Zeit sich dafür ein zu setzen, dass die Welt in ihren sozialen Zusammenhängen nicht so schnell vergeht. Ich denke an die vielen TeilnehmerInnen der Kundgebungen, die in vielen Städten Deutschlands für eine sozialere Politik eingetreten sind.

Aber Paulus benennt diese Zeitansage in einem andern Kontext.
Von den Unverheirateten ist der Abschnitt in der Bibel überschrieben.

Seine Zeitansage steht inmitten von Überlegungen über die Bedeutung und Wertung von Verheiratet sein oder Ledig sein.
Es sei gut um der kommenden Not willen, sagt Paulus, es sei gut für den Menschen, ledig zu sein. Bist du an eine Frau gebunden, so suche nicht, von ihr los zu kommen. Bist du nicht gebunden, so suche keine Frau. Wenn du aber doch heiratest, so sündigst du nicht und wenn eine junge Frau heiratet, so sündigt sie nicht.
Ich aber möchte euch gerne schonen …
Paulus diskutiert verschiedene Lebensformen.
Es sind nicht einfach nur losgelöste moralische Gedanken über die Bedeutung der Ehe oder Ehelosigkeit, sondern entscheidend ist der Zusammenhang von Lebensformen und gesellschaftlicher Entwicklung. „ Die Zeit ist kurz…“
Und da sind wir ja mitten in einer sehr aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte:
Es gibt inzwischen so viele verschiedene Lebensformen.
Dass fast jede dritte Ehe geschieden wird ist nicht nur eine statistische Nachricht, sondern prägt viele Beziehungen – als Patchworkfamilien, als Alleinlebende, als Alleinerziehende, als Menschen, die trotz oder gerade wegen großer Verletzungen auf der Suche sind, nach einer guten Partnerschaft.
Es ist ein Ausdruck unseres gesellschaftlichen Lebens, dass es immer schwerer wird, Beziehungen so zu leben, dass beide Partner und die Kinder zu ihrem Recht kommen können.
Die Erwartungen in der Arbeitswelt fordern immer stärker einen flexiblen, mobilen Menschen, der Druck wächst enorm und dabei auch bei vielen das Gefühl, nicht mehr genügen zu können. Die Angst wächst… und damit die Anstrengung, noch mehr arbeiten zu müssen. Wenn aber das ganze Lebenshaus von Arbeit besetzt ist, dann bleibt immer weniger Luft und innere und äußere Zeit fürs Leben – für die Familie, die Partnerin, die Freunde…
Das wiederum raubt noch mehr innere Ressourcen – ich kann noch weniger auftanken, um dann wieder den Anforderungen in der Arbeit gewachsen zu sein.
Bei einem Vortrag über das Thema Gesundheit habe ich neulich gehört, wie dramatisch die Anzahl der psychisch Erkrankten gestiegen ist – und zwar gerade bei Erwerbstätigen.

Jetzt bin ich schon sehr in unserer Zeit gelandet, aber diese Verbindung von Zeitansage und der Diskussion des Apostel Paulus über Lebensformen hat mich sehr berührt – weil ich gemerkt habe, wie aktuell seine Diskussion ist.

Kommen wir jetzt noch einmal zu seiner Zeitansage.

Die Zeit ist kurz.
Das kennen wir – und es versetzt uns sofort in eine innere Hektik.
Nur schnell machen, bald ist die Zeit vorbei…
Die Zeit ist kurz – das vermittelt diese innere Atemlosigkeit. Gedrängt zu werden , sich selber zu drängen, möglicht schnell alles zu erledigen, möglichst viel auf einmal zu machen – und damit verbindet sich dann auch die Erfahrung, nur noch „ flach „ zu leben und zu arbeiten, keine Zeit mehr zu haben, etwas vertiefen zu können – und ganz zu vergessen, dass Zeit haben für etwas bedeutet, keine Zeit für Alles zu haben…
Die Zeit ist kurz – also muss alles schnell gemacht werden. Nur keine Zeit verlieren…

Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine;
Und die weinten, als weinten sie nicht;
Und die sich freuen, als freuten sie sich nicht;
Und die kaufen, als behielten sie es nicht;
Und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht.
Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Das klingt alles nach einer Kurzatmigkeit, wie wir sie ja heute besonders gut kennen.
Das klingt aber auch sehr apokalyptisch – bald ist alles vorbei…Legt euch auf nichts mehr fest…Es hat alles keine große Bedeutung mehr…
Wie hat Paulus das gemeint?
Für ihn hatte diese Zeitansage durchaus etwas Befreiendes: die Zeit ist kurz, bis Jesus wieder kommt!
Theologisch spricht man von der Naherwartung, in der Paulus gelebt hat.
D.h., er hat in der Erwartung gelebt, dass Jesus in ganz kurzer Zeit wieder kommen wird; dass der Auferstandene als Messias wieder kommt und dass dann das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für alle erlebbar werden wird – dass dann die Grenzen des Todes, die Grenzen der menschlichen Enge und Hartherzigkeit und Unbarmherzigkeit überwunden werden – weil er alles verwandeln wird – und der Mensch dann nicht mehr sein Herz hängt an Achtung, an Geltung, an Besitz, an Position, an Status…, sondern dass der Mensch sich ganz öffnen kann für die Fülle und die Gnade Gottes, die Gott doch in jedes Leben gelegt hat und die Freiheit endlich erkennt, die im Glauben an den auferstandenen Jesus Christus möglich ist.
Die einzige tragende Beziehung, die auch durch den Tod bestehen bleibt. Nichts kann mich trennen von deiner Liebe, Jesus Christus….Such wer da will ein an der Ziel die Seligkeit zu finden…
Paulus war der festen Überzeugung, dass die Welt mit ihrem Hass, mit ihrer Unterdrückung, mit der tödlichen Lust, immer besser, schneller, reicher, berühmter werden zu wollen, zu einem Ende kommt – das Wesen dieser Welt vergeht… und für Paulus ist das mit Freude verbunden so wie es später Johannes formuliert hat:
Gott wird abwischen alle Tränen von unseren Augen… und dann wird es keinen Tod mehr geben, noch Leid , noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein,; denn das Erste ist vergangen.
Das Wesen dieser Welt mit seiner Gewalt, seiner Angst und seinem Schrecken, seiner ungerechten Verteilung von Armut und unermesslichen Reichtum vergeht…

Zukunftsträumerei???

Wir leben zumindest nicht mehr in dieser Naherwartung. Wir versuchen, in unseren Alltag den befreienden Glauben an den Auferstandenen Jesus Christus zu leben, in dem wir Gottes Kraft und Gottes Weisheit erkennen – und die besteht oft im Wiederspruch zu dem, was in unserer Zeit an Weisheit, an Machtanspruch gilt.
„ Was schwach ist vor der Welt…, was als gering gilt vor der Welt…., das Verachtete hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache – was sich selbst als stark und geachtet und klug aufbläst…. ( 1.Kor. 1, 27f).
Welche innere Freiheit ist damit verbunden, sich nicht der Wertehierarchie in unserer Gesellschaft anpassen zu müssen. In welcher Klarheit wird hier ausgedrückt, welche Perspektive Gott auf unser Leben, auf unser Zusammenleben hat.
Was vor anderen, aber oft genug auch vor uns selbst als schwach, gering, verachtet gilt, gerade das hat Gott erwählt.
Aber dieser befreiende Grundgedanke ist leider oft zu wenig durchgedrungen.
Er wird gewissermaßen überdeckt oder überschattet – und das meine ich auch bildlich verstanden als einen Deckel oder als einen undurchdringbaren Nebelschatten - von einem falsch verstandenen moralischen asketischen Bewusstsein.

„ Fortan sollen die, die weinen, als weinten sie nicht;
und die sich freuten, als freuten sie sich nicht.“

Die Verse von Paulus hatten eine große Wirkung auf eine gewisse asketische Strömung vor allem in der protestantischen Kirche. Es wurde als eine besonders starke Frömmigkeit verstanden, wenn man alle Gefühle möglichst in „ lauer“ Form lebt.
„ Weinen als weinten sie nicht “ wurde missverstanden als wäre weinen und trauern ein Ausdruck des Zweifelns gegenüber Gott . Ich habe das in Schwenningen in meiner damaligen Gemeinde erlebt, was es bedeutet, wenn jemand denkt, er dürfe nicht um seine geliebte verstorbene Frau trauern – er müsse sogar eine gewisse Freude zeigen, dass sie doch nun ganz beim Auferstandenen sei. Natürlich ist der Glaube an die Auferstehung, an auferstehendes Leben die größte Kraft und Hoffnung unseres christlichen Glaubens.
„ wo einer im Dunklen nicht verstummt, sondern dass Lied der Hoffnung summt, um Totenstille zu überwinden, da kannst du Osterspuren, Hoffnungsspuren finden.“ Heißt es in einem Osterlied.
Aber eine verwurzelte Hoffnung kann nur entstehen, wenn ich die Klage, die Trauer auch zu lasse – sonst wird und wirkt alles sehr aufgesetzt und künstlich und kann auch nicht wirklich zu einer inneren Kraft werden, weil Gefühle unterdrückt werden.
Das tut richtig weh, das mit zu erleben, wenn sich jemand das Trauern verbietet – aus einem falsch verstandenen christlichen Glauben heraus.
Genauso ist es mit der Freude – natürlich gehört es zum christlichen Glauben dazu, sich unbändig freuen zu können, ganz aus dem Häuschen zu sein, zu tanzen , zu springen, zu jubeln…
Auch da gelten wir Christen ja eher als moderat…
So’n bisschen Freude ist schon o.k…..
Das hat leider oft zu einer Karikatur v.a.der protestantischen Christen geführt: Christen, das sind die Menschen, die zum Lachen in den Keller gehen…

Aber ist da Paulus eigentlich richtig verstanden worden als einer, der so zu sagen nur „ flache, laue Gefühle“ vertritt?
Weinen, als weinten sie nicht, freuen als freuten sie sich nicht…
Wo bleibt da die Leidenschaft, die nötig ist, um eine Position mit Energie zu vertreten?

Nein, um flache Gefühle, um ein weltfernes Leben geht es ihm nicht, da ist Paulus sicher falsch verstanden, denn Paulus ist doch einer, der mit sehr viel Leidenschaft – im doppelten Sinne – für den befreienden Glauben an Jesus Christus eintritt.
Ihm ist es aber von ganzem Herzen wichtig, gerade in allen Lebenssituationen diesen befreienden Glauben zu integrieren, bzw. von ihm her alles durchdringen zu lassen.
( Du durchdringest alles…Gott ist gegenwärtig…)
Wer an Christus glaubt, der muss diesen Glauben für alle Bereiche des Lebens fruchtbar werden lassen.
Und so lautet Paulus Aufforderung:
„ Ihr könnt nicht so mit den Problemen dieser Welt, mit euren Alltagsthemen umgehen, als wäre Christus nicht gekommen. Als wäre er nicht in allen Bereichen gegenwärtig.
Ja, weint – aber vergesst nicht, dass Christus in eurem Weinen und Klage gegenwärtig ist.
Ja, freut euch – und vergesst nicht, dass die Freude es ist, in der Christus ganz nahe zu finden ist.
Ja, kauft ein – geht auf den Markt…aber geht nicht ganz in den Marktwerten auf. Behaltet vor allem hier im Blick, dass kein Marktwert den Menschenwert ersetzen kann.
Kaufen, als ob sie es nicht behalten….
Und macht euch klar, dass das Gekaufte nicht euren Wert als Mensch erhöht.

Dahinter steckt so etwas wie ein richtig verstandenes Lob der Distanz.
Trennen zu können zwischen dem, was mir gefällt oder was ich für meinen Lebensunterhalt brauche – aber gleichzeitig wissen, wem mein Herz gehört .Sich nicht zu verlieren in den Werten, die in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben: hohe Rendite – ewige Jugend – Flexibilität…

Diese Sätze sind so etwas wie die Grundsätze einer christlichen Wirtschaftsethik.
Die Marktgesetze sind nicht aufgehoben, aber sie müssen immer in Zusammenhang mit den Themen Menschenwürde und Gerechtigkeit diskutiert werden – oder anders gesagt muss die Kostbarkeit jedes menschlichen Lebens im Mittelpunkt stehen – und nicht der Mensch als Kostenfaktor, wie er in der heutigen Diskussion um soziale Reformen , wie er in den Kostenrechnungen sehr profitabler Unternehmer v.a vorkommt.

Es gibt nichts, will Paulus sagen, was höher, wichtiger , entscheidender wäre als die Beziehung, in der der Auferstandene zu uns lebt – und wir zu ihm.
Es ist etwas Entscheidendes in diese alte Welt getreten, sagt Paulus – dass gilt in allen Lebensfacetten, das eben ist doch das Befreiende. Nichts kann euch mehr trennen von der Liebe Gottes…
Vergesst nicht, in all euren verschiedenen Lebenssituationen das Lied der Hoffnung zu summen, und danach zu fragen, was das konkret bedeuten kann – von Hoffnung zu sprechen in einer Welt, die immer mehr von Angst und Armut geprägt ist.
Das bedeutet, sich auch konkret Gedanken zu machen, wo was verändert werden muss in unserer Gesellschaft, auch in unserer Kirche…
„ Erhalte mich durch dein Wort, dass ich lebe und lass mich nicht zuschanden werden
in meiner Hoffnung“, haben wir vorhin gemeinsam mit dem PS 119 gebetet.
Um diese Hoffnung geht es Paulus.
Um diesen inneren Freiraum und auch äußeren Spielraum, der mir dadurch ermöglicht wird.

„ Menschen, die aus Hoffnung leben,
sehen weiter.

Menschen, die aus der Liebe leben,
sehen tiefer.

Menschen, die aus dem Glauben leben,
sehen alles in einem andern Licht.

Amen


Lied: 346, 1.4.5
Such wer da will ein ander Ziel, die Seligkeit zu finden.
Mein Herz allein bedacht soll sein , auf Christus sich zu gründen.


Esther Kuhn-Luz, Wirtschafts – und Sozialpfarrerin Stuttgart
Esther.Kuhn-Luz@ev-akademie-boll.de



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