Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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19. Sonntag nach Trinitatis, 22. Oktober 2006
Predigt zu Jakobus 5, 13-16, verfaßt von Wolfgang Winter
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

früher war es üblich, dass unsere evangelischen Kirchen werktags geschlossen waren. Daran hat sich viel geändert. Wer heute etwa durch die Fußgängerzone einer Innenstadt geht, dem zeigt sich ein anderes Bild: Die Kirchentüren sind weit geöffnet. Der Blick ins Innere ist frei. Der Kirchenraum lädt ein zum Innehalten, zur Stille, zum Gebet. Viele Menschen folgen dieser Einladung.
Zum Gebet lädt auch der heutige Predigttext aus dem Jakobusbrief ein.
„Leidet jemand unter euch, der bete. Ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.“
Jede Lebenslage soll der Christ in Verbindung mit Gott bringen. Solche Lebenslagen bringen verschiedene Stimmungen mit sich. Unsere Beziehung zu Gott überhaupt hat etwas mit unseren Gefühlen, unseren seelischen Gemütslagen zu tun. Intensive Gefühle weisen auf den Grund unserer Existenz hin, auf das, was unser Leben grundiert und fundiert. Gott begegnet, wo wir Glück und Leiden, Freude und Schmerz, Mut und Verzweiflung bei uns und in uns wahrnehmen. So lehrt Not beten – aber nicht nur Not, sondern alles Erleben, welches die Fassungskraft unseres Alltags-Ich sprengt und uns suchen lässt nach einem tragenden, haltenden Grund. Freilich: Gott muss angerufen werden. Erlebnisse, Gefühle, Stimmungen allein stellen noch keine Verbindung mit Gott her. Unser Text erinnert uns nachdrücklich, dass das Gebet ausdrücklich gewollt und praktiziert werden muss, sei es im Lob, sei es in der Bitte und Klage.


Überwältigende Erlebnisse drängen dazu, die Verbindung zu Gott zu suchen. Es ist Einer, der hört. Aber gibt es auch Menschen, die hören?
„Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihn beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten.“
Die Kranken in der Gemeinde sollen mit ihrem Leiden – und auch mit ihren Gebeten um Heilung! – nicht allein gelassen werden. Sie sollen die Ältesten der Gemeinde rufen, damit diese über ihnen beten.
Viele Krankheitserfahrungen sind ja mit dem Gefühl verbunden, Objekt der Behandlung durch Andere zu werden. Man wird ein Fall und bekommt eine Rolle als Patient. Aber wer hört meine Angst und Unsicherheit, wer nimmt meine Abhängigkeit und Ohnmacht auf? Wenn Gefühle geäußert werden können, kommt der Kranke selbst in den Blick, dann ist er mehr als dieser „Fall“. Hier ist von Angehörigen und Freunden, von Besuchern und professionellen Helfern der Mut gefordert, sich diesen Gefühlen auszusetzen und sie mit zu tragen. Was damit gemeint sein könnte, klingt im Brief einer tödlich erkrankten Krankenschwester an ihre Kolleginnen an:
„Ich weiß, Ihr fühlt Euch unsicher, Ihr wisst nicht, was Ihr sagen und tun sollt. Aber glaubt mir bitte, wenn Ihr Euch sorgt, dann könnt Ihr gar keine Fehler machen. Gebt einfach zu, dass Ihr Euch Sorgen macht. Das ist es in Wirklichkeit, wonach wir suchen. Es mag sein, dass wir Fragen stellen nach dem Warum und Wozu, aber wir erwarten nicht eigentlich Antwort. Lauft nicht weg, wartet. Alles, was ich wissen will, ist, dass da jemand sein wird, um meine Hand zu halten, wenn ich das nötig habe. Ich habe Angst.“
Die Kranken nicht allein lassen: Das kann auch körperlich spürbare Nähe sein. Das Salben mit Öl meint in unserem Text gerade nicht eine „letzte Ölung“. Die Salbung mit Öl ist kein Sterbesakrament, sondern Lebenszeichen. Gebet und intensive Formen des Kontaktes haben die Genesung zum Ziel. Gewiss ist das Salben mit Öl heute kaum noch eine Möglichkeit, solch intensive menschliche Berührung auszudrücken. Aber es geht dabei doch um etwas Unaufgebbares: den spürbaren Trost, der erfahren werden kann – in einem Blick der Augen, im Handauflegen auf die Stirne, im Streicheln der Haare, im Halten der Hand.


„Wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt einer dem anderen seine Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet.“
Wohl jedes ernsthafte Kranksein erweckt auch den Gedanken an das Sterben. Krankheiten erinnern an den Tod. Sie bringen uns in Kontakt mit der unheimlichen Sphäre, in der wir aus der Verbundenheit mit Gott und den Menschen herausfallen. Trennung von Gott, Verfallensein an Sünde und Tod: richtig sichtbar wird diese Sphäre dort, wo sie konkret wird – in der einzelnen Krankheit, die man behandeln kann – und in der einzelnen Sünde, die man bekennen kann. So kann dann die Zeit der Krankheit auch als eine Chance verstanden werden, gewissermaßen im eigenen Leben Inventur zu machen. Was ist mir wichtig im Leben? Woran orientiere ich mich? Wie gehe ich mit anderen Menschen um? Wem habe ich vor kurzem erst Böses zugefügt?
Überwunden wird die Todesverfallenheit in der Vergebung der Sünde. Vergebung ist aber nur wirksam bei jemandem, der sich vergeben lässt. In der Tat, wir sind wahrhaft Bedürftige: Als Menschen, die von überwältigenden Erlebnissen erfasst sind, als Leidende und Kranke, als vom Tod und von der Sünde gezeichnete Menschen: immer sind wir Bedürftige. Wir bedürfen eines haltenden und tragenden Grundes in unserem Leben, wir bedürfen der helfenden Begleitung durch andere Menschen, wir bedürfen der Vergebung unserer Sünde.
Dieses Bedürfen verweist uns darauf, dass wir das Entscheidende im Leben nicht aus uns selbst gewinnen, sondern als Geschenk von jemand Anderem bekommen. So ist das Gebet die lebendige Praxis unserer Beziehung zu Gott. In der Verbundenheit mit ihm erfahren wir, dass er mehr ist als die Summe unserer Gefühle, Sehnsüchte und Wünsche, sondern dass er unser lebendiges Gegenüber, haltender Grund unseres Lebens ist.


So endet unser Text dann auch konsequent wieder beim Gebet: „Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.“
Unser Text scheint ein Gebet zu meinen, das sich als Machterweis Gottes in machtvollen Betern zeigt und das entsprechende Wundertaten nach sich zieht, die Staunen und Erschrecken erregen. So wird in den Versen, die unserem Abschnitt folgen, Elia als Beispiel eines Beters genannt, der durch sein Gebet bewirkt, dass es regnet oder auch nicht regnet, so wie er es will. Ich möchte das Gebet, wie schon gesagt, anders verstehen: Wer betet, versteht sich damit als einen Menschen, der vor Gott nicht ein Bewirkender, sondern ein Empfangender ist. Man könnte auch von der Haltung der Passivität reden, in dem Sinne, dass im Gebet die Erfahrung des Betroffenseins, des Abhängigseins und des Beschenktwerdens intensiv erfahren wird und damit unsere menschliche Grundverfassung vor Gott.
Freilich, dann erfahren wir im Gebet nicht die Durchsetzung unseres Willens, sondern wir erfahren den Willen Gottes, der an uns geschieht. Das beharrliche Pochen auf Erhörung ist nicht das letzte Gebetswort. Das Entscheidende an der Frage der Gebetserhörung ist ja nicht die Frage, ob das Gebet erhört wird, sondern die Frage, ob es gehört wird. Bin ich dessen gewiss, dass es gehört wird, so ist es bereits erhört. Und was dem Gebet folgt, kann mir, da es erhört wird, nur verdeutlichen, wie es erhört ist.
Diese Gewissheit lässt sich nicht erzwingen. Sie ist aber schwerlich zu haben, ohne dass sich jemand auf die Erfahrung des Gebetes einlässt. Franz Kafka hat das Prekäre dieser Erfahrung so geschrieben:
„Es ist sehr gut denkbar,
dass die Herrlichkeit des Lebens
um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt,
aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit.
Aber sie liegt dort,
nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub.
Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen,
dann kommt sie.“

Amen

Wolfgang Winter
Pastor und Pastoralpsychologe
Leiter der Beratungsstelle Ev. Ehe-, Lebens- und Erziehungsberatungsstelle
Göttingen
lebensberatung.diakonieverband.goettingen@evlka.de

 


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