Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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19. Sonntag nach Trinitatis, 22. Oktober 2006
Predigt zu Jakobus 5, 13-16, verfaßt von Christofer Frey
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

in jedem Haus finden sich tote Winkel, in die man selten hineinleuchtet und kaum einmal eintritt. So auch in der Bibel. Ich kenne aber auch Menschen, die sie einmal im Leben von vorn bis hinten gelesen und sich dann doch über manche Kapitel in ihr gewundert haben. Ein frommer Mann, der gerade die gesamte Bibel las – an jedem Tag ein neues Kapitel – hat mir einmal gestanden, dass er an manchen Stellen sehr verwundert war und sich dann fragte: ‚Was will mir heute mein Herr Jesus damit sagen? Gelegentlich bin ich noch ratloser als jener eifrige Bibelleser: Manche Kapitel sprechen mich überhaupt nicht an, andere habe ich vielleicht verdrängt, weil ich über das, was dort gesagt wird, lange nicht mehr oder überhaupt noch nicht nachgedacht habe.

Heute sollen einige Worte aus einem toten Winkel der Bibel herausgeholt werden – als Experiment des Nachdenkens und um herauszufinden, ob sie uns doch noch ansprechen können. Die Worte werden aus einer Gemeinde im ‚Nahen Osten’ überliefert und sind etwas über 1900 Jahre alt. Sie stehen in einem Brief, der gar nicht wie ein Brief aussieht, weil er eher ein Ratgeber für das Leben der frühen Christen* sein will. Aber dieser Brief ist mehr als ein Knigge, also mehr als ein Handbuch guten Benehmens, denn er berät nicht nur, sondern er fordert auf: Dieses oder jenes zu tun ist für Euch und Eure Gemeinde notwendig, sofern ihr ein christliches Leben führen wollt. Ob die Leser – und Hörer, denen das vorgelesen wurde – die vielen Ratschläge und Empfehlungen wirklich brauchten, weil sie bisher noch nicht auf sie geachtet hatten, oder ob sie einen allgemeinen Ratgeber erhielten, der für viele Gemeinden gültig sein sollte, wissen wir nicht. Darum fällt es heute schwer, ein lebendiges Bild von jener Gemeinde in der frühen Christenheit zu gewinnen und sich vorzustellen, was wohl geschehen ist, als ihr aus dieser Sammlung vorgelesen wurde. Der Brief wird der Gemeinde im Namen des Bruders Jesu, des Jakobus, zugesandt.

Vielleicht genügen zwei seiner Schwerpunkte, um begründet zu vermuten, wie es in der Gemeinde damals ausgesehen haben könnte. Zum einen gab es Reiche und Arme, die Reichen müssen starke Worte verkraften, weil der soziale Ausgleich in der Gemeinde nicht gelingt. Die Gemeinde musste etwas für die Armen tun, denn der Staat übernahm keine sozialen Aufgaben. Zum andern geht es um die äußere und die innere Einstellung der Menschen; sie sollen nicht wie schwankende Wellen oder wie steuerlose Schiffe sein, die einmal hierhin, dann dorthin getrieben werden. Jakobus fragt also, wie das Leben gelingt, ja, wie Christen ihr Leben so führen können, dass es nicht mit irgendwelchen Modeströmungen abtreibt. Wie das Leben gelingen könnte – das zeigen unter anderem auch die Worte, die wir heute bedenken sollen:

Jak 5,13-16.
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.
15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
16 Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Es geht zunächst um die innere Ordnung der Gemeinde. Wie sich Menschen in ihr verhalten, so werden sie sich auch nach außen verhalten. Beides ist wichtig – bis heute: Die einen führen den Nachbarn ein mustergültiges Familienleben vor, dass nach außen glänzt; und doch kann es in der Familie selbst ganz anders aussehen. Die anderen wenden sich nach innen und scheren sich weniger um das, was andere denken. Entsprechendes gilt nicht nur von Familien und Häusern, sondern auch von der Kirche: Ein Bischof mag sich mit den Medien befreunden, damit er den Protestantismus präsentiert und seine Anliegen regelmäßig in Zeitungen oder im Fernsehen wiederfindet, ein anderer kann darauf achten, dass sich die Gemeinden von unten und von innen aufbauen und dass der Glaube gelebt wird. Ähnliches gilt von Pfarrern und Kirchenvorstehern (Presbytern).

Der Jakobusbrief will dazu anleiten, zuerst nach innen zu blicken und Wegweiser für das gemeinsame Leben aufzustellen. Würde sein Verfasser unmittelbar zu uns sprechen können, so würde er vermutlich sagen: Ihr wollt es vielen recht machen, aber vergesst nicht: Es gibt einige Grundsätze, die das innere Leben der Gemeinde ordnen helfen, und diese sind dringend zu beachten. Andere – auch Außenstehende ‑ müssen daran ablesen können, was christliches Leben ist.

Jakobus ist also der Auffassung, dass die Christen zuerst mit sich selbst zurechtkommen müssen. Sich selbst finden, sich selbst verwirklichen – das sollte, obwohl es oft missbilligt wird, auch in der Kirche möglich sein, aber auf andere Weise, als es viele Medien empfehlen. Christen müssen nur den angemessenen Ausdruck dafür und zugleich die rechte Lebensweise finden. Niemand sollte sein Leid in sich hinein fressen, und die Freude am Leben darf auch aus dem Verhalten sprechen. Wer leidet, soll beten, wer guter Laune, mehr noch: voll Lebensfreude ist, soll Psalmen singen, sagt Jakobus den Seinen. Beides ist heute nicht mehr selbstverständlich.

Dieser Rat kann Christen in unserer Zeit nur verlegen machen. Wenn Menschen heute versuchen, ihrem Leben und ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, benutzen sie andere, oftmals sehr unterschiedliche Mittel: Teenager kreischen, 50- und 60 jährige bevorzugen Oldies, Jugendliche diese oder jene Band; der musikalische Geschmack kann sogar zum Ausschluss aus der Gruppe führen. Und manche Feier eines runden Geburtstags misslingt kläglich, weil Hits aus der Jugend gesungen werden sollen, aber das Singen ungeübt und die Auswahl der Songs für die Jüngeren unverständlich ist. Wenn Ähnliches in der Gemeinde gilt, muss es betroffen machen, weil wir im nächsten Jahr ein Jubiläum feiern, den 400sten Geburtstag Paul Gerhardts, der wohl der größte Liederdichter der evangelischen Kirche war und dessen Lieder Generationen begleitet haben. Heute wird noch mancher im höheren Alter Verstorbene mit ‚Befiehl du deine Wege…’ zu Grabe geleitet – aber wie lange noch? Psalmen, in die alle einstimmen können, gibt es nicht mehr, Singen scheint überhaupt aus der Mode gekommen zu sein. Und Gottesdienste mit Pop-Musik sind nur für ganz bestimmte Gruppen. Wie ergeht es Menschen, die kein Mittel mehr haben, sich durch Singen auszudrücken?

Und das Beten! Wenn im Jakobusbrief ‚Meditation’ stünde! Das würde vielen, die noch irgendetwas in der Kirche suchen, gefallen. Wer meditiert, muss sich nicht der schweren Frage aussetzen, ob er ein Gegenüber hat, das seine Sorgen und Nöte beachtet und seine Klagen hört. Wer meditiert, versucht vielleicht, sich selbst zu vergessen und zugleich doch zu sich selbst zu kommen. Eine Meditation kann helfen, aus dem Kreisen um sich selbst auszubrechen. Hilft das im Leiden?

Jakobus meint aber nicht die Meditation, sondern das Gebet, das einen Ansprechpartner sucht, ja geradezu erfordert. Damit will er sagen, dass Gott nicht das Ziel unserer meditativen Gedankenflüge ist, sondern uns begegnen will – indem er uns vom Leiden hilft oder zumindest unterstützt, das Leiden anders als bisher zu tragen. Der wahre Gott begegnete einst Menschen nicht durch ein Buch oder in einem Gedanken, sondern ganz konkret – als Mensch in der Geschichte, einmalig, sich an der Schöpfung erfreuend und für andere Menschen leidend – in Jesus Christus. Darum ist das Christentum keine Buchreligion, sondern eine Lebensreligion. Das Gebet erinnert daran, dass Gott unser Gegenüber sein kann und will. Gebet und Psalmenlied waren eine Hilfe, dem Leben Ausdruck zu geben und Menschen mit Gott und mit anderen Menschen zu verbinden.

Bislang sah es so aus, als wollte Jakobus nur einzelne Gemeindeglieder ansprechen. Der Eindruck täuscht – es geht auch um das Zusammenleben. Hatte der Brief bereits die Reichen kraftvoll ermahnt, so spricht er jetzt die Führungskräfte in der Gemeinde an. Was ist ihre Pflicht, wenn jemand krank ist? Wir sollten wissen: Ärzte waren in der alten Zeit selten und teuer. Und die Medizin stand erst am Anfang. Wir dürfen also zusehen, wie Laien damals zu heilen versuchten, und das taten sie sehr umsichtig: Sie bemühten sich sowohl um den Leib wie auch um die Seele. Dem Leib das Öl, nicht als medizinisches Hausmittel, sondern als Stoff mit einer besonderen Kraft, der Seele das Gebet und damit die Liebe derer, die sich um den Kranken kümmern. Die Sache mit dem Öl sieht ein wenig wie Zauberei aus. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, denn die zur Krankensalbung bestellten Ältesten der Gemeinde sollen einem Anliegen nachkommen, das auch moderne, kritische Menschen bewegt: den kranken Menschen als ganzen ernst zu nehmen – mit Öl und Gebet, mit einer Handlung an Leib und Seele.

Viele Mediziner heute wissen selbst recht genau: Wenn der Patient nicht mehr will, wenn er nicht innerlich an seiner Gesundung arbeitet, das sind die Heilversuche nicht sehr erfolgreich, vielleicht sogar vergeblich. Auch die Seele muss an der Gesundung mitarbeiten. Darum gibt es Seelsorger im Krankenhaus, und darum sollen Schwestern und Ärzte mehr als Handgriffe und Diagnosen lernen; denn auch mit der Psychologie ist es nicht immer getan. Es bedarf der Zuwendung, die in der von Jakobus angeschriebenen Gemeinde mit Hilfe des Gebets erfolgt und im Öl anschaulich ist. Kranksein ist nicht Sache eines einzelnen Menschen, und Heilen ist nicht nur ein technischer Prozess, sondern gelingt nur im Miteinander.

Wir bekommen also einen beinahe modernen Ratschlag in einer alten, uns nicht ganz verständlichen Form, denn der Gebrauch des Öls leuchtet nicht mehr ein. Eines sollte jedoch für die Leser und Hörer heute feststehen: Die Kranken sollen nach Möglichkeit geheilt werden. Warum ist das wichtig? Die katholische Kirche nimmt diese Bibelstelle als einen Beleg für die letzte Ölung auf dem Sterbebett, auf dem Weg in den Tod. Wenn der Gesalbte dennoch überlebt, kann er eine weitere letzte Ölung erhalten; die Heilung war aber nicht im Blick. Das mag ein schöner Brauch sein, ein Sakrament (Sterbesakrament) ist die Ölung jedoch nicht; und den Sinn des Textes, den wir bedenken, trifft es auch nicht. Jakobus denkt an Heilung und nicht ans Sterben.

Was kann dann an Christen in unsere Zeit weitergegeben werden, wenn das Öl nicht mehr wichtig ist? Sie sollen ihr Leben miteinander führen und einander beistehen. Der medizinische Beistand ist längst in die Krankenhäuser und Arztpraxen ausgewandert, er obliegt zuerst den Fachleuten. Aber die Heilung bleibt weiterhin eine Aufgabe auch für Seele und Geist. Seelsorge soll den Patienten begleiten, aber nicht unbedingt alternative Medizin, die man im Öl vermuten könnte. Wenn auch Jakobus die Seelsorge zunächst den Ältesten zuweist, so dürfen wir doch wissen, dass sie schon im Miteinander beginnt; wir sollen Andere in ihrem Leiden begleiten.

Beten und Singen erfüllen deshalb eine besondere, ja zentrale Aufgabe: Christen sollen ihr Leben als Geschenk wertschätzen und dankbar als eine Aufgabe übernehmen, die sie lebenslang erfüllt. Deshalb sollen sie mit dem sprechen, der sie beschenkt, und ihm alle Not, aber auch die Freude entgegenbringen. Beten ist kein abergläubisches Sprechen in einen leeren dunklen Raum hinein, sondern Anrede an den, der unser Leben begründet, erhält und trägt ‑ und eines Tages auch von uns nimmt. Wir sind nämlich nie wie ein Robinson Crusoe in der Welt, allein auf einer einsamen Insel, sondern wir sind zum Antworten bestimmt, und Antworten braucht ein Gegenüber. Antworten vor Gott heißt auch verantworten, antworten vor den Mitmenschen heißt miteinander leben. Jakobus findet die rechte Antwort auf die geschenkte Freude im Gesang, und die erste Antwort auf erfahrenes Leid im Gebet. Selbstverständlich darf dem Leid mit allen guten Mitteln abgeholfen werden.

Wir verlieren etwas sehr Menschliches, wenn wir keine Antwort mehr wissen. Der Jakobusbrief zeigt mit seinem dringlichen Rat, wie schnell wir arm werden können, wenn wir keine Mittel zur Antwort mehr haben. Darum gilt es, Formen von Beten und Singen zu suchen, die zwar anders als vor 1900 Jahren sind, aber alle verbinden können.

Prof. Dr. Christofer Frey
Christofer.Frey@ruhr-uni-bochum.de

* Bemerkung
Es widerspricht der Überzeugung des Vf.s, dass semantische Formen soziale Rollen direkt widerspiegeln (selbst der dialektische Materialismus hat das so nicht angenommen). Darum bleibt er bei den grammatikalisch männlichen Formen, ohne sie in Gedanken Männern zuzuweisen.


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