Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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18. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2006
Predigt zu Johannes 15,1-11, verfaßt von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

„Weinbaum“, so heißt es ja in Wirklichkeit nicht. Es heißt „Weinstock“, schlicht und einfach. Auch im Griechischen.
Warum wir dann auf Dänisch trotzdem „Weinbaum“ sagen, ist schleierhaft. Es klingt vielleicht besser.

Aber vielleicht hat es auch damit zu tun, dass der Baum doch ein sehr gutes und oft gebrauchtes Bild ist, wenn man das Verhältnis zwischen Gott und Menschen veranschaulichen will.
Man denke nur an die alte nordische Mythologie mit der Esche Yggdrasil, dem größten Baum der Welt, der mitten in Asgard steht. Er ist so groß, dass sein Stamm vom Himmel bis auf die Erde reicht, und seine Zweige breiten sich über das Himmelsgewölbe. Die Esche hat drei Wurzeln, die jeweils bis an das Ende der Welt reichen.
Die eine Wurzel ist die Wohnung der Götter unter Asgard, die zweite unter Jotunheim – hier wohnen die Riesen und hier bewacht Mimer pflichtbewusst seinen Brunnen der Weisheit –, die dritte Wurzel reicht bis nach Niflheim, das neblige Reich des Todes. Die Wurzel in Asgard reicht ganz bis an den Himmel, und an dieser Wurzel versammeln sich die Asen, um ihr Thing zu halten.
So streckt der Baum des Lebens seine Wurzeln in drei Welten, und so wird er stehen, bis die Welt beim Ragnarök untergeht.
Aber die heilige Esche ist bedroht. Zuunterst an der einen Wurzel nagen die Schlange Nidhug und andere Würmer, und an die Zweige gehen Hirsche und fressen von den neuen jungen Blättern. Aber der Baum geht trotzdem nicht ein, denn an der Wurzel in Asgard sitzen die drei Nornen, die die Lebenszeit der Menschen bestimmen – sie spinnen den Faden – und sie gießen täglich weißen Schlamm auf die Wurzel der Esche. Das ist ihre Nahrung. Die Weltesche Yggdrasil war wie nichts anderes der Baum des Lebens, wie sie da stand mitten in der Welt der Götter und von der Erde bis an den Himmel ragte, ja, sie hielt buchstäblich alles an seinem Platz.
Und das war doch eine gute Geschichte, die man seinen Kindern erzählen kann; wusste man doch: wenn man ein ordentliches, solides Haus bauen wollte, dann musste da ein Grundstamm sein, ein Stützpfahl, die Axe des Hauses, die das Haus zusammenhält.
Und eines solchen Grundstammes bedurfte man auch im Leben, eines Lebensbaumes.

Etwa zur selben Zeit, als man hier im Norden von der Weltesche Yggdrasil erzählte, erzählten die Eltern in einer anderen Kultur, der jüdischen, ihren Kindern von einem anderen Baum, dem Baum des Lebens im Garten Eden. Und von noch einem Baum – dem Baum der Erkenntnis. Und nur von diesem einen Baum durften Adam und Eva nicht essen. Sie taten es aber doch. Und deshalb konnten sie nicht weiter vom Baum des Lebens essen und leben. Und damit wurde die mythologische Erzählung plötzlich zur Geschichte von jedem Menschen, weil wir uns nicht damit zufriedengeben wollen, kleine abhängige Zweige zu sein.
Aber von dem Baum getrennt, können wir keine Frucht bringen.

Das wissen wir übrigens sehr wohl, auf persönlicher Ebene jedenfalls. Wir wissen genau, dass wir nicht frei in der Luft schweben, und wir können überhaupt nicht leben und Frucht ansetzen, ohne dass wir aus einer Familie stammen, so wie wir ja selbst Kinder einer bestimmten Zeit und Familie, eines bestimmten Landes und einer bestimmten Kultur sind.
Ja, auf streng persönlicher Ebene wissen wir genau, dass wir wie Zweige des Baumes, des Stammbaumes sind.
Aber gehen wir über die streng persönliche Ebene hinaus, dann ist es, als klänge Jesu Wort, dass wir wie Zweige eines Baumes sind und dass wir ohne ihn nichts zu tun imstande sind, verkehrt.
Der moderne Mensch unserer Zeit hat ein weitaus mehr aufgefächertes und damit auch weitaus mehr isoliertes Dasein, als es die Generationen vor uns hatten. Und mir kommt es so vor, als wären Zusammenhang und Zusammenhalt heutzutage Mangelware.
Und oft gebrauchen wir alle Mittel, um die Gemeinschaft zu zerstören und aufzulösen – wir sind nämlich bei weitem nicht immer diejenigen, die die Gemeinschaft wollen.
Wir denken oft, dass die Gemeinschaft mit anderen zu anstrengend sei, oder wir dünken uns zu gut, um daran teilzunehmen; die Menschen sind doch verschieden!
So ist es, wir teilen auf und ziehen Grenzen, bis auf den heutigen Tag.

Und was Abhängigkeit betrifft, so erleben wir sie weitgehend als etwas Negatives.
Wir beweinen oft die psychologische Abhängigkeit, die wir unseren Eltern gegenüber empfinden, die Abhängigkeit von der Vergangenheit, von unserer sozialen Lage.
Und unser Ziel, das, wonach wir streben sollen, besteht doch auch deshalb in größt möglicher Unabhängigkeit.
Wir wollen frei wachsen, und nicht bloss einfache Zweige an einem Baum sein, den wir nicht selbst gewählt haben.
Die Früchte, die wir bringen sollen, sollen unsere eigenen Früchte sein, unsere eigene Verantwortung, unser eigenes Verdienst.

Es ist nur so, dass wir das aller Fundamentalste vergessen, nämlich dass ein Mensch weder im Stande ist noch die Pflicht hat, sein Leben oder seine Welt von vorne, von Grund auf selbst zu schaffen. Wir sind in eine Welt hineingeschaffen, und wir erhalten das Leben als Geschenk – wir nehmen es uns also nicht selbst. Und einerseits wissen wir es sehr wohl, während wir auf der anderen Seite mit aller Kraft versuchen, dieses Wissen beiseite zu schieben.

Die Jünger hatten kaum diese Probleme. Für sie war es unmittelbar verständlich, dass wir in und durch einen Zusammenhang und eine Abhängigkeit leben, die wir nicht abschütteln können, wie die Reben an den Weinstöcken, die die Jünger täglich sahen.
Für sie war es ein Evangelium, eine gute Botschaft.
Aber es war mehr als das.
Von Kindesbeinen an hatten sie gehört, dass Israel Gottes eigene Weinrebe war – ein Bild, das wir aus der Psalmen- und Prophetenliterataur des AT kennen. Im 80. Psalm heißt es, dass Gott einen Weinstock aus Ägypten geholt und ihn in dem neuen Land gepflanzt hat. Oder bei dem Propheten Hesekiel, der von den Fürsten Israels spricht, die der Grausamkeit verfielen, und wo der Weinstock ausgerissen und auf die Erde geworfen wurde, so dass er verdorrte.
Zweifellos haben sich die Jünger der ganzen Geschichte Gottes mit dem hochmütigen Volk und seinen widerspenstigen Führern erinnert; und eben deshalb lag auch die Verheißung einer neuen Zukunft in dem Wort vom wahren Weinstock.
Der Weinstock, der nicht ausgerissen werden wird, sondern der ewig Frucht bringen wird.

Sie hörten die Rede am Abend des Gründonnerstag, am Abend vor der Kreuzigung und dem Tod am Karfreitag. Alle waren von Chaos und Katastrophe bedroht.
Und desto stärker wirkt es, dass dasjenige Wort, das in der Rede immer wieder vorkommt, dies ist: Bleibt!
Denn „bleiben“ bedeutet ja sowohl verbleiben als auch werden.
„Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie der Vater mich liebt, so liebe ich euch – bleibt in meiner Liebe.“ Und weiter heißt es: „Dies ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.“

In Jesus bleiben heißt also, in der Liebe bleiben, indem man Frucht bringt in der Liebe zu seinem Nächsten.
Es beginnt nicht mit den Zweigen, denn die Zweige sind nichts ohne den Baum. Wir beginnen mit dem Baum.

Es ist ganz bezeichnend, dass dort, wo die drei anderen Evangelisten an diesem letzten Abend von der Stiftung des Abendmahls erzählen, dass da Johannes von der langen Abschiedsrede berichtet, die Jesus für seine Jünger hält, von der Rede, von der das heutige Evanglium nur ein kleiner Teil ist.
Aber gemeinsam ist den Evangelisten, dass sie jeder auf seine Art und Weise hervorheben wollen, dass wir der Teil der großen Gmeinschaft, der Gemeinschaft Gottes sind.
Sie wollen uns erzählen, dass wir von einem Zusammenhang getragen und aufrecht erhalten sind, der vor uns daist – von dem Zusammenhang der Liebe.

Was ist der Sinn des Lebens, fragen wir uns oft selbst und gegenseitig.
Und die Antwort, die so leicht zu geben ist, aber so schwer zu verstehen und zu befolgen ist, bekommen wir hier – die Liebe ist der Sinn. Das ist der Zusammenhang, in dem wir leben sollen.
Das Wort ist so schwer zu befolgen, ja, denn die meisten von uns verstehen es sehr wohl. Denn wenn wir vor dem Stammbaum und unserem Platz darin stehen und ihn sehen, dann wissen wir doch in unserem Innern, dass wir ohne die Liebe überhaupt nicht hier wären.

Aber durch die Taufe bekamen wir einen neuen Lebensbaum – da wurden wir „in ihn gepropft wie ein kleiner Zweig in den großen Stamm“.
Genauso schön, wie es ist, dass wir uns unsere Welt nicht selbst zu schaffen haben, sondern dass sie uns von vornherein gegeben ist, dass wir in sie hineingeboren werden, eine genauso große Verdammnis kann es manchmal scheinen, dass wir an das Schicksal, das uns vor unserer Geburt bestimmt war, gebunden und gefesselt sind.

Verlangen nach Sicherheit und Geborgenheit haben wir alle, und es kann sicher und gut sein, vor dem Stammbaum zu stehen und alle seine Ahnen vor einem zu sehen.
Und so ist es doch, alle Vorstellungen vom Baum des Lebens wurzeln in einem Verlangen, sich Sicherheit zu schaffen, Chaos fernzuhalten und sich stattdessen geborgen zu fühlen.
Genau wie die Vortellung von der Esche Yggdrasil, die ja die Welt zusammenhalten und aufrechterhalten soll bis an das Ende aller Zeiten.
Solange die Welt steht und die Nornen den Leben gebenden weißen Schlamm über die Wurzel gießen, haben Nidhug und die anderen Würmer keine Möglichkeit, seine Wurzeln zu zernagen.

Aber bleiben wir im Bilde von Jesus als dem wahren Weinstock, dem wirklichen Baum des Lebens, dann ist er der Gegensatz aller geborgenen Lebensbäume, denn er ist der Baum, der zugrunde ging, gefällt wurde, an dem Kreuz aus rohen Balken starb; aber eben deshalb wurde er zu dem „Lebensbaum, der aus der Wurzel des Kreuzes wuchs“, wie Grundtvig in einem unserer großen Advendslieder schreibt.
Und es geschieht ja auch erst am Kreuz, dass enthüllt wird, dass hier der wahre Lebensbaum ist, der aus dem Tod sprießen kann.
Auf alten Gemälden – oft inspiriert von der Rede des Evangelisten Johannes vom wahren Weinstock – kann man sehen, dass das Kreuz zu einem Weinstock wird mit neuen Blättern und Trauben.

Hier am Kreuz ist es vollbracht, und hier geschieht es auch, dass das Neue entsteht in dem Augenblick, da die Vertreter der Macht die Lanze in seine Seite stechen, um sicherzugehen, dass er wirklich tot ist.
Ohne es zu wissen, tun sie nämlich das Gegenteil, indem sie die Quellen der Gnade öffnen, nämlich des Wassers und des Blutes – für das, was sein fortgesetztes Leben unter uns sichern wird.

Christus als der Baum des Lebens ist daher ein wunderlicher Baum, über den ein jeder Gärtner nur den Kopf schütteln würde. Denn der Baum ist gefällt, aber mitten im Tod trägt er massenhaft Blätter und frische Triebe. Obwohl er gefällt ist, gibt er noch immer Leben. Und er hat alle möglichen verschiedenen Zweige, die seinem Stamm aufgepfropft sind – genauso viele, wie es Getaufte gibt.
Und alle wachsen Seite an Seite, und sie leben und gedeihen und wachsen an dem gefällten toten Stamm, der seine Nahrung, sein Leben von Gott selbst erhält.
Der Lebensbaum gewährt keine Garantie für ein langes und glückliches Leben, er will uns stattdessen lehren, dass der Sinn des Lebens darin besteht, es für andere hinzugeben, es auszugeben und weiterzugeben.
Und was mehr ist – in der Verbundenheit und Nähe, in der wir leben, wie Zweige an einem Baum, wird Gott selbst gegenwärtig sein: Wenn unser Leben miteinander sich nach dem Gebot Jesu, einander zu lieben, entfaltet, dann ist Gott verherrlicht und die Freude vollkommen.
Amen

Pastorin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
* Tel.: +45 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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