Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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18. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2006
Predigt zu Jakobus 2, 1-13, verfaßt von Michael Nitzke
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Jak 2, 1 Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. 2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, 3 und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz!, und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin!, oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!, 4 ist's recht, dass ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?
5 Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?
6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? 8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3.Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; 9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter.
10 Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig.
11 Denn der gesagt hat (2.Mose 20,13-14): »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes.
12 Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.
13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.

Liebe Gemeinde,

viele von uns, die in die Kirche zum Gottesdienst gehen, haben so etwas wie einen Stammplatz. Der eine steuert auf der rechten Seite die mittleren Reihen an, die andere möchte lieber hinten links sitzen. Meist ist der gewünschte Platz auch noch frei, denn nur am heiligen Abend und zur Konfirmation ist so richtiges Gedränge in unserer Kirche. Vorne in den ersten Reihen ist oft alles frei. Warum eigentlich? „Früher saßen hier die Konfirmanden,“ sagen alteingesessene Gemeindeglieder, „aber die dürfen ja heutzutage auch schon sitzen, wo sie wollen.“ „Ganz vorne bekomme ich einen steifen Hals, wenn ich dem Prediger in die Augen sehen will“, lautet die landläufige Begründung für einen Platz in den hinteren Reihen. Und nur unter der Hand, hört man eine ganz andere Begründung dafür, warum die hinteren Plätze so beliebt sind. „Da kann ich sehen, wer sonst noch so alles da ist, da kriege ich besser mit, wer mit wem kommt, ob er das Glaubensbekenntnis mit spricht oder nicht, ob er beim Abendmahl dieses mal hingeht, oder schon wieder sitzen bleibt.“

Wo sind eigentlich die besten Plätze in der Kirche? Vorne oder hinten? Im Theater oder im Kino ist das klar. Im Kino sitzt man lieber hinten, damit man den Film in seiner ganzen Breite sieht, im Theater dagegen sitzt man lieber vorne, damit man den Schauspielern in die Augen sehen kann, und auch besser versteht, was sie sagen. Beim Varieté sollte man lieber in der Mitte sitzen, dann sieht man noch gut, und ist vor der Gefahr geschützt, dass man vom Clown oder vom Zauberer ins Geschen einbezogen wird.

All die guten Plätze haben eines gemeinsam, es sind die teuren Plätze. Um die Karten muss man sich rechtzeitig bemühen, und man lässt sich den Spaß auch gerne etwas kosten, denn man gönnt sich ja sonst nichts.

Nun, wie ist das mit den guten Plätzen in der Kirche? „Freie Platzwahl“, würde auf der Eintrittskarte stehen, wenn wir denn welche ausgeben müssten, und: „Rechtzeitiges Erscheinen sichert die besten Plätze“. Nun diese Art von Platzvergabe ist nicht bei allen Theaterbesuchern beleibt. Man verliert viel Zeit, und muss sich dann noch mit Leuten in der Schlange herumschlagen, die sich nicht an die Spielregeln halten. Und dann steht man noch vor der Qual der Wahl, wo setze ich mich denn hin, und wo ist wirklich der beste Platz. Und wenn ich meine, ihn gefunden zu haben, hat sicher gerade schon einer die Lehne des Stuhls ergriffen und meint dadurch ältere Rechte auf diesen Platz zu haben. Lasse ich mich auf einen Streit ein, ist der ganze Abend verdorben, gebe ich nach, habe ich ein Erfolgserlebnis weniger. Also, da lobe ich mir doch eine ordentliche Regelung über den Eintrittspreis, jeder bekommt das, was er sich leisten kann, ist doch gerecht oder?

Für Theaterkarten mag das eine akzeptable Lösung sein, aber wie ist das mit den Plätzen in der Kirche? Mit der freien Platzwahl gab es schon zu Zeiten des Neuen Testamentes Probleme, wie wir aus dem Jakobusbrief erfahren. Damals wie heute gab es gute und weniger gute Plätze. Zu den letzteren gehörten natürlich die Stehplätze, die ja heute in der Kirche eher selten sind, und natürlich die Rasierplätze, „dort zu meinem Füßen“ wo man den Kopf so weit recken muss, dass der Nacken schmerzt. In der Gemeinde, an die Jakobus schreibt, müssen wohl doch weihnachtliche Verhältnisse geherrscht haben, denn die Plätze waren begehrt, so dass man in Versuchung kam, sie nach sozialem Status zu verteilen. Und da keine Eintrittskarten verkauft wurden, entschied der soziale Status, den man damals wie heute an der Kleidung erkennt. „Kleider machen Leute“, so war das schon immer, und wer gut gekleidet ist, dem öffnen sich in der Welt Tür und Tor, der bekommt oft den besten Platz angeboten. Vielleicht erhofft man sich dadurch etwas, eine größere Gabe im Klingelbeutel oder ein größere Anziehungskraft der Gemeinde.

Nun mag jemand einwenden, dass die Etikette in unseren Gemeinden doch nicht mehr so ausgeprägt ist. Legere Kleidung ist doch heutzutage üblich, und auch der Generaldirektor kann sonntags, wo er doch nicht über Wohl und Wehe des Unternehmens entscheiden muss, es etwas lockerer angehen. Aber was ist, wenn jemand ganz aus dem Rahmen fällt? Was ist, wenn man jemandem ansieht, dass die Kleidung aus der Altkleidersammlung kommt, und auch mal wieder eine Wäsche nötig hätte? Was ist, wenn die Leute, für die wir zwar gewohnt sind zu sammeln, wenn der Klingelbeutel herumgeht, uns plötzlich die besten Plätze wegnehmen? Man würde sicher die Nase rümpfen, und das nicht nur wegen der überfälligen Wäsche.

Wie reagiert die Gemeindeleitung? Schicken wir diese nicht erwarteten Gäste auf die schlechteren Plätze? Dann hätten alle das Elend vor Augen, und der sonntägliche Frieden wäre gestört. Oder käme gar jemand auf die Idee, so jemandem einen größeren Schein in die Hand zu drücken, mit der festen Erwartung, dass der sonderbare Gast heute auf den Gottesdienstbesuch verzichtet?

Wir stehen nicht oft unter dem Druck, hier eine Entscheidung treffen zu müssen, weil wir nicht oft in diese Situation geraten. Kirche ist eine Angelegenheit für den Mittelstand, sagt man heute. Generaldirektor und Stattstreicher stehen nicht oft in der Gefahr gerade hier aufeinander zu treffen. So braucht man noch nicht einmal unausgesprochene Regeln anzuwenden, um sich aus dem Weg zugehen, weil man eh Abstand zueinander hält.

Aber wie gehen wir denn in unserem sonstigen Leben als Christen und Glieder einer Gemeinde mit der Frage um, wie sich die verschiedenen sozialen Schichten begegnen?

„Kleider machen Leute“. Schon die Kinder in der Schule lernen schnell, dass sie mit bestimmten Etiketten auf der Kleidung schneller Freunde finden, als wenn die Mutter bei jedem Sonderangebot zugreift. Statusdenken wird hier früh geübt, doch was Kinder oft nicht lernen ist Rücksichtnahme und Gelassenheit, so wird der mit dem falschen Label auf der Jeans schnell ausgelacht und ausgegrenzt. Die Folge ist ein gesteigerter Konsumzwang, gerade bei den Leuten, die es nicht so dicke haben.

Wer das von Jugend auf lernen musste, bei dem setzt es sich fort in alle Bereiche des Lebens. Und auch in der Kirche kann man sich dann oft nicht von einem Handeln freisprechen, dass solchermaßen von dem Gedanken „Kleider machen Leute“ geprägt ist.

Doch Gott erwählt die Armen. So hören wir. Genau sagt Jakobus: „Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?“ (2,5)

Jakobus spielt hier mit den Begriffen reich und arm. Und er stellt die materiell Reichen den spirituell Reichen gegenüber. Das heißt nun nicht unbedingt, dass das unüberbrückbare Gegensätze sind. Einem materiell Reichen, muss es nicht automatisch an Glauben mangeln. Und einer, der nichts auf der Tasche, hat muss nicht allein deshalb ein Vorbild im Glauben sein.

Aber wichtig zu erkennen ist, dass das Materielle eben nicht auf das Spirituelle schließen lässt.

Und das ist ganz wichtig zu beachten, gerade in der heutigen Zeit. Mögen die Probleme des Jakobus auch nicht unbedingt unsere sein, in den Kirchenbänken ist in der Regel sicher genug Platz für alle Besucher, aber wir haben heute andere Probleme, die wir lösen müssen, und da müssen wir aufpassen, dass wir nicht die gleichen Fehler machen wie damals.

Auch wir sind in der Gefahr, die Reichen zu hofieren, und die Armen zu vergessen.

In unserer Kirche wurde noch nie so viel über Geld gesprochen, wie in dieser Zeit. Die kirchlichen Gelder schwinden, und das in einem Tempo, das wir vor ein paar Jahren noch nicht für möglich gehalten hätten. Dabei sind die viel gescholtenen Kirchenaustritte gar nicht mal das größte Problem. Immer weniger Leute sind in steuerpflichtigen Arbeitsverhältnissen, immer weniger Geld wird verdient, von dem man Steuern und somit auch Kirchensteuern zahlen könnte, immer weniger Nachwuchs wächst heran, der als Kirchenmitglied überhaupt in Frage käme. Immer größere Aufgaben hat sich die Kirche in den guten Zeiten aufgebürdet, von denen sie sich jetzt nur schwer trennen kann. Gebäude müssen aufgegeben werden, Personal wird bei den Gemeindeverbänden abgebaut. Alles kein Ruhmesblatt für eine Gemeinschaft, die einmal das Aushängeschild der sozialen Bewegung war. Und wenn Jakobus schreibt, dass die Reichen Gewalt gegen uns ausüben, dann müssen wir sehen, dass wir nun auch als eigentlich reiche Institutionen wahrgenommen werden, die den armen Mitarbeitern ihre Existenzgrundlage nehmen. Wir in der Kirche, die wir gestern noch vor Werkstoren für den Erhalt von Arbeitsplätzen demonstrierten, müssen uns heute selbst den Vorwurf gefallen lassen, als Jobvernichter dazustehen. So schnell ändern sich die Vorzeichen!

Wer in der Kirche heute etwas werden will, muss wissen, wie er an das Geld anderer Leute kommt. „Fundraising“ heißt das Zauberwort. Damit ist das Erschließen von Geldquellen gemeint. Wenn die Kirchensteuer nicht mehr so üppig fließt, dann müssen andere Quellen zum Sprudeln gebracht werden. Und so lernen wir heute, wie man Spendenbriefe abfasst, und in welchen Zeitabständen man sie welcher Zielgruppe schickt. Wir werden motiviert die Menschen dazu zu bringen sich mit Spenden einen Namen zu machen. Was Jesus einmal dazu gesagt hat, wird oft vergessen: Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun … 3 Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut (Mt6,2)

Und die Geschichte vom Scherflein der Witwe, die mit ihren zwei Pfennigen zwar alles gibt, was sie hat, wird nur noch selten erwähnt, denn ihre Gabe wird zu sehr mit einem anderen Sinnbild in Verbindung gebracht. Angesichts der desolaten Lage der Kirche erschiene ihre Gabe heute manchem wie der Tropfen auf dem heißen Stein.

Das zeigt aber, dass wir heute in der Gefahr stehen, dass wir einen ähnlichen Fehler begehen, wie die Gemeinde an die Jakobus schreibt. Wir schielen nur nach den Vermögenden, und hören nur auf klingenden Münze, oder besser den knisternden Schein. Wenn wir nur in diese Richtung gehen, können wir schnell vom Pfad der Tugend abweichen. Der Zweck heiligt nämlich nicht die Mittel, denn der Weg ist das Ziel. Auf dem Weg zum Ziel, ein gottgefälliges Leben zu führen, muss ich nämlich die Mittel anwenden, die zum Ziel passen.

Dem Jakobus wird ja immer vorgeworfen, dass er zu gesetzlich sei, und seine Gedanken eigentlich nicht in einen reformatorisch verstandenen Umgang mit dem Gesetz passen, denn Gott handle ja an uns danach ob wir von Herzen glauben, und nicht ob wir alle Gesetze minutiös erfüllen. Doch Jakobus will hier nicht eine falsche Gesetzlichkeit predigen. Für ihn sind alle Gesetze gleich viel wert. Ich kann mir nicht eines heraussuchen, und ein anderes ignorieren. Er schreibt: 10 Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig.

Wenn man früher eher das Soziale betonte aber in anderen moralischen Fragen eher liberal war, dann war das falsch. Genauso falsch ist es aber heute Moralität an den Tag zu legen, aber die soziale Verantwortung zu ignorieren. Das Gesetz Gottes gibt es nicht als Probierpackung, aus der ich mir das jeweils Schmackhafteste heraussuchen kann. Das Gesetz Gottes ist ein unteilbare Einheit.

Doch Jakobus haut hier Pflöcke ein, die man ihm als eingefleischter Protestant zunächst gar nicht zutraut. Er schreibt:

12 Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.
13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.

Das göttliche Gesetz ist für ihn ein Stück Freiheit. Und wenn ich von dieser Freiheit profitiere, dann ist es selbst verständlich, dass ich diese Freiheit auch anderen zukommen lasse. Das ist nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern auch eine Barmherzigkeit, also ein Stück Humanität, ein Stück Menschenliebe. Und diese Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Die Humanität, die ich anderen zukommen ließ, steht mir zu Seite, wenn über mein Verhalten Recht gesprochen wird. Die von mir getätigte Nächstenliebe ist mein Anwalt, wenn über meine anderen Taten zu Gericht gegangen wird.

Doch eine richtige Barmherzigkeit ist die, die um ihrer selbst willen getan wird, nicht nur damit ich Entlastungszeugen für meinen persönlichen Fall habe. Barmherzigkeit und Humanität, übe ich um meiner Mitmenschen willen, und da kann es keinen Unterschied geben, ob einer das richtige Etikett am Ärmel trägt, oder wie hoch sein Kontostand ist. Liebe kennt keine Grenzen, und Liebe darf vor allen Dingen keine sozialen Grenzen kennen.

Also, liebe Schwestern und „Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.“ (Jak 2,1) Amen.

Pfarrer Michael Nitzke, Ev. Kirchengemeinde Kirchhörde
Dahmsfeldstr. 44, 44229 Dortmund
Tel.: 0231 / 737157
www.kirchhoer.de
www.nitzke.de/pfarrer

 


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