Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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18. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2006
Predigt zu Jakobus 2, 1-9, verfaßt von Claudia Bruweleit
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Jakobus 2,1-9 (10-13)
Liebe Geschwister, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.
2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung,
3 und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!
4 ist's recht, dass ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken?
5 Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben?
6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen?
7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist?
8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht;
9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter.

Liebe Gemeinde,

Menschen ziehen Grenzen – der Glaube befreit zur Gemeinschaft!

Wie sehr unser Denken in Grenzen verläuft, zeigt ein Experiment, das auf die Reportage eines großen Wochenmagazins vor einigen Jahren zurückgreift:
Konfirmandinnen und Konfirmanden erhielten einen Fragebogen mit dem Bild einer Frau und sollten Vermutungen anstellen zu ihrer Herkunft, ihrem Beruf, ihren Hobbys, ihren Vorstrafen. Die Fragebögen waren in zwei Gruppen eingeteilt, Einer zeigte eine Frau im teuren Designer-Kostüm mit einem Glas Sekt, einer dieselbe Frau in Lumpen mit einer Bierflasche in der Hand. Was die Konfirmandinnen und Konfirmanden nicht wussten: beide Fotos zeigten dieselbe Person. Ein Wochenmagazin hatte Hamburger Wohnungslose gebeten, einmal in ihrem Straßen-Milieu der Kamera zu posieren, ein anderes Mal in edler Kleidung und teuren Büroräumen oder Hotels.
Der Vergleich der Antworten unter den Konfirmandinnen und Konfirmanden zeigte eine hohe Bereitschaft, die Frau in Lumpen mit Kriminalität und Alkoholproblemen in Verbindung zu bringen, bei der Person im Kostüm hingegen eine erfolgreiche Kariere, Bildung und Wohlstand anzunehmen. So unterschiedlich wurde dieselbe Person eingeschätzt.
Menschen ziehen Grenzen, immer wieder, schon bei der ersten Begegnung mit einem fremden Menschen. Sie lassen sich leiten von Äußerlichkeiten, denken in Klischees und übertragen eigene Wünsche und Ängste auf andere Personen. Das ist so, nicht nur unter Konfirmandinnen und Konfirmanden.

In den Gemeinden, an die sich Jakobus richtet, gab es offensichtlich Beispiele dafür, dass das Denken in sozialen Grenzen und Klischees zu Verletzungen und Diskriminierungen Einzelner im Gottesdienst führte.
Liebe Geschwister, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person.
Die Empörung des Jakobus geht tief, denn hier sind die Grundfesten seiner christlichen Überzeugung erschüttert. Eine Gemeinde besteht aus Menschen, die durch die Taufe und im Sprechen des Glaubensbekenntnisses sich zu Jesus Christus bekennen, der Mensch gewordenen Liebe Gottes für alle Menschen.
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus, schrieb der Apostel Paulus im Brief an die Galater und folgerte unbeirrbar: Hier ist nicht Jude nicht Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann, noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus.
Das war und ist die befreiende Botschaft des Evangeliums, dass Gott keine Unterschiede macht, sondern alle in ihrer Vielfalt liebt und annimmt. Diese Botschaft hat einst den Ruf der Gemeinden und ihre Ausstrahlung begründet.
Wer auf dem Boden dieser Verkündigung steht und Gleichheit aller behauptet und dann doch dafür sorgt, dass einige gleicher behandelt werden als andere, der verlässt den Raum der Freiheit, den der Glaube eröffnet hat. Jakobus aber setzt sich vehement für diese Freiheit ein.

Der Mensch zieht Grenzen – der Glaube aber befreit zu Gemeinschaft. Ausgrenzung, die Pflege von Klischees und Denkschubladen – bei den Christen soll es gerade nicht so sein.
Glauben können wir nur gemeinsam. Wer einmal bewusst die Gebetsstille oder das gemeinsame Bekenntnis im Gottesdienst wahrgenommen hat, der spürt: vor Gott stehe ich allein und doch mit anderen zusammen. Dass alle mit ihren Unterschieden vor ihm stehen, macht erst den Reichtum aus, mit dem wir hier auf Erden Kirche sind. Menschen, die seine Kraft für das Leben brauchen.
Die Würde des Einzelnen bemisst sich nicht an unseren Kriterien der Zugehörigkeit, sondern sie ist in Gottes Willen gründet, der seinen Weg mit jeder und jedem von uns geht und uns verheißt und zumutet, voneinander zu lernen, wenn wir vom Glauben reden. Denn den Glauben kann keiner allein gewinnen, er hört durch andere von ihm, gibt ihn im Gespräch und im gemeinsamen Gottesdienst weiter. Der Glaube befreit zum Hören. Zum mitfühlenden Wahrnehmen der Unterschiede.
Die Vielfalt der Gemeinden zur Zeit des Jakobus ist uns heute nicht mehr gegeben. Nach der jüngsten Mitgliedschaftsstudie der EKD gehören zu den treuen Kirchenmitgliedern überwiegend Personen der einkommensstarken und kulturell hoch stehenden Bevölkerungsschichten. Die Gemeinschaft, die wir zum Glauben brauchen, kommt jedoch nicht an den anderen vorbei. Nicht nur im Gottesdienst, auch im täglichen Leben fehlen die, die sich nicht über die Schwellen der Kirchengebäude trauen, fehlen die, die nicht mitbestimmen können oder wollen. Sie fehlen mit ihren Erfahrungen und ihren Gaben.

Es geht auch heute darum, die befreiende Erkenntnis des Glaubens, dass Gott jeden Menschen liebt, mit dem Herzen zu erfassen und mit der ganzen Person zu vertreten, im Gottesdienst zuerst und bis hinein in die Strukturen unserer Gesellschaft. Der Glaube befreit nicht nur von den Barrieren der Klischees und Vorurteile, er lenkt den Blick zu dem anderen hin und nimmt Außenstehende wahr als solche, die hinzugehören. Er leidet an ihren Grenzerfahrungen.
In unserer Gesellschaft sind dies zum Beispiel die Schwierigkeiten für Kinder aus sozial schwachen Familien, die eigenen Begabungen zu entwickeln und einzubringen in die Gemeinschaft. Sie entstehen nicht zuletzt dadurch, dass andere sie unhinterfragt auf ihre Herkunft und ihr Ansehen festlegen und sie ausgrenzen. Sie entstehen auch aus Mangel an gesunden Strukturen.
Die Kieler Nachrichten berichteten am vergangenen Samstag über eine Statistik der Stadtverwaltung, in der die Sozialstrukturen der Stadtteile herausgearbeitet werden. Der Stadtteil Gaarden auf dem Ostufer belegt dabei traurige Spitzenpositionen: Die meisten Arbeitslosen, die meisten Empfänger von Sozialleistungen, die dicksten Kinder wohnen dort. Wer dort lebt, hat weniger Chancen als andere, an Bildung, Arbeit und Wohlstand unseres Landes Anteil zu bekommen. Die Startbedingungen für Kinder, die hier aufwachsen, sind erschwert gegenüber denen anderer Stadtteile: wer bringt ihnen bei, dass ein Tag einen geregelten Ablauf braucht, wenn die Eltern ohne Arbeit und Einkommen sind? Dass es nicht egal ist, wann man aufsteht, was man tut und ob man gemeinsam isst und miteinander redet? Wie sollen sie lernen, sich zu den Schularbeiten zu konzentrieren, wenn zu Hause den ganzen Tag der Fernseher läuft? Wer zeigt ihnen den Wert eines vollwertigen Frühstücks oder des gemeinsamen Mittagessens, wenn jeder isst, wann er Hunger verspürt und zur Tankstelle oder zu Mac-Donalds fährt, wenn der Kühlschrank leer ist?
Wer fragt danach, was sie denken und können und fühlen? Sie fehlen der Gemeinschaft unserer Stadt, wenn sie nicht lernen können, sich auszudrücken, mitzumachen, Arbeit zu finden.

Der Mensch zieht Grenzen – der Glaube befreit zur Gemeinschaft und zu Solidarität. Das ist unsere Stärke als Christinnen und Christen in den Gemeinden damals wie heute. Dass wir bereit sind, uns sozial zu engagieren. Wir glauben an die Verheißung Gottes, dass alle in Frieden und Gerechtigkeit miteinander leben werden. Dass Schwache gestärkt und Traurige getröstet werden und die Armen das Evangelium hören. Glaube heißt, gegen Strukturen und Verhaltensmuster, die andere ausschließen, im Namen Jesu zu protestieren. Sie sind vorläufig und sie sind ein Skandal, weil sie Menschen ausschließen von dem, was sie nötig haben und der Gesellschaft ihre besonderen Begabungen und Erfahrungen vorenthalten.

„Du bist so schön anders“ schrieb eine Frau auf eine Tafel bei einer Begegnung von Kieler Muslimen und Christinnen und Christen, initiiert durch den Interreligiösen Arbeitskreis Kiel. Ein Lächeln der Muslima neben ihr begleitete ihr Tun.
Der Glaube befreit dazu, einander mit anderen Augen zu sehen. Nicht als Fremde, sondern als mögliche Freunde. Nicht als Konkurrenten im Kampf um Arbeitsplätze und Wohlstand, sondern als Verbündete, die sich freuen, wenn gemeinsam etwas Neues entsteht.
Das Fremde wahrnehmen als etwas Neues, das mir etwas zu sagen hat für mein Leben, an dem ich wachsen und reifen kann.
Es ist unsere Würde und unsere Freiheit, einander zu begegnen mit dem Wunsch, zu verstehen. Und uns einzusetzen für ein gutes Miteinander. Vor Gott müssen wir nichts darstellen, nichts vorweisen. Er freut sich über jede und jeden von uns, so wie wir sind. Diese Freude zu teilen und gemeinsam den Grenzen zu begegnen, mit denen die Möglichkeiten zum Miteinander eingeschränkt werden, das hilft auch uns zu mehr Weite.
Amen

Claudia Bruweleit
Pastorin an der Pauluskirche zu Kiel
bruweleit@heiligengeistgemeinde.de


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