Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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17. Sonntag nach Trinitatis, 8. Oktober 2006
Predigt zu Jesaja 49, 1-6, verfaßt von Klaus Schwarzwäller
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Der Text zwingt zu einer kleinen Vorbemerkung; denn er enthält eine Schwierigkeit: Der Gottesknecht wird hier als „Israel“ angesprochen. Zugleich aber wird er an „Jakob“ gesandt – und „Jakob“ meint „Israel“. Ich will jetzt unsere Zeit nicht damit vertun, daß ich auch nur einen Blick werfe in die Urflut der Erklärungen, Hypothesen, Auslegungen etc. Ich schließe mich den Forschern an, nach denen der Gottesknecht nicht nur zu Israel gesandt wird, sondern in Gottes Augen auch für Israel steht, sozusagen im Vorgriff auf das zum Gehorsam zurückfindende, auf das vollendete Israel.

Doch nun zum Text selbst. Er beginnt mit einem Aufruf an „die Inseln“. Damit sind die fernsten Länder gemeint. Also es ist ein Aufruf – so würden wir sagen – „An alle!“ Das Gesagte betrifft „alle“ und geht „alle“ an. Was? Nun ehe das ausgesprochen werden kann, fühlt sich der Rufer verpflichtet, sich vorzustellen und zu legitimieren, daß er das Recht hat, eine Botschaft „an alle“ zu verkünden. Ich kann mir’s nicht verkneifen, hier kurz zu verweilen: Wer sperrt in unserer Welt nicht alles den Schnabel auf und verlangt Gehör, ohne eine Legitimation vorzuweisen. Daß ich – ICH – hier auftrete und etwas absondere, ist das etwa nicht genug? Und so werden wir vollgedröhnt mit Worten und Phrasen und Gerede, daß es uns zu den Ohren wieder herauskommt. Ich brauche nur das Stichwort „Gesundheitsreform“ zu nennen... Man kann ja immerhin die Frage aufwerfen, wiewenig Prozent des öffentlichen Geschreis es wert ist, daß man’s überhaupt zur Kenntnis nehme. Doch ich will uns nicht aufhalten.

Die Vorstellung des Rufers hier ist ausführlich, ja geradezu umständlich. Er ist sich sicher: Gott hat ihn bereits vor seiner Geburt erwählt – eine Aussage, auf der wir kauen. Denn wer oder was steht für sie? Und uns fällt ein, wer alles in Geschichte und Gegenwart sich als von Gott Erwählten fühlte oder ausgab, und siehe: Das Blut floß in Strömen! Wir sind in dieser Hinsicht skeptisch, ja geradezu allergisch. Nur, das ist ja klar: Eine amtliche Bescheinigung mit Unterschrift und Siegel kann es hier natürlich nicht geben. Der Sprecher muß sich anders ausweisen. Wie?

Zunächst durch seine Sprache. Er phrast nicht daher, sondert nicht dumme Worte ab wie nahezu alle, die sich als Erwählte fühlen und anpreisen. Seine Sprache ist zudem durch und durch poetisch. Das merken wir selbst in der Übersetzung, etwa an den wundervollen Bildern: „Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht...“ – nur als Anmerkung: Welcher unserer Politiker könnte das sagen, ohne entweder Gelächter oder Verachtung auszulösen? „Mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt“, will sagen: von Gottes wegen war er bisher verborgen, ein Niemand, ein Namenloser. Auch der nächste Satz ein eindrucksvolles Bild: „Er hat mich zu einem spitzen Pfeil gemacht...“ – ach ja, Leute, die stumpfe Pfeile sind und daher häßliche Verletzungen verursachen, oder auch Giftpfeile, deren bloßes Auftreten lähmt, jedenfalls bei Menschen, mit denen man zu tun haben möchte; derartige Menschen kennen wir im öffentlichen Leben zur Genüge, so daß es schwer fällt, hier keine Namen zu nennen. „...und mich in seinem Köcher verwahrt.“ Von Gottes wegen blieb er nicht nur bisher verborgen, sondern wurde er ebendadurch scharf gehalten. Begreifen wir? Wer etwas zu sagen hat, wirklich zu sagen, der redet nicht einfach darauflos. Wer das tut, hat entweder nichts zu sagen, oder aber er macht das, was er zu sagen hat, durch sein unbedachtes Gequassel zu Wortschrott.

Ich trete einen Schritt zurück: Wer das alles von sich sagt, sagen kann, der verdient alle Aufmerksamkeit. Denn er hebt sich deutlich von allen ab, die da meinen etwas zu sagen zu haben – ob zu Recht oder Unrecht stehe dahin. Wer in dieser Weise gleichsam aus dem Nichts hervortritt, sagt durch seine Sprache wie auch durch den Inhalt viel über sich selbst. Er sagt so viel über sich selbst, daß man beim Nachdenken und Vergleichen um den Schluß nicht herumkommt: Leute wie der Sprecher sind selten, sind sehr selten. Es dürfte lohnen, ihm zuzuhören.

Und Gott sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.“ Hier also die eingangs erwähnte Schwierigkeit – doch Sie werden’s ja auch jetzt beim Hören sofort entdeckt haben. Erkennbar kommt der Sprecher jetzt zur Sache. Er stellt sich zwar immer noch vor – nein, mit einem einfachen „Schulze“ oder meinethalben auch „Dr.“ oder „Professor“ oder „Minister Schulze“; auf diese Weise ist es nicht getan, jedenfalls da nicht, wo einer im Namen Gottes auftritt, der etwas zu sagen hat, das „an alle“ gerichtet ist. Doch seine Selbstvorstellung nimmt nun sozusagen eine Kurve, nämlich von sich weg: Es geht nicht um mich. Es geht um Gott, um Gott und seine Ehre. Ach ja, Gottes Ehre – sie stößt uns eklig auf: Wieviele Mörder und Massenmörder, die sich selbst und andere in den Tod bombten, haben nicht zuvor gerufen „Allahu akbar“, „Gott ist groß“! Dieses unterschiedslose Dahinmorden von Menschen zur Ehre Gottes... Den Satz muß ich nicht zuende führen. Doch denkt man darüber nach, dann stellt sich die Frage: Worin liegt, worin besteht Gottes Ehre? Gottes Ehre – worum geht es da? Hören wir zunächst weiter hin:

Ich aber dachte, ich arbeite vergeblich und verzehre meine Kraft umsonst und unnütz...“ Der Sprecher ist deutlich kein landeskirchlicher Schlaumeier, der sich von der Roland Berger Unternehmensberatung die Flausen austreiben ließen, wir dürften’s uns leisten, unsere Kräfte umsonst und unnütz zu verschleißen! Er ist wie heute die vielen Pastoren und kirchlichen Mitarbeiter, die ihre Kräfte verschwenden und keine Resonanz ernten, „...wiewohl mein Recht beim Herrn und mein Lohn bei meinem Gott ist.“ Wenn wir einst, nach dem Ende der Welt, erfahren, warum Gott so viel Leid und Leiden zugelassen hat, dann bin ich vor allem gespannt darauf, endlich zu erfahren, warum, warum Gott die Seinen immer und immer und immer wieder hat ins Leere laufen lassen, so daß sie seufzten: „Ich aber dachte, ich arbeite vergeblich und verzehre meine Kraft umsonst und unnütz...“ Und da war niemand, niemand, der es sah, der es merkte –

Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib zu seinem Knecht bereitet hat...“ Es war eine lange Selbstvorstellung. Sie war anders, als wir sie gewohnt sind: Denn bitte, wer geht schon damit hausieren, daß er umsonst geackert hat und unnütz sich ins Zeug legte? Wer kann es sich überhaupt leisten, ohne Zwang zu erklären: Ich habe bisher nichts erreicht? Über den geht man hinweg. Und daß man über ihn hinwegsehe, das leitet nun der uns unbekannte Gottesknecht selber ein: Er verweist von sich selber weg, vielmehr hin auf Gott. Dabei ist das wichtigste Wort ein kleines, das man leicht überhört, nämlich „nun“: „Nun spricht der Herr...“ Was vorher war, wird damit beiseitegeschoben; was sein kann, könnte, ist darüber ohne Interesse: „Nun“! Nun spricht Gott – und jeder weiß aus der Lebenserfahrung heraus: Ein solches Nun, ein Nun von Menschen bereits, kann man verpassen, und das ist, wie wenn man Zug oder Flugzeug verpaßt hat. Wenn etwas dran ist, dann muß man sich darauf einstellen, oder es geht vorüber, und dann ist’s vorbei. Das „Nun“ Gottes zumal, es eröffnet etwas Neues, eine neue Situation und damit wohl auch neue Möglichkeiten. Wenn wir’s verpassen, dann kriegen wir’s nicht mehr eingeholt.

Wenn es aber sich so verhält, dann muß es einem doch auch gesagt werden. Richtig, und das geschieht hier: „Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat...“ Jetzt verbinden sich feierliche, ausführliche Selbstvorstellung und Gott, der durch diesen seinen Knecht wirken will. Denn er hat ihn zu seinem Knecht bereitet, „...daß ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde...“ Nein, das ist nicht irgendwer oder irgendeiner, dem es aufgetragen, dem es auferlegt ist, das in die Verbannung geführte Volk zu erlösen. Kommt er auch wie aus dem Nichts, so ist er doch in Wahrheit mitnichten ein Nichts, sondern schon vor seiner Geburt hierzu von Gott ausersehen. Nun, „nun“, da hat er seinen Einsatz. Ein ebenso wunderbarer wie schwieriger Einsatz, beides; die Vorgeschichte beweist es. Doch jetzt gilt „nun“: Nun spricht Gott. Damit ist die Zeit seines Knechtes gekommen und mit ihr für das Volk eine neue Zeit eingeläutet. Nun ist die Zeit der Wende, die Zeit des Sammelns, die Zeit des Verbindens.

Indem der Gottesknecht sie nicht nur ansagt, sondern auch bereiten und vollziehen soll, – ach ja, welcher Mensch hätte dazu Macht und Vermögen, wer die schier übermenschliche Kraft, das auf den Weg zu bringen? So vergewissert sich der Knecht nun, da er das Entscheidende ausspricht, noch einmal: „Darum bin ich vor dem Herrn wert geachtet, und mein Gott ist meine Stärke.“ Damit wird deutlich: Er soll’s vollbringen; dazu ist er bereitet und von Gott ausgerüstet. Doch indem er das realisiert, kann er nicht anders, als auf Gott zu verweisen. Gerade als der, dem Ungeheures aufgetragen ist, muß er einfach, indem er es verkündigt, auf Gott verweisen. Denken Sie etwa an unsere Politiker: Anders als diese lobt Gottesknecht gerade nicht sich selbst selbst, fügt er nicht an, was alles er Großes vollbringen wird. Sondern wo die öffentlichen Schreihälse sich selber Beifall klatschen und die von ihnen herrlich gebaute Zukunft im voraus preisen – und daraufhin durch die Talkshows tingeln – , da weist dieser Gottesknecht von sich weg hin auf Gott. Doch da ist kein blutiges „Allahu akbar“, sondern da geht es um die Absichten und Pläne dieses Gottes:

Er spricht: Es ist zu wenig, daß Du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen...“ Wer das sagt, sagen kann, der plappert entweder, oder er ist größenwahnsinnig, oder aber er ist tatsächlich der, der zu sein er behauptet. Wer soll das entscheiden? Hier lugt etwas vom Geheimnis der Bibel hervor: Objektiv (was immer das Wort meint) beweisen oder unwiderleglich dartun läßt sich das nicht. Am Schreibtisch bleibt es offen und zweifelhaft. Uns wird zugemutet, daß wir uns darauf einlassen – ja, auf die Gefahr hin, auf Geplapper oder auf einen größenwahnsinnigen Scharlatan hereinzufallen. Doch wenn wir unsere fünf Sinne beisammen haben, dann ist uns deutlich: Nach allem bisher Gesagten ist es höchst unwahrscheinlich, daß ein bloßer Schwadroneur oder Aufschneider so redet. Der hier auftritt, der – nein, ich will hier keinen Beweis versuchen. Statt dessen lade ich Sie ein. Ich lade Sie dazu ein, sich in den Urkunden der Religionen und Völker umzusehen und das, was hier der Gottesknecht sagt, mit anderem zu vergleichen: Wo ist in Sprache, Zungenschlag und Inhalt und in der Verbindung von alledem auch nur Vergleichbares zu finden? Und dazu: Wo erklingt bei alledem etwas, was zugleich unsere Herzen berührt und uns über uns selbst hinausführt?

Es ist, so hörten wir, Gott zu wenig, daß er seinem Knecht die Riesenaufgabe stellt, die Zerstreuten wiederzubringen und Israel aufzurichten, d.h. es wieder als Volk lebensfähig zu machen. „...sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.“ Hier freilich verschwimmen die Sätze ins Unausmeßliche, ins Unabsehbare. Wer könnte das von sich sagen, selber von sich sagen? Und natürlich drängt sich die Frage auf: Wer war der Mann, der so etwas auszusprechen wagte, der entweder die Chuzpe oder die Vollmacht hatte, das von sich zu sagen?

Hier sind wir an der Grenze des Alten Testaments angelangt. Hier ist unversehens ein Bericht von – scheinbar – einem lebenden Menschen umgeschlagen in Prophetie, in das Voraussagen von etwas Zukünftigen, von Zukünftigen, das sozusagen aus dem Alten Testament herausragt und eine neue, andere Dimension eröffnet. Wer aber könnte damit gemeint sein?

Die ersten Christen, die aus dem Alten Testament lebten als ihrer Bibel, haben das Neue, das mit Christus erschien, wieder und immer wieder im Licht des Alten Testaments wahrgenommen und umgekehrt das Alte Testament im Lichte des Neuen gelesen; beides. Für sie war es je länger desto eindeutiger: Ja, es ist Jesus Christus, auf den das paßt, für den das gilt, der tatsächlich das erfüllt, was hier gesagt ist. Und je mehr sie sich auf diesen zunächst für sie selber abenteuerlichen Gedanken einließen, desto klarer und eindeutiger war er für sie.

Und jetzt hätte ich Lust, Sie noch einmal einzuladen, diesmal dazu, die vier Evangelien nacheinander zu lesen und daraufhin erneut die sechs Verse unseres Textes; einfach nur zu lesen. Eines jedenfalls würde darüber deutlich: Ungeheuer und unausmeßlich sind die Dimensionen von Gottes Handeln. Ungeheuer und unausmeßlich die, die das Alte Testament aufreißt. Und ungeheuer und unausmeßlich zumal, die dieser merkwürdige Mann aus Nazareth verkörpert, der am Kreuz starb und dessen Name gleichwohl, nein deswegen über alle Namen geht: Jesus Christus.

Und was ist nach alledem Gottes Ehre, um die es hier geht? Statt es in Begriffen zu sagen, weise ich dahin, wo es anschaulich, wo es sichtbar ist: auf den Gekreuzigten und Auferstandenen. Wer ihm nachfolgt, wer seine Worte bewahrt und seine Taten aufnimmt, der ehrt Gott.

Amen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
hweissenfeldt@foni.net

 


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