Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Erntedankfest, 1. Oktober 2006
Predigt zu 1. Timotheus 4, 4-5, verfaßt von Tobias Geiger
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Eine Schulklasse aus der Stadt besuchte einen Bauernhof. Die Kinder waren sehr beeindruckt, was es da alles zu entdecken gab. Am meisten interessierte sie der Stall mit den Milchkühen. Der Landwirt erklärte, wie die Kühe mit der Melkmaschine gemolken werden. Die Kinder staunten. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Schließlich verzog ein Junge angewidert das Gesicht. Er sagte: »Bin ich aber froh, dass meine Mutter die Milch im Supermarkt kauft!«

Liebe Gemeinde,
könnte es sein, dass dieser Junge typisch ist für die Einstellung unserer Gesellschaft? Die Nahrungsmittel, die wir zum Leben brauchen, stehen in Hülle und Fülle in den Geschäften. Woher die H-Milch kommt und wie die Kartoffel auf EU-Norm gebracht wird – das interessiert uns nicht und das wollen wir auch gar nicht wissen. Der Aufschrei ist groß, wenn in unschöner Regelmäßigkeit ein Skandal aufgedeckt wird. Vor vier Wochen noch überschlugen sich die Medien mit Nachrichten über Gammelfleisch in den Kühlhäusern der Fleischindustrie. Aber inzwischen sind die Sonntagsreden der Politiker verklungen und es herrscht wieder buisness as usual. Der Kunde ist König und will möglichst billig einkaufen. Wir Verbraucher haben uns daran gewöhnt, dass unsere Bedürfnisse mit immer neuen Sonderangeboten befriedigt werden. Die Mehrheit in Deutschland macht sich über das tägliche Brot keine Gedanken. Lebensmittel sind eine Ware wie jede andere auch, der Überfluss ist zur Gewohnheit geworden.

Wenn wir heute Erntedankfest feiern, dann ist das ein Stück Widerspruch gegen den Zeitgeist. Wir wollen nicht alles für selbstverständlich nehmen, sondern wir wollen fragen, wem wir unser Leben verdanken. Die Fürchte und Blumen, mit denen die Kirche geschmückt ist, wollen uns erinnern: Erinnern an Mühe und Arbeit, die nötig sind, damit geerntet werden kann. Erinnern aber auch an Gott, der auf unser menschliches Werk seinen Segen legt. Dazu hören wir den Predigttext aus dem 1. Timotheusbrief.

Paulus schreibt an seinen Mitarbeiter Timotheus:
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird durch das Wort Gottes und das Gebet geheiligt.

Ich möchte zwei Gedanken aus dem Text herausgreifen:
Was Gott geschaffen hat, ist gut
Danken hilft gegen Gedankenlosigkeit

Die erste Überschrift: Was Gott geschaffen hat, ist gut
Können wir das heute noch so einfach sagen? Müssen wir hinter diesen Satz nicht ein dickes Fragezeichen setzen? Was Gott geschaffen, das war vielleicht einmal gut. Doch was haben wir Menschen daraus gemacht? Das Lob der Schöpfung ist für viele zu einem Klagelied geworden. Die Zerstörung der Umwelt macht uns Angst. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, kann die Alarmzeichen nicht übersehen. Hören wir einmal hinein, wie ein bekanntes Gesangbuchlied zum Protestsong umgestaltet wird:

Geh aus mein Herz und suche Freud,
denn du hast nicht mehr lange Zeit,
dich an Natur zu laben.
Schau an der schönen Gärten Zier,
solange Blume, Baum und Tier
noch Raum zum Leben haben.

Die Bäume stehen voller Laub,
doch die Chemie senkt ihren Staub
herab auf Wald und Weide.
Narzissen und die Tulipan,
die weichen heut der Autobahn,
im Abgas wächst Getreide.

Wir können jetzt in dieses Klagelied einstimmen. Wir können uns darüber beschweren, dass wir kleinen Leute den Müll trennen müssen, während die großen Firmen mit ihren Schornsteinen die Luft verpesten. Wir können diskutieren, warum Bequemlichkeit und Geld für viele wichtiger sind als Umweltschutz. Doch der Predigttext macht einen anderen Vorschlag. Er sagt: Besinnt euch zurück auf den Anfang. Erinnert euch an die Grundlage des Lebens. Die Welt ist nicht durch Zufall entstanden, sondern sie ist eine gute Schöpfung Gottes. »Gut« meint etwas anderes als »für uns Menschen angenehm«. Es gibt in der Schöpfung manches, das wir nicht verstehen. Was auf den Feldern wächst, ist von Schädlingen und Unwettern bedroht. Naturkatastrophen verbreiten immer wieder Angst und Schrecken. Menschen leiden unter Krankheiten und müssen oft viel zu früh sterben. Die gute Schöpfung ist mehr als das, was ich sehe und begreife. Die Schöpfung ist gut von dem her, wie Gott sie begonnen hat und wie er sie einst vollenden wird. Doch schon heute können wir die Güte des Schöpfers in seiner Schöpfung erkennen. Jahr für Jahr erleben wir ein großes Wunder mit. Denken Sie nur an den Weg vom Korn zum Brot. Wir Menschen können säen, wir können ernten, wir können Mehl mahlen und die Backwaren in den Ofen schieben. Aber das, was dazwischen liegt, das, worauf es eigentlich ankommt, dafür können wir nichts tun: das Keimen der Saat, den Frühjahrsregen und die Sommersonne, das Wachsen vom kleinen Spross zum langen Halm, die Fülle der Körner in der reifen Ähre. Das ist das Geheimnis der Schöpfung. Gott hat der Natur eine Ordnung gegeben, von der wir leben. Die Frucht der Felder, das Obst an den Bäumen, das Gemüse in den Gärten – durch die Schöpfung sorgt Gott für uns. Für alle Zeiten gilt sein Versprechen: »Es soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht« (1. Mose 8, 22). In einem Gesangbuchvers heißt es: »Was unser Gott geschaffen hat, / das will er auch erhalten, / darüber will er früh und spat / mit seiner Güte walten«.

Und dieser Zusammenhang der Schöpfung lässt sich noch weiter fassen. Die Fähigkeiten und Begabungen, die wir in unseren Berufen brauchen, das Aufeinanderbezogensein von Mann und Frau in Ehe und Familie, Liebe und Treue und Freundschaft zwischen Menschen, die Freude an Sport und Bewegung – all´ das gehört mit hinein in Gottes gute Schöpfung. Das ist die Grundlage, auf die er unser Leben stellt. So wie in der Natur die Saat zur Ernte heranwächst, so können auch in unserem Leben Früchte reifen. Das alles meint der Predigttext, wenn er sagt: Was Gott geschaffen hat, ist gut. Und damit kommen wir zur zweiten Überschrift:

Danken hilft gegen Gedankenlosigkeit
Paulus schreibt an Timotheus: »Nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.« Wie ist dieser Satz zu verstehen? Zur Zeit des Neuen Testaments gab es Christen, die anderen vorschreiben wollten, was sie essen dürfen und was nicht. Dabei ging es hauptsächlich um Götzenopferfleisch, das auf dem Markt verkauft wurde. Darf ein Christ etwas essen, das im Götzentempel geschlachtet wurde? Paulus gibt eine überraschende Antwort. Er will keine neuen Vorschriften aufstellen. Sondern er sagt: Bleibt in der Schöpfungsordnung Gottes. Diese Ordnung wird dadurch eingehalten, dass der Mensch Gott für das Empfangene dankt. So gibt das Geschöpf dem Schöpfer die Ehre. Wo wir das von Herzen tun können, dürfen Gottes Gaben ohne schlechtes Gewissen genießen. »Nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.«

Gerade in unserer Zeit wird die Antwort des Paulus aktuell. Manche fragen: »Wie kann ich fröhlich danken, wenn ich an den Hunger und das Elend in der Welt denke? Und wie soll ich Erntedank feiern, wenn ich weiß, dass die Landwirtschaftspolitik und der Preisdruck immer mehr Bauernfamilien um ihre Existenz bringt?« Doch gerade der Dank an Gott hilft uns, zweierlei auseinander zu halten: das, was Gott gut geschaffen hat – und das, was wir Menschen schlecht gemacht haben. Wer dankt, wird nicht gedankenlos und gleichgültig bleiben. Wo ich Gott für die Fürsorge in meinem Leben danke, kann ich die Sorgen der anderen nicht einfach beiseite schieben. Deshalb ist es eine gute Sitte, dass die Erntegaben, mit denen unsere Kirche geschmückt ist, an bedürftige Menschen weitergeben werden. Und bei unserem Dank für das tägliche Brot wollen wir auch nicht vergessen, dass diejenigen, die das Getreide anbauen, damit kaum mehr den eigenen Lebensunterhalt verdienen. Wo können wir einen Beitrag leisten, damit die Landwirtschaft in unserem Land eine Perspektive bekommt? Danken hilft gegen Gedankenlosigkeit.

»Nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird«. Ich möchte diesen Satz des Paulus heute morgen verändern: »Es ist verwerflich, immer nur alles ohne Danksagung hinzunehmen.« Macht der Überfluss das Danken überflüssig? Hat die Dankbarkeit einen Platz in unserem Leben? Oder leben wir wie die Familie des kleinen Fritzle? Da war ein Schulkamerad zu Besuch und fragte: »Betet ihr denn nicht vor dem Essen?« Fritzle antwortete: »Wir müssen nicht beten. Meine Mutter kann kochen.« Hier wird eine weit verbreitete Dank- und Gedankenlosigkeit ausgesprochen. Zählt die gute Zubereitung mehr als der Geber der guten Gabe? Wo nicht mehr gedankt wird, tritt die eigene Tüchtigkeit an die Stelle des Schöpfers. Die Entfernung von Gott nimmt zu, er wird ein Fremder in unserem Leben. Wir verlieren unseren Platz im Gefüge der Schöpfung. Aus dankbaren Empfängern werden gedankenlose Macher, die Gaben der Schöpfung sind nur noch austauschbare Ware, Pflanzen, Tiere, der Ackerboden und die eigene Arbeitskraft werden zu Produktionsfaktoren ohne Wert und Würde. Wir laden uns damit mehr auf die Schultern, als wir tragen können. Ist unser Alltag deshalb manchmal so hektisch und gedankenlos, weil wir das Danken vergessen und verlernt haben? Wer dankt, wechselt den Blickwinkel. Er sieht die Welt mit den Augen Gottes. Er erkennt, dass wir nicht nur auf die eigene Leistung angewiesen sind. Er staunt über die guten Gaben der Schöpfung, mit denen der Schöpfer uns beschenkt. Er entdeckt, wie viel Gott in mein Leben hineingelegt hat. Das macht den Alltag sinnvoll und wertvoll.

Wer dankt, wechselt den Blickwinkel. Könnte das auch für den 16. Jahrestag der Deutschen Einheit gelten, den wir übermorgen feiern? Wie denken wir im Rückblick darüber? Ein glücklicher Zufall der Geschichte? Oder Grund zur Dankbarkeit gegenüber Gott?

Vor ein paar Jahren wurde in Berlin die Bundesgeschäftsstelle einer großen deutschen Partei eingeweiht. Die feierliche Schlüsselübergabe sollte mit dem Singen des Chorals »Nun danket alle Gott« beendet werden. Vorsorglich hatten die Veranstalter den Text kopiert und unter den Gästen verteilt. Doch das gemeinsame Singen scheiterte trotzdem. Der großen Mehrheit der Eingeladenen war nicht nur der Text, sondern auch die Melodie unbekannt. Sind diese Berliner Politiker und Journalisten typisch für unser Volk? Kann man den Dank an Gott vergessen wie ein altes Lied?

Wer dankt, wechselt den Blickwinkel. Da hat eine Erzieherin in einem Stuttgarter Kindergarten mit den Drei- und Vierjährigen über das Beten gesprochen. Und ein Mädchen sagte: »Das finde ich gut. Wenn mein Papa mir abends Gute Nacht sagt, dann werde ich ihn bitten, mit mir zu beten«. Und ein paar Wochen später kam dieser Vater zu der Erzieherin und erzählte: »Durch das Beten mit meiner Tochter hat sich mein Leben verändert. Jetzt überlege ich den ganzen Tag, wofür ich abends danken kann. Das gibt mir einen ganz anderen Blick auf die Menschen um mich herum.«

Das Erntedankfest will auch uns helfen, Dankbarkeit einzuüben. Die Freude über das Wachstum und die Frucht in der Schöpfung soll uns den Blick für den Schöpfer öffnen. »Was Gott geschaffen hat, ist gut.« Wer aus diesem Vertrauen lebt, der wird Gottes Segen im eigenen Leben entdecken und selbst zum Segen für andere werden.

Tobias Geiger, Pfarrer in Öschelbronn
Email: pfarramt.oeschelbronn@elk-wue.de


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