Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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13. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2006
Predigt zu 1. Mose 4, 1-16, verfasst von Christiane Borchers
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde !

Eine entsetzliche Geschichte, die uns die Bibel hier überliefert: Der Bruder erschlägt den Bruder. Kain lädt Blutschuld auf sich. Kains Tat ist eine Reaktion auf Gottes Verhalten selbst. Gott sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Kain fühlt sich ungerecht behandelt. Gott scheint seinen Bruder lieber zu haben als ihn. Das kränkt und verletzt ihn. Er ist wütend und wird böse. Die Wut, die eigentlich Gott treffen müsste, lässt er an Abel aus. Womit hat Abel das verdient? Welche Schuld hat er auf sich geladen? - Abel hat nichts Böses getan. Kain hat seine Agressionen an einen ausgelassen, der für den Grund seines Zorns nicht verantwortlich ist. Weil er gegen den Starken, Gott, nicht ankommt, muss der Schwächere herhalten. Das ist ungerecht. Ebenso ungerecht ist, dass Kains Opfer von Gott nicht angesehen wird.

Wer Ungerechtigkeiten ausgesetzt ist, will wenigstens verstehen, warum das so ist, sucht nach Erklärungen, möchte einen Sinn entdecken, findet aber keine befriedigenden Antworten. Wie man es auch drehen uns wenden mag, es gibt Dinge, die sind und bleiben ungerecht.

Warum sind manche Menschen benachteiligt gegenüber andern? Warum müssen die einen mit Behinderungen leben, während andere körperliche Höchstleistungen bringen? Warum bleiben die einen trotz Einsatz und Mühe erfolglos und den andern fällt das Glück in den Schoß? Warum trifft den einen eine schwere Krankheit und andere sind kerngesund? Warum? Wenn man direkt betroffen ist, zermartert man sich den Kopf. Manche Erklärungsversuche geben vielleicht einen gewissen Sinn, erschöpfende Antworten hingegen gibt es nicht. Die Bibel selbst gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Es werden keine Versuche unternommen, um das Unerklärliche zu erklären.

In unserem Predigttext geschieht die Ungerechtigkeit sogar, als zwei Brüder Gott ein Opfer bringen. Kain opfert von den Früchten des Feldes, Abel von seiner Herde ein Tier. Beide tun dasselbe. Trotzdem sieht Gott gnädig auf das eine Opfer und auf das andere nicht? Warum verhält Gott sich so? Warum macht er Unterschiede? Gefällt ihm das eine Opfer besser als das andere? Oder mag er Abel lieber als Kain? Ist Abel demütiger, gläubiger, frommer als sein Bruder? In der Bibel wird nichts dergleichen erwähnt. Warum also die Bevorzugung Abels?

Was auf den ersten Blick wie eine Bevorzugung aussieht, muss nicht unbedingt eine sein. Vielleicht hat sie sich nur im Kopf von Kain abgespielt. Geschwister haben leicht das Gefühl, übergangen worden zu sein. Neidisch blicken sie auf die Zuwendung der Eltern, kämpfen um Anerkennung, glauben, die Mutter, der Vater hat den anderen lieber als sie selbst.

Könnte es sein, dass Gott in dem Augenblick, indem Kain von seinem Opfer aufsieht und zum Himmel schaut, gerade auf Abels Opfer blickt? Könnte es sein, dass Gott auch auf Kains Opfer gesehen hat, nur Kain hat es nicht bemerkt, weil er gerade selbst mit seinem Opfer beschäftigt war?

Kain deutet den Blick Gottes auf Abels Opfer so, dass er ausschließlich auf seinen Bruder und dessen Opfer sieht, ihn hingegen und sein Opfer sieht Gott nicht. Kain zieht den Schluss daraus: Gott wendet sich ausschließlich Abel zu und hat diesen viel lieber als ihn. Das weckt Neid, macht ihn zornig.

Sein Gesicht verfinstert sich. Der innere Zorn wird sichtbar in seiner äußeren Körperhaltung: seine Gesichtszüge fallen herab, sein Blick senkt sich und wird finster. Gott nimmt die Veränderung Kains wahr, spricht ihn an: „Warum ergrimmst du und warum senkst du deinen Blick? Wenn du fromm bist, kannst du frei deinen Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür und nach dir hat sie Verlangen, du aber herrsche über sie.“ Gott spricht mit ihm, nicht mit Abel, aber Kain ist schon zu verhärtet, als dass er Gottes Stimme hören könnte. Gott wendet sich Kain zu, warnt ihn, sich zu versündigen. Er soll sich nicht von der Sünde beherrschen lassen, sondern über sie herrschen. Kains Blick verrät nichts Gutes. Er verweigert in seinem Zorn jegliche Kommunikation. Der Abbruch der Kommunikation mit Gott führt zum radikalen Bruch mit seinem Bruder. Kain ist gefangen in seiner Wut und Verletzlichkeit, kann nicht mehr wahrnehmen, dass Gott sich ihm zuwendet. Das Gefühl der Ablehnung gewinnt die Oberhand. Er lockt seinen Bruder aufs Feld und schlägt ihn tot. Er sucht sich einen Ort weg von menschlicher Behausung. Er will sich sicher fühlen, das ihn niemand beobachtet. Die Tat soll unbemerkt bleiben. Brudermord auf freiem Feld.

Selbst wenn Kain sich von Gott ungerecht behandelt fühlt, so setzt das nicht Gottes Gebote außer Kraft. Es gibt keinen Grund, einen Menschen zu töten. Kain hat die Wahl gehabt zwischen einem Leben in Würde oder einem Leben in Schuld. Es zwingt ihn niemand, schuldig zu werden. Kain hätte nicht zuschlagen müssen, aber er tut es. Es ist zu einfach, die Verantwortung von Kain abzuweisen und auf Gott abzuwälzen als den Urheber des Problems. Selbst wenn Gott tatsächlich Abel vorgezogen hätte, so wird dem Menschen dennoch zugemutet, mit Benachteiligungen zu leben, ohne den andern den Schädel einzuschlagen. Der Mensch muss sich behaupten, ohne schuldig zu werden. Es gibt immer andere, die haben es leichter, bessere Voraussetzungen und mehr Chancen, im Leben voranzukommen. Kain aber öffnet der Sünde Tür und Tor. Ungerechtigkeiten mögen verabscheuungswürdige Handlungsweisen eines Täters erklären, entschuldigen können sie sie nicht. Schuld bleibt Schuld und muss auch so genannt und geahndet werden. Der Mensch wird zur Rechenschaft gezogen.

Was keiner sehen sollte, Gott hat es gesehen. „Wo ist deinBruder Abel?“, fragt Gott. Das ist keine echte Frage, Gott weiß längst Bescheid. Die Frage deckt die Schuld auf, behaftet ihn auf seine Tat. Die Frage ist eine Anklage „Was hast du getan?!“

Kain versucht, den Mord zu vertuschen. Jetzt fängt der eben noch stumme Täter an zu reden. Das Erste, was er sagt, ist eine Lüge und eine unverschämte Gegenfrage. Er tut so, als wüsste er nichts, wird frech und antwortet keck: „Ich weiß nicht, soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Erwartest du etwa, Gott, dass ich auf meinen Bruder aufpasse? Der ist alt genug und für sich selbst verantwortlich! Der kann auf sich selber aufpassen! Kain geht in die Offensive, versucht, sich zu verteidigen. Der Sünde der Tat folgt die Sünde des Wortes.

Aber die Stimme des Blutes Abels schreit von der Erde her empor. Das vergossene Blut hat eine Stimme und offenbart die Sünde. Kain kann sich nicht herausreden. Es kann nicht so tun, als ob er nichts wüsste, als ob nichts geschehen sei. Vor Gott gibt es keinen perfekten Mord. Er hat den Erdboden, der ihn ernährt, geschunden und entehrt. Er hat den Acker mit dem Blut seines Bruders getränkt, der Acker wird ihm fortan seine Kraft verweigern. Der Segen des Ackers, den sich Kain durch seine Opfergaben erhalten wollte, hat er nun ein für allemal verwirkt. Kain muss die Konsequenzen für seine Tat tragen. „Verflucht seist du auf der Erde. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht mehr geben. Flüchtig und unstet sollst du sein auf Erden.“ Die Strafe ist hart. Er wird verflucht. Er kann sich nicht mehr ernähren, er hat keine Heimat mehr. Der sichere Tod wartet auf ihn. Außerhalb der Gemeinschaft ist er nicht überlebensfähig. Die wilden Tiere werden ihn reißen. Die Strafe macht ihn vogelfrei. Er ist der Gewalt anderer Brutaler schutzlos ausgeliefert. Kain erwartet die Spiegelstrafe. Der Tod Abels wird seine eigene Tötung nach sich ziehen.

Kain hat sich mit seiner Tat von Gott und den Menschen entfernt. Er hat die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zerstört. Der Fluch verändert sein Leben. Er kommt nicht ungesehen davon. Menschen haben den Mord nicht beobachtet, aber Gottes Augen ist er nicht verborgen geblieben. Kain bekommt seine gerechte Strafe. Gott selbst wacht über den Zusammenhang von Tun und Ergehen. Es ist letztlich nicht Gott, der Kain verflucht, sondern es ist der Fluch der bösen Tat, der ihn selber trifft.

Kain befürchtet, dass er sich nun vor Gottes Angesicht verbergen muss. Das Angesicht steht für Zuwendung. Hat Kain nicht nur die Zuwendung des Ackers, sondern auch die Zuwendung Gottes verloren? Gibt es für ihn, dessen Gesichtszüge im Zorn herunterfielen, dessen Blick sich verfinsterte, der sich von seinem Bruder und von Gott abwendete, keine Zuwendung mehr? Die Folge eines Lebens ohne Zuwendung ist tödlich.

Kain erfasst die Härte seiner Strafe, fleht um Gnade. Gott gewährt sie ihm, macht ihm ein Zeichen auf die Stirn, dass ihn niemand erschlagen darf, wer ihn findet. Leben bleibt immer Leben vor Gott. Und Kain zog weg von Gottes Angesicht und wohnte im Lande Nod. Obwohl er nicht mehr unter dem Angesicht Gottes wohnt, steht er dennoch unter Gottes Schutz. Selbst Kain, ein Mörder, wird nicht der Willkür anderer anheimfallen. Aber rast- und ruhelos wird sein Leben sein, in Unfrieden wird er sterben. Er hat sein Leben verwirkt. Er hätte es anders haben können.

Wir sind herausgefordert, ein Leben in Verantwortung zu führen. Gewalt darf um Gottes und der Menschen willen nicht sein. Die Gewalt beginnt lange vor der bösen Tat. Sie nimmt ihren Anfang mit dem Neid und Zorn. Wieder breitet sich rassistisches Gedankengut bei uns in Deutschland aus. Rechtsradikale lassen Ausländerinnen und Ausländer bei uns nicht in Ruhe leben. Schlägertypen kommen sich groß vor, wenn sie andere einschüchtern. Hier wird Gewalt offensichtlicht. Es gibt Gewalt, die sich nicht so deutlich zu erkennen gibt, und doch ist es Gewalt, wenn Menschen bewusst klein gehalten werden, wenn Versuche, sich zu entfalten, im Keim erstickt werden, wenn einer über den andern herrschen will.

Gott warnt uns. Von bösen Taten geht ein Fluch aus, der uns selber treffen wird. Wir werden zur Verantwortung gezogen. Wenn nicht von den Menschen, dann von Gott. Die Wahrheit wird sich durchsetzen. „Wo sind deine Schwestern und Brüder?“ werden sich alle fragen lassen müssen, die sich schuldig gemacht haben. Gott ist gerecht. Das ist eine Mahnung an die, die Unrecht verursachen und ausüben, ein Trost für die Abels dieser Welt, die Leid und Ungerechtigkeiten ausgesetzt sind.

Gott wendet uns sein Angesicht zu und blickt uns gnädig an. Niemand braucht den Weg der Unmenschlichkeit und der Gewalt zu gehen. Jeder Mensch ist von Gott geliebt, jedem Menschen hat er ein Leben in Freiheit und Würde zugedacht. Wir sollen die Erde bebauen und bewahren. Die gesamte Schöpfung ist eingeschlossen in den Willen Gottes zu einem guten Leben. Wir finden uns mit menschenunwürdigen Taten und Lebensverhältnissen nicht ab. Wie Gott sich den Gedemütigten und Geschändeten zuwendet, wenden wir uns in Liebe und Annahme den Geschundenen dieser Erde zu. Uns lässt das Unglück anderer nicht gleichgültig. Wir helfen, trösten und bauen auf, was zerstört wurde. Wir verbinden, was verletzt ist, nehmen auf, wer ausgestoßen ist. Wir können nicht alles tun, aber was wir tun können, das tun wir, je an unserem Ort, nach unseren Möglichkeiten. Wer Menschen achtet, achtet Gott und gibt ihm die Ehre. Alles, was wir tun mit Worten und Werken, tun wir alles im Namen Jesu Christi, der unsere Hoffnung und unser Heil ist. Amen.

Christiane Borchers, Pfarrerin, Dipl.-Theol.
An der Rotbuche 1
26802 Moormerland
Tel. 04925 / 99 55 45
E-Mail: christiane.borchers@web.de

 

 


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