Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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13. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2006
Predigt zu 1. Mose 4,1-16, verfaßt von Reinhard Brandt
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1 Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN.
2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
3 Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes.
4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer,
5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.
6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?
7 Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.
11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.
12 Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
13 Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte.
14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet.
15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände.
16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Liebe Schwestern und Brüder,

obwohl: diese Anrede ist gefährlich! Nach dieser biblischen Brudergeschichte! Deshalb mit der Ahnung der Gefahr: liebe Schwestern und Brüder, ich kann den Kain verstehen!

Ich kann den Kain verstehen, wie er sein Opfer bringt: von dem, was er hat, als Kleinbauer und Ackersmann. Von den Früchten seines Feldes, das Beste ausgesucht, Brotfladen wohl vom ersten Korn des Jahres, dazu alles, was sonst wächst auf dem Acker. Alles Früchte, die er selbst angebaut hat im Schweiß des Angesichts; von selbst wächst das alles nicht. Alles Früchte, die er wohl selbst essen und brauchen könnte! Nein, Gott wird es zum Speis‑ und Brandopfer dargebracht! Da kann ich ihn verstehen, den Kain: von Gott haben wir alles, ihm bringen wir es zurück, ordnen alles in die Gottesbeziehung ein.

Ich kann den Kain auch verstehen, daß er nach seinem Bruder schaut. Konkurrenz unter Brüdern, gerade im vertrauten Raum der Familie: nicht wahr, eine vertraute, eine urvertraute, urbekannte Geschichte!

Ich kann auch den Abel verstehen, Schäfer und Kleinviehnomade! Er tut ja nichts anderes: Das Beste, was er hat, bringt er Gott zum Opfer: die Erstlinge, die Erstgeburt der Muttertiere, die Zukunftsgarantie sozusagen. Und das Fett der Tiere, das man nach langer Wanderung am liebsten selbst auslassen und verkochen würde. Gott wird es zum Brandopfer dargebracht!

Kain und Abel: ich kann den unterschwelligen Konflikt verstehen: Kain der Erstgeborene, der doppelt so viel erben wird wie Abel! Und dazu die mühsame Balance zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern. Wird die Akkerfläche ausgeweitet, so muß das Weideland weichen. Steigt der Viehbestand, droht umgekehrt Gefahr: daß das Vieh auch auf Kulturland weidet. Wahrlich, mühsam die Balance!

So kann ich gut den Kain verstehen, daß er auf Zeichen achtet: Lohnt sich die Mühe? Ist meine Arbeit gesegnet? Wird anerkannt, was ich schaffe? Eine Lebensfrage ist das für ihn, das Zentrum seiner Person ist berührt. Sein Name deutet es an: „Kain“, wohl verwandt mit qanah: „schaffen, erwerben“. So sucht Kain nach Zeichen, Lebenszeichen, Gotteszeichen. Wird mein Opfer wohl angenommen?

Das ist eine der offenen Stellen in der Geschichte: Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Warum? Aus welchem Grund? Als ausgleichende Gerechtigkeit? Doch wozu? Die Geschichte gibt keine Auskunft, keinen Hinweis. Es ist einfach so; und der Grund ist verborgen.

Vielleicht ist es gerade das, was diese Geschichte so lebensnah macht. Wir suchen immer nach Gründen, in einem früheren Fehlverhalten des Kain vielleicht, in falschen Früchten oder sonst wo. Doch wie oft gibt es keine Gründe, keine Erklärungen; man kann nur ratlos raten, nur ohne Antwort fragen, nur zornig schweigen.

Deshalb, liebe Schwestern und Brüder, kann ich den Kain verstehen: Daß er ergrimmt, sehr! Daß er finster blickt! Daß er seinen Blick senkt! Warum hat der Bruder es besser? Warum schafft er, was ich nicht schaffe? Was gelingt ihm, was mir nicht gelingt? Warum hat er das Glück, das ich nicht habe? Was wird ihm zuteil, was auch ich ersehne? Was steigt ihm leicht auf (der Rauch des Brandopfers), was mir schwer am Boden kriecht? Und im Hintergrund lauert gefährlich die Frage: Warum ist Gott ihm gnädig und mir nicht? Keine Antwort! Aber die Frage!

Ich kann, liebe Schwestern und Brüder, den Kain nur zu gut verstehen! Vielleicht, weil er mein Bruder ist? In der biblischen Urgeschichte mein Ur-Bruder? Oder genauer noch, weil ich mich in ihm entdecke? Im sehnsüchtigen und vergleichenden und grimmigen Kain?! Urtief in der Seele! Weil ich ein Sünder bin! Weil ich Täter sein könnte! Gefährlich ist das, liebe Schwestern und Brüder!

Es folgt ein Intermezzo, eine Gottesrede: „Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“

Was in Bruder Kain wohl vorgeht, als er von Gott so angeredet wird?: Wenn er fromm sei, soll er ertragen, daß der Herr ihn nicht gnädig ansieht. Wenn er fromm sei, soll er trotzdem frei den Blick erheben. Welche Zumutung? Welche Prüfung? Sich Abfinden mit dem Leben und dem Bruder und dem Rauch und der Ungnade? Und trotzdem fromm sein und den Blick erheben?!

Ich kann mich in den Kain hineinversetzen: Wie hätte er reagieren sollen? Alles ertragen? Sich bescheiden? Das wäre am Ende vielleicht so etwas wie Selbstmord auf Raten gewesen. Oder sich auflehnen, sich erheben, die Dinge selbst in die Hand nehmen, die Mordwaffe; und den Bruder erschlagen? Das hat Kain dann getan.

Es ist dies die entscheidende Szene, liebe Schwestern und Brüder, dieses Gottesintermezzo: Bist du, seid ihr „aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ Und dazu die Frage: „Warum senkst du deinen Blick?“

Vielleicht wäre wirklich dies der entscheidende Punkt für den Kain gewesen, zwischen Schaffen und Scheitern, zwischen Trauer und Trotz und Tod. Dies: den Blick zu heben und Gott ins Angesicht zu sehen und ihn zu fragen und ihm zu klagen! Die Schwielen an den Händen, die Sehnsucht nach Segen, das garstige Gelingen des Bruders. Den Blick zu erheben und dies zu fragen und zu klagen, Gott zu klagen: das vergebliche Opfer, sogar den verschlossenen Himmel zu klagen.

Dies ist der Unterschied zwischen Hiob und Kain: Hiob klagte, erhob den Blick und redete Gott ins Angesicht und klagte sein Leid und alle Verschlossenheit. Kain dagegen bleibt bei sich, der Blick ist gesenkt, wie verkrümmt der Mensch; und er schweigt.

Dann die Tat: Abel geht mit seinem Bruder auf‘s Feld, da erhebt sich Kain gegen seinen Bruder und schlägt ihn tot. Nichts über die näheren Umstände ist berichtet, nur der Tatort; nichts über die Tatwaffe, nur das Ergebnis: „und schlug ihn tot“.

Da kann ich unseren Bruder Kain immerhin noch von ferne verstehen, liebe Schwestern und Brüder. Von ferne: denn ich habe noch niemanden erschlagen und ein großes Tabu steht schon vor dem Gedanken an eine solche Tat. Doch wer weiß, wer auf dem weiten Feld nicht alles schon gestorben ist, weil er keine Lebensmöglichkeiten mehr hat wegen unserer, meiner Art zu leben? Weil er an Hunger, an Krankheit gestorben ist ohne Hilfe? In den Rohstoffkriegen vielleicht für unseren Wohlstand? (Einen wirtschaftlichen Hintergrund gibt es wohl schon urgeschichtlich bei aller Unbegreiflichkeit der Tat.) Wer weiß das schon in einer globalisierten Welt? Von ferne stehe ich und weiß es nicht.

„Ich weiß nicht!“ Das ist auch die Antwort von Bruder Kain, als Gott ihn nach seinem Bruder Abel fragt. „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“

Diese Antwort von Bruder Kain kann ich nun wieder gut verstehen: das Wegschieben, das Nicht-Wahrhaben-Wollen, das Verdrängen. Soll ich meines Bruders Hüter sein? In Dafour und in Afghanistan und im Irak und in Galiläa und in Gaza und bei den Aids-Opfern in Südafrika? Und wie ginge das überhaupt, der Hüter meines Bruders, meiner Schwester dort zu sein? Und bei denen in meiner Nähe, wie ginge das?

Nein! Fraglich, wie die Geschichte ist, fragwürdig, wie ich bin: Da schiebe ich die Antwort doch lieber beiseite: „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“

„Gott aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Ja, die Erde selbst ist Zeuge, das Blut schreit zu Gott. So ist es! Das Blut, unschuldig vergossenes Blut, wie viel Blut schreit zu Gott!

Und das Urteil, gar nicht eigentlich von außen auferlegt, sondern Folge und Fluch der bösen Tat selbst. Der Acker ist verflucht, der das Blut des Bruders aufgenommen hat. Der Blutacker verweigert den Ertrag, den Segen. „Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“

Ach, liebe Schwestern und Brüder, das ist eine Geschichte, die wir auch kennen, aus unseren eigenen Geschichten, urtief in der Seele kennen! Mit den Folgen unserer Tat konfrontiert zu werden, unvermittelt, unmittelbar, unentrinnbar! Was wir getan haben, das holt uns ein, die Folgen treffen uns!

Wie unseren Bruder Kain! Was für ein Fluch der bösen Tat! Vom Acker hat er gelebt, jetzt muß er sich vom Acker machen. Stetig hat er gearbeitet, nun soll er unstet sein auf Erden. Von der Frucht der Erde hat er gelebt, nun soll die Flucht sein Schicksal werden.

Ich kann Kain gut verstehen, wie er klagt dem Herrn, jetzt klagt er: „Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte.“ Er beklagt sein Schicksal auf der Flucht. Realistisch sieht er, wie ihm just das zustoßen kann, was er selbst getan hat: „So wird mir's gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet. Keine Verdrängung mehr, sondern Realismus und ernste Einsicht in die Folgen der Tat. In diesem Augenblick kann er schier Vorbild sein, unser Bruder Kain, liebe Schwestern und Brüder - auch wenn solcher Ernst für uns noch einmal gefährlich werden kann.

Doch anders Gott! Keine Lynch-Justiz mit Gott! Gott schützt selbst den Mörder: nicht vor den Folgen, aber vor seiner Tat. „Nein“, spricht der Herr, „Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände.“ Ein Kainsmal, Schuldzeichen auch, vor allem aber Schutzzeichen, daß Kain nicht von seiner eigenen Tat getroffen werde. Der Kreislauf von Mord und Totschlag wird von Gott unterbrochen.

„So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.“

Das ist nicht alles, was von Sünde und Schuld, von Vergebung und Frieden zu sagen ist, liebe Schwestern und Brüder. Viel, viel mehr ist noch zu sagen und zu singen: Das lassen Sie uns gleich anschließend tun!

Nicht alles, aber viel ist es: viel, was erzählt wird in dieser Geschichte, Ur-Geschichte der Menschheit, Ur-Erfahrung zwischen Opfer und Täter, zwischen Frage und Klage und Frage und Urteil und Klage, zwischen Strafe und Schonung. Und es ist viel am Ende; nicht alles, aber viel: Der Brudermörder Kain darf wohnen, darf leben. Trotz allem, mit allem, was er getan hat: er darf leben.

Das ist viel, liebe Schwestern und Brüder! Unser Bruder Kain darf leben! Auch als Bruder Kain dürfen wir leben!

Der Friede Gottes, höher als Vernunft und Vergeltung: der bewahre unsere Herzen und Sinne, auf daß wir leben! In Christus Jesus! Amen.

Nachbemerkungen:

1) Gerade weil ich in diesem Fall die Urgeschichte aus sich heraus nur mit einer christologischen und soteriologischen Andeutung am Schluß predige, ist ein trinitarischer Kanzelgruß und ein christologischer Friedenswunsch von besonderer Bedeutung, um den Ort im christlichen Gottesdienst anzuzeigen.

2) Nützlich fand ich - nicht nur in den exegetischen Einzelfragen - die Meditation von Rüdiger Lux (GPM. 60. 2006, S. 378), der besonders das Interesse des biblischen Erzählers am Täter hervorhebt.

3) Mögliche Lieder:
EG 343: Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ (Wochenlied)
EG 355: Mir ist Erbarmung widerfahren (eine Meditation eigener Erfahrungen)
EG 350: Christi Blut und Gerechtigkeit (eine soteriologische Ergänzung)

Dr. Reinhard Brandt
Dekan in Weißenburg (Bayern)
reinhard.brandt@elkb.de

 


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