Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

12. Sonntag nach Trinitatis, 3. September 2006
Predigt zu Apostelgeschichte 3, 1-10, verfasst von Dieter Koch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde, welch ein Glück bestimmt diese Geschichte!

Ein Gelähmter steht auf, springt und tanzt im Tempel. Aus einer lebenslangen Lähmung ist er auferstanden in das freie Spiel des Lebens. Seine Seele ist ins Heilige eingekehrt. Alles ist leicht geworden. Lukas, dem Autor der Apostelgeschichte ist mit dieser ersten ausgeführten Vollmachtstat der Apostel eine großartige Ikone gelungen, ein in Worte gefasstes Heilsbild, das darauf wartet, betrachtet, meditiert, verinnerlicht zu werden.

So kann Leben sein, so darf es gelingen! Eine unbändige, weite Freude erfüllt den heiligen Raum und lässt den überraschend aus seiner Lähmung gelösten Menschen frei die Füße setzen und seine Arme zum Tanze breiten.

Ein Heilsbild ist diese Geschichte, weil uns hier die Augen geöffnet werden für Gott und seine Gegenwart in uns. Gibt es ein größeres Wunder als einen lebendigen Menschen, als den freien, leichten Gang des göttlichen Ebenbildes? Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch (Augustinus). Voller Lebensfreude schaut der einst Gelähmte, nun Freie, uns an. Voller Lebensfreude lädt er uns ein, mit ihm zu tanzen, zu springen, zu feiern und zu loben. Alles wartet darauf, mit ihm Aug in Aug die Freude zu teilen, die zu ihm kam im Augenschein des Apostels Petrus, in diesem Augenblick, der ihn die Augen hat aufschlagen lassen, um das Leben, um sich selber neu zu sehen. Im Glanz der Gnade hat er sich entdeckt, im Aufblick auf Gott und seine Zeugen sich neu erfahren.

Im Zentrum dieser Heilungsgeschichte steht ein von Lukas eindringlich geschildertes Wechselspiel der Augen, eine Sehschule des Lebens und des Glaubens. Alles beginnt damit, dass Lukas schildert, wie die beiden Apostel zur Zeit des Abendopfers in den Tempel gehen. Am heiligen Ort wollen sie mit einstimmen in das ewige, das alle Zeiten durchtönende Gotteslob. Auf dem Weg ins Innere des Tempels, an der schönen Pforte, treffen sie auf einen gelähmten Bettler. Tag um Tag, Jahr um Jahr schon trägt man ihn an diese Stelle, wo es sich gut verdienen lässt. Gejammer und Elend erwirken Almosen. Aus Scham oder Pietät werden Geldstücke locker gemacht. Sie fallen zu Boden, rollen dem Bettler vor Füße, die ihn noch nie getragen haben, Füße, die keine Füße sind, nur sinnlose Glieder.

Welcher Kontrast: da ist die schöne Pforte, die Männer zielstrebig durchschreiten um vor ihren Herrn und Schöpfer zu treten, und da ist das menschliche Leid, ausgeschüttet, hingeworfen, in unmittelbarer Nähe des Schönen, aber auf ewig vom Heiligen getrennt.

Bedenken wir: einem Gelähmten ist nach dem heiligen Gesetz Israels der Tempel und damit die Teilhabe an Gott verwehrt. Dieser gelähmte Bettler ist mit den wenigen Worten, die ausreichen, um ihn zu charakterisieren, ein Sinnbild des Unheils, der Beschämung und der Würdelosigkeit. Ehrlose Bettelei verbindet sich mit dem Eindruck, da wird einer benutzt, da muss einer Tag um Tag, Jahr um Jahr Geld anschaffen, sich sein wertloses Lebensrecht verdienen. Nie wird es genug sein, was er beibringen kann, um in den Augen derer, von denen er abhängig ist, anerkannt und geliebt zu sein. Was er gelernt hat, ist mit Schmach und Schande hausieren zu gehen, mit dem schlechten Gewissen, das seine bloße Existenz auslöst, schäbige Geschäfte zu machen. So hat er gelernt, die Menschen zu sehen, sie zu taxieren, sie auf die wunden Punkte anzusprechen und ihnen Geld aus den Taschen zu ziehen. So sehen wir ihn, mit der ihm eigenen Wendigkeit und Erfahrung, die beiden Apostel bewerten, um sie in bewährter Manier anzubetteln.

Da aber geschieht das Überraschende. Statt beschämt ein Almosen zu geben, schauen Petrus und Johannes ihn an. Petrus nimmt das Wort und sagt: Schau uns an! Eine Beziehung beginnt, ein Gespräch. Die Augen des Bettlers heben den Blick, treffen auf die Augen der Apostel und sehen, sehen von dieser Aufforderung überrascht fragend auf die Fremden, sehen in gespannter Erwartung auf, worauf? Auf das eine große Geldstück? Worauf? Und sehen dabei in Augen, die nicht nur ihn, diesen erbärmlichen Lahmen, sehen, sondern in ihn sehen, Augen, die ihm auf den Grund blicken, bis Aug in Auge sich spiegeln.

Das Elend der Sünde und der Glanz der Gnade verbinden sich im Augenschein der klarsichtigen Liebe, mit der die Apostel als Zeugen Jesu Christi diesen Armen durchschauen, ihn erkennen und ihn im Blick der göttlichen Liebe erhöhen, ihn in die Würde rufen, die von Anbeginn für ihn bereit stand. Seine materielle Erwartung wird enttäuscht, aber diese Enttäuschung ist nur der Widerschein der anbrechenden Befreiung. Der Teufelskreislauf aus Scham und Schande, der ihn bisher bestimmte, wird aufgehoben, hinaufgehoben in das freie Spiel des Lebens.

Gottes Gnade hat einen Namen Jesus Christus. In ihm ist die neue Brüderlichkeit angebrochen für diese Welt, der freie Geist der Anmut und Würde, die Gotteskindschaft. Es ist ein neuer Blick auf die Welt und doch ist er zugleich uralt. Er ist so alt wie der Blick der mütterlichen Liebe über einem geliebten Kind, so alt, uralt wie der Blick der väterlichen Gunst über einem Sohn, einer Tochter, die in ihre je eigene Zukunft aufbrechen, so alt wie die Schöpfung selbst, wie der Blick, der da schaut und sieht und sagt: Siehe, ist alles gut, sehr gut!

Dieser liebende, dieser sich des Mitmenschen annehmende Blick schafft Wohlgefallen, schenkt Zutrauen, Daseinsmut und Daseinsfreude. Aus solchem Angesehenwerden schöpft der Tanz, dieser wunderbare Tanz im Tempel. Freude bricht auf, leibhaftig alle Glieder durchströmend, ein Sinnbild der Erfüllung, Gottes Gegenwart. In diesem leichten Schritt verkörpert sich der urchristliche Geist der Bejahung. Dank wechselseitigen Bejahens fallen quälende Fesseln dahin. Frauen und Männer, Mütter und Söhne, Väter und Töchter, Griechen und Juden, Fremde und Fromme erfahren das Glück, frei zu sein, frei in der Liebe Gottes und darin frei füreinander.

Im Namen Jesu Christi steh auf und geh umher! In diesem Wort vollendet sich das Augenspiel zwischen den Aposteln und dem Bettler. Im Wort der Verheißung öffnet sich das Land der Verheißung für den Armen. Dem Wort tritt die Tat zur Seite. Wirklich wird, was im Augenspiel schon Wahrheit ist: Der gelähmte Bettler steht auf, tritt durch die schöne Pforte, springt und tanzt im Tempel. Er springt und tanzt, weil er hat erfahren dürfen, dass es ihn gibt, dass es ihn geben darf, dass er in eigener Würde zum Leben berufen ist. Er hat Gott erfahren, und wie er mit seinen Füßen in den Tempel tritt, um im Haus Gottes zu tanzen, so ist er schon in einem noch wesentlicheren Sinne in den inneren Tempel eingetreten, in die Wohnung, die Gott sich bereitet hat in den Herzen der Menschen, seit er den Geist erfahren hat, den Geist Christi und seiner Zeugen, der ihn Zutrauen fassen lässt, der Liebe zu trauen, der Gottesliebe, die auch durch Menschen spricht und schaut und wirkt, die da zusagt in Tat und Wort: „Es gibt dich, weil Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt.“ (Hilde Domin) Es gibt dich, weil Gottes Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt.

Ist diese Geschichte, diese beeindruckende Ikone, dieses Heilsbild zu schön für diese Welt? Machen wir uns nicht vor? Beschämung, Entwürdigung, Entrechtung, innere Verkümmerung, Verlorenheit an nichtige materielle Erwartungen durchziehen unser Leben, bestimmen die Tage, wirken unablässig an der Deformierung des Lebens. Ein Geist des Richtens, Bewertens, Taxierens, Benutzens ist allgegenwärtig und in seiner Folge durchziehen uns vielfältige Lähmungen.

Zutrauen und Daseinsfreude sind Verheißungen, die leicht zu leeren Versprechen werden. Seelische Öde und geistige Wüsten greifen um sich, wenn man sich nicht wagemutig ihnen entgegen stellt, und nicht locker lässt, den freien Gang der Gottesgeschöpfe zu wollen, zu leben und zu feiern. Es ist eine oft und gerade nur stille innere Feier der Lebensfreude trotz allem, aber zugleich liegt darin eine bewegende Kraft, wo immer es gelingt, besser noch geschenkt wird, sich annehmen zu können, sich gewollt und geliebt zu wissen, es bejahen zu können, von Gott bejaht zu sein, es Gottes wert zu sein, zu leben, immer tiefer, reiner, schöner zu leben, und so das Leben und seinen Geber zu preisen.

Dabei brauchen wir einander, brauchen wir die gegenseitige Stärkung und Ermutigung, brauchen wir den Blick der Augen, die uns ansehen, die uns wollen, die sagen, wie schön, dass es dich gibt, damit nicht der Ungeist wieder um sich greift, den beispielsweise Ernest Hemingway in seiner Erzählung’ Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber’ eindrücklich zu beschreiben wusste. Auch diese Geschichte ist ein großes Augenspiel. Aber es sind Augen, die den andern herabsetzen, und verraten. Hemingway schildert ein von übergroßem Reichtum gezeichnetes Ehepaar, dessen Verbindung von Grund auf haltlos und lieblos ist. Die harten, demütigenden Augen der Frau sind von einem Geist der Berechnung bestimmt, dass es einem den Atem raubt. Francis Macomber wird immer aufs neue von diesen Augen getrieben, sich zu beweisen, sich als Held darzustellen, und wird doch gnadenlos abgestraft. Er wusste nicht, was seine Frau empfand, als er auf der Safari, zu der sie beide in Afrika waren, an einem Löwen scheiterte. Er wusste nur, dass er für sie erledigt war. Er war schon häufiger für seine Frau erledigt gewesen. Diese Frau zögert nicht, ihn noch in der Nacht zu betrügen und konfrontiert ihn schonungslos mit seinem Versagen. Am nächsten Tag, abgrundtief aufgereizt, sucht er sich zu rächen, sich an einem Büffel zu bewähren. Trotziger Wagemut kommt über ihn, eine betörende Furchtlosigkeit, mit der er der Angst vor dieser Frau, der Angst vor ihren Augen zu entkommen sucht. Er trifft auf Büffel, er schießt, es scheint gut zu gehen, aber der erste Büffel ist nur angeschossen. Immer im Augenschein dieser kalten Frau gilt es den Büffel ganz zu erledigen. Er folgt ihm ins Unterholz, schaut dem Tier in die Augen, das in tierhafter Wut ihm entgegenrast. Schießt und schießt auf den näher kommenden Kopf, sieht die kleinen, bösartigen Augen, schießt und fühlt einen plötzlichen, weißglühenden, blendenden Blitz in seinem Kopf explodieren - und das war alles, was er noch fühlte. Es liest sich wie eine Gegengeschichte zu der Heilung des Gelähmten an der Schönen Pforte. Macomber erstarrt zunehmend unter dem entwertenden Blick seiner Frau. Seines Zutrauens beraubt, scheitert er und stirbt im Ansturm des Büffels. Im Gegenzug erzählt die Heilung des Gelähmten vom Wunder der Zuwendung, vom liebenden Auge und vom Anbruch des freien Selbstausdrucks.

Es liegt an uns, ob wir im Glanz der Gnade uns zu entdecken wagen, uns im Aufblick auf das leuchtende Antlitz Gottes anzunehmen lernen und das Leben frei wagen, oder ob wir in der Gnadenlosigkeit erstarren, im erbarmungslosen Kampf verharren und in Verachtung einander gefangen nehmen. Herze, willst du ganz genesen, sei selber wahr, sei selber rein! Wahre dir den vollen Glauben an diese Welt trotz dieser Welt. Was wir in Welt und Menschen lesen, ist nur der eigene Widerschein, drängt es mich frei nach Theodor Fontane zu schließen. Doch das letzte Wort soll das Evangelium haben, so wie es in unserer heutigen Geschichte Gestalt annahm: „Es gibt dich, weil Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt“ (Hilde Domin). Es gibt dich, weil Gottes Augen dich wollen, dich ansehen und sagen, dass es dich gibt. Im Namen Jesu Christi von Nazareth, steh auf und geh hinfort freien Schritts.

Pfarrer Dr. Dieter Koch
Stuttgart-Riedenberg
dieter-k-koch@web.de


(zurück zum Seitenanfang)