Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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12. Sonntag nach Trinitatis, 3. September 2006
Predigt zu Apostelgeschichte 3, 1-12, verfasst von Dörte Gebhard
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,
Wunder geschehen neben uns.
Wunder sind daneben.
Neben den Normalitäten und Alltäglichkeiten passieren die ungewöhnlichen Ereignisse im Leben,
neben den Hoffnungen und Sehnsüchten überraschen uns die unerwarteten Momente der Zuwendung und des Heils.

Hören Sie eine Wundergeschichte aus der Apostelgeschichte des Lukas und von den Menschen daneben:

Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.
Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Türe des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.
Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.
Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!
Und er sah sie an und wartete darauf, daß er etwas von ihnen empfinge.
Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest,
er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.
Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.
Sie erkannten ihn auch, daß er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.
(Als er sich aber zu Petrus und Johannes hielt, lief alles Volk zu ihnen in die Halle, die da heißt Salomos, und sie wunderten sich sehr.
Als Petrus das sah, sprach er zu dem Volk: Ihr Männer von Israel, was wundert ihr euch darüber, oder was seht ihr auf uns, als hätten wir durch eigene Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, daß dieser gehen kann?)

Liebe Gemeinde,
heute soll der ehemals Gelähmte tanzen und springen und sich seiner festen Füße freuen. Heute sollen es alle erfahren wie wunderbar es ihm geht – am Tempel, dort, wo alle zusammenkommen, wo alle alles hören und sehen.
Heute müssen die Sorgenmacher und Bedenkenträger noch schweigen, heute dürfen sie noch nicht fragen, wie es denn nun weitergehen soll?
Die Finanzberater sollen heute noch nicht rechnen, wieviel er zum Lebensunterhalt brauchen wird, wo es herkommen soll, welche Jobs für eine derart ungelernte Kraft überhaupt in Frage kommen.
Die vielen Kenner und Sprecher des Psychologischen werden heute noch nicht erfahren, wie einer fühlt, der nach einem langen, halben Leben auf Kniehöhe plötzlich ‚selbständig’ ist. Ein Mensch, der lernen muß, Menschen von Angesicht zu Angesicht zu verstehen, obwohl er sie eigentlich fast alle an ihren Füßen erkennt: an ihren Schrunden und Schwielen, manchmal am Dreck, vor allem aber an ihrer harten Haut.
Einer, der noch nicht weiß, wie Menschen einander in die Augen schauen, der aber gar nicht fragen muß, wie es dem andern geht, weil er jeden Schritt und Tritt unterscheiden kann: die eiligen Füße, die viel Staub aufwirbeln und ihre Hektik verbreiten, die geschwollenen, dicken Beine, die immer müde sind, weil sie schweren Kummer tragen, die wundgelaufenen, fremden Füße von weit her, die Humpler, die immer zu spät zu den Opferzeiten kommen, weil keiner sie stützt, die kleinen, meist zu dünnen Beinchen der Kinder, die noch kaum Spuren hinterlassen im Sand.
Der Gelähmte ist ein paradoxer Experte. Seine eigenen Füße haben ihn noch keinen Meter Weg getragen, aber er kennt sich aus mit Füßen wie kein anderer. Er weiß, wie lange Wunden brauchen, bis sie wieder heilen, wie sie vereitern, wenn Sand hineingerät. Er kennt die Geschichten, die die Narben zu erzählen haben. Vor allem aber hat er einen Blick für die Stärke und die Schönheit der Füße.

Aber heute ist ein Wunder geschehen. Heute sind alle außer sich und leben leicht ‚daneben’. Wann wurde denn das letzte Mal getanzt im Tempel? Die Alten erinnern sich, vom Hörensagen und daß es in den Heiligen Schriften irgendwo geschrieben stehen soll.

Augenzeuge sein, also danebenstehn, ist ein seltenes Amt.
Drei Gedanken zu den Menschen neben dem Wunder will ich entfalten:

Der erste:
Johannes steht daneben.
Der Gelähmte bettelt jeden an. Daher bettelt er auch beide an, Petrus und Johannes. Aber Petrus ist der Chef dieses Augenblicks:
Petrus aber blickte ihn an - mit Johannes - und sprach: Sieh uns an! ...
Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht ...
Petrus ergreift ihn bei der rechten Hand und richtet ihn auf,
Petrus hält kurz darauf die zündende Rede vor allem Volk.
Johannes steht daneben, sagt nichts, guckt bloß, denkt wohl, dankt dann Gott im Stillen ...
Johannes steht die ganze Zeit daneben, nur, daß er ganz am Schluß auch gefangen genommen wird und vor den Hohen Rat gerät.

Solche Petrusse braucht man überall. Wer soll gegen die Macht der Gewohnheit aufstehen, wenn nicht sie? Wenn das Unzumutbare, Menschenverachtende schon Dauerzustand geworden ist, muß einer wie Petrus kommen: ein Mann des Wortes und der Tat. Einer, der sieht, was alle übersehen. Einer, der nichts läßt, wie es war. Die einen staunen, die andern haben Angst.

Johannes steht daneben. Aber er scheint mir mindestens ebenso wichtig wie Petrus zu sein.
Denn Petrus allein? Er war nicht besonders selbstsicher und ‚eigenständig’: Er will wie Jesus auf dem Wasser gehen, aber nur Jesu Hilfe bewahrt ihn vor dem Untergang. Petrus legt starke Glaubensbekenntnisse ab, solange Jesus nahe dabei ist. Und ganz gewiß will er Jesus niemals verleugnen, aber als er allein im Hof sitzt und eine Magd kommt und fragt, sagt er: ‚Ich kenne den gar nicht.’

Petrus allein? Lieber nicht. Petrus braucht einen, der daneben steht: Er ist denn auch nach Jesu Willen von Anfang an nicht auf sich allein gestellt. Er wird gleichzeitig mit Andreas zum Jünger berufen. Auf den Berg der Verklärung nimmt Jesus sicherheitshalber sogar drei Jünger mit: Petrus, Johannes und Jakobus. Obwohl es doch „nur“ darum geht, danebenzustehn. Augenzeuge, Ohrenzeuge sein ist ein schweres Amt. Es ist nicht gut, wenn der Mensch da allein ist. Gott sprach schon am Anfang: Ich will ihm eine Hilfe schaffen (vgl. Gen 2,18).

Manchmal erlebe ich diesen seltsamen Moment, wie Johannes danebenzustehen - im Glauben und im Leben. Da kommt einer, der weiß genau, wie die Weltgeschichte funktioniert, wie es war, wie es ist und wie es sein müßte, wenn es nur mal nach ihm ginge ... Ich höre dann mit großen Ohren zu, etwas sprachlos, leicht gelähmt und bemerke, wie die Fragen kommen: Wie war es denn wirklich? Was ist jetzt, besonders jenseits der Statistik und vor allem: warum? Wie könnte es besser sein? Das braucht viel Zeit und Geduld.
Aber in dieser Fragenzeit haben andere, die Petrusse, schon zugepackt und angefasst und geholfen, wo Not am Mann war, und womöglich sogar noch dabei die Massen begeistert.
Doch glaube ich fest, daß es nach Gottes Willen Petrus und Johannes sein müssen, wenn auch nur ein Mensch heil werden soll. Als alles Volk zusammenlief und Petrus zu seiner Missionspredigt im großen Stil ansetzte, da konnte sich der Gelähmte an Johannes halten, der scheinbar tatenlos dabeigestanden und zugesehen hatte.
Johannes, scheinbar schwach, ist doch im Stillen stark.
Aber unsere Kategorien von stark und schwach führen ohnehin geradewegs ins Paradoxe: Ohne einen Schwachen bleibt der Stärkste schwach.

Der zweite Gedanke:
Nicht nur der eine, Johannes, sondern alles Volk steht daneben, als das Wunder geschieht. Die einen staunen, die andern fürchten sich. Alle sind außer sich, denn nicht nur der eine, der Bettler vor der Tür, die da heißt die Schöne, sondern alles Volk war gelähmt. Sie waren gebunden in ihren Normalitäten und Gewohnheiten: Der Bettler saß dort tagaus tagein, bekam seine Almosen, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.

Die Vorbeigehenden hatten zwar ‚feste Füße’, aber sie waren aus Gewohnheit lahm. Manche von diesen Lahmen dachten wohl gelegentlich bei sich: ‚Gott müßte mal dreinfahren.’ – wenn ihnen Unrecht geschah und sie sich entrüsteten.
Aber sie dachten das gewiß nie, wenn sie an die schöne Tempeltür kamen und den Bettler im Vorbeigehen fast übersahen. Dazu waren sie selbst zu gelähmt. Und jetzt erfüllt sie Verwunderung, wie es im Predigttext heißt. Die Stimmung ist aufgekratzt. Sie fühlen sich daneben, denn sie sind vorläufig von ihrem Lahmsein erlöst. Dieser Moment der Zuwendung und des Heils hat sie überrascht neben ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, die sie sonst so haben.
So wie der ‚Augenblick’ und das Aufgerichtetwerden den Bettler neben seinen
Wünschen nach ein wenig Geld erwischt hat.
Der eine und die vielen Gelähmten waren vielleicht schon bitter geworden vom gewöhnlich lahmen Leben. Skepsis und Mißtrauen ließen schon lange jede Perspektive verschwinden. ‚Es ändert sich ja eh’ nichts.’
Jetzt erfüllt sie Aufregung und Entsetzen: Wenn schon beim Bettler an der Tür nichts blieb, wie es war – was wird dann aus uns?
So haben Johannes und Petrus nicht nur einen einzigen, sondern einige mehr geheilt. Sie waren gewöhnlich lahm und sind heil geworden von ihrer stumpfen Gleichgültigkeit.

Mag sein, Gleichgültigkeit ist die Art von Lähmung, die heute die meisten Wunder nötig hat. Gleichgültigkeit ist eine sehr ernste Behinderung. Ein Blinder kann davon besser predigen als ich, deshalb lese ich einen kurzen Abschnitt aus der (zweiten) Autobiographie von Jacques Lusseyran. Als Sohn von Physikern erleidet er mit sieben Jahren einen Unfall beim Experimentieren und verliert bald darauf seine Sehfähigkeit vollständig. Er überlebt das KZ Buchenwald und wird später Professor und Schriftsteller. Er schreibt unter dem Titel „Das Leben beginnt heute“: „Es gibt kein Gebrechen. Das habe ich durch mein Blindsein erfahren. Gott – oder sagen Sie, wenn Sie es vorziehen, die Natur oder das Leben – entzieht uns niemals etwas. Und wenn er uns etwas zu nehmen scheint, dann sind es immer nur Äußerlichkeiten und Gewohnheiten, derer er uns beraubt. Das müssen wir wissen. Das einzige Gebrechen, das ich kenne, ist nicht die Blindheit, nicht die Taubheit, nicht die Lähmung – so hart sie sein mögen -, sondern die Ablehnung der Blindheit, Taubheit oder Lähmung. Ich preise nicht den Verzicht, sondern den Realismus, den gesunden Menschenverstand, daß heißt die Liebe, die Liebe dem gegenüber, was ist.“

(Zit. n. Schuchardt, Erika: Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen. Fazit aus Lebensgeschichten eines Jahrhunderts, 11. Aufl., Göttingen 2002, 87.)

Liebe Gemeinde,
der dritte und letzte Gedanke widmet sich denen, die so daneben leben, daß sie auch in der Wundergeschichte gar nicht vorkommen. Bei biblischen Wundern haben mich diese Fragen immer am meisten beschäftigt:
Was ist mit all den Geschlagenen und Gelähmten, die damals wie heute Legion waren und sind, die nicht geheilt wurden und werden?
Was ist mit dem, der ab morgen an der schönen Tempeltür sitzen und betteln wird, froh und dankbar, daß diese ökonomische Nische frei geworden ist?
Was ist mit jenen, die fragen: Warum er? Warum gerade ich – nicht?!
Paulus ist ein berühmter Zeitgenosse von Johannes und Petrus, der nicht geheilt wird, der mit dem Pfahl im Fleisch leben muß, der dieses Wunder nicht erlebt – bis ans Ende seiner Tage.
Diese Wahrheit soll neben dem Wunder nicht vergessen werden.
Noch müssen alle Menschen sterben, auch die geheilten Gelähmten. Der Tod ist noch nicht neben der Welt. Robert Gernhardt, der gewitzte Lyriker, der so lange mit dem Tod kämpfen mußte, ohne Aussicht auf Heilung, hat Wundererleben und Sterbenmüssen so kurz zusammengefaßt, wie nur er es konnte:
"Wer Schönes anschaut, spürt die Zeit
und Zeit meint stets: Bald ist's soweit."

Bis es aber soweit ist, daß das Reich Gottes anbricht und wir alle ganz heil werden, mögen neben uns noch viele Wunder geschehen. Daß wir erleben, wie unsere beiden Füße fest werden, unser Standbein und unser Spielbein, wie es bei Gernhardt zuletzt heißt.
(Vgl. den Gedichtband „Später Spagat“, 2006)

Daß wir erfahren, auch wenn wir zuerst wie gelähmt danebenstehn, wie sich das Lahme mit Gottes Hilfe in Leben verwandelt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Füße (!) in Christus Jesus, Amen.


Dr. Dörte Gebhard
doerte.gebhard@web.de


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