Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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11. Sonntag nach Trinitatis, 27. August 2006
Predigt zu Galater 2, 16-21, verfasst von Reiner Kalmbach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde:

manchmal ist uns Predigern ein Wort gegeben mit dem wir wenig, oder einfach gar nichts anfangen können. Dann suchen wir nach Alternativen, wälzen Kommentare, lesen Predigten berühmter Kollegen und neuerdings kommt einem sogar das Internet zu Hilfe. Es kann aber auch geschehen, dass ich am Montag die Bibel aufschlage, um den Text für den kommenden Sonntag zu lesen und das Wort schlägt ein wie ein Blitz. Dann gibt es noch eine dritte Situation: eigentlich scheint alles klar zu sein, aber bei der Vorbereitung tauchen “Schwierigkeiten” auf: wie übersetze ich diese Botschaft in unsere Sprache?, so dass sie alle Menschen die zum Gottesdienst kommen verstehen und “etwas” davon mit in ihre Lebenswirklichkeit nehmen können. Denn, wer sich heutzutage am Sonntag in der Frühe aufrafft, “auf den Weg macht” in die Kirche, der tut das schon lange nicht mehr aus Gewohnheit, sondern weil er den Ruf vernommen hat, weil er weiss, dort in der Kirche wird mir geholfen, werde ich aufgerichtet, finde ich Weisung, Orientierung, vielleicht sogar Antwort auf meine Fragen, oder er sagt sich ganz einfach “das tut mir gut…”.

Gerne würde ich Sie nach der Predigt fragen, wie es Ihnen beim hören dieses Wortes ergangen ist, das wir im Brief des Apostels Paulus an die Galater finden. Er schreibt da im 2. Kapitel, in den Versen 16 bis 21 folgende (Textlesung).

der Urgrund…

Das ist geballte Rechtfertigungslehre, protestantische Theologie pur…, das ist Urgrund des protestantischen Denkens!!!…, wie?, Sie vestehen gar nichts?!, ach ja, wir sitzen hier ja nicht am runden Tisch des römisch – protestantischen Dialogs, wir befinden uns auch nicht auf einem Pfarrkonvent…, sondern wir möchten ganz einfach die befreiende Botschaft dieser Lehre, dieses “Urgrunds” in uns und unter uns spüren, sie mit nach Hause nehmen, ins Leben, hinaus in die Welt…, sie unter die Leute bringen.

Nehmen wir die Gelegenheit beim Schopfe und graben bei Paulus etwas nach, das lohnt sich bei ihm immer! Fragen wir ihn einfach, warum er so klar und deutlich , ja geradezu kompromisslos, auf seinem Gedanken beharrt. Es ist, als grenze er sich ab, als wolle er ein für allemal klarstellen, dass das Evangelium von Jesus Christus eben nicht beliebig verzerrbar ist, sich eben nicht in jede Philosophie oder Weltanschauung eingliedern lässt. Und es ist so, als ob der Apostel das Wesentliche des Evangeliums, seine Essenz, ganz klar und unmissverständlich herausheben will, damit alle, seine Gegner, aber auch jene die ihm nacheifern, begreifen, um was es eigentlich geht. Da taucht natürlich die Frage auf: gegen wen muss er sich denn abgrenzen (und wenn er das auf diese Weise tut, müssen wir das auch tun…?), wen will er überzeugen? Es geht um Petrus, den anderen grossen Apostel, der auf seine eigene Art und Weise das Evangelium verkündigt, und der einfach nicht von der Überzeugung ablassen will, nach der das Seelenheil von den eigenen Werken abhängt. Ich muss also die Gesetze erfüllen (z.B. die 10 Gebote), damit ich mich mit Gott gut stelle, damit er mich akzeptiert…, schliesslich müssen die 10 Gebote doch für irgend etwas gut sein…

Wenn wir ganz ehrlich zu uns selbst sind, werden wir feststellen, dass Petrus, mit seinem Denken, eigentlich “einer von uns ist”. Dass Gott uns – bedingungslos – annimmt, dass er keine Gegenleistung erwartet, das können wir einfach nicht begreifen. Unser ganzes Leben funktioniert auf dem Leistungsprinzip und deshalb meinen wir uns den Himmel, wenigstens ein bisschen, verdienen zu müssen…

…auf dem wir stehen…

Ich kann den Paulus nur zu gut verstehen. Wir leben zwar in einer anderen Zeit, aber wenn ich mein gesellschaftliches und religiöses Umfeld betrachte, dann erschrecke ich fast angesichts der Aktualität seiner Botschaft. Deshalb ist mir seine “Politik der Abgrenzung” sehr sympatisch. Er erhebt die “Rechtfertigung allein aus Glauben” fast zur Ideologie – und das ist notwendig, um das “Eigentliche” wirklich erkennen zu können. Unter Ideologie verstehen wir normalerweise eine politische Denkrichtung, die den Menschen eher bindet, ihn auf sich selbst einschwört, ihm oft genug das eigene Denken abnimmt und so über ihn bestimmt. Wir werden sehen, dass dies bei Paulus ganz anders ist.

Auch bei uns in Südamerika und ganz speziell hier in Argentinien wird immer mehr ideologisiert…, wer anders denkt, gehört schon nicht mehr dazu, er bekommt das Prädikat “Feind” aufgestempelt. So wurde den Menschen in den 90-iger Jahren die neoliberale Wirtschaftspolitik als “der” Weg aus der Dauerkrise gepriessen, heute jedoch als “das” Übel schlechthin an den Pranger gestellt. Und diese Art Politik zu treiben ist gar nicht so weit von der religiösen und kirchlichen Situation entfernt. Der Südamerikaner neigt dazu an alle möglichen Wunder zu glauben, er ist fest davon überzeugt, dass sein Seelenheil vom Gehorsam gegenüber eines Dogmas oder der Erfüllung eines Gelübdes, der Einhaltung von Riten, Regeln und Gesetzen abhängt. Es ist immer jemand da der mir sagt, was ich zu tun (und zu lassen) habe, damit ich zum Ziel komme. Das Denken und Handeln so vieler Menschen, ja eines grossen Teils der Gesellschaft erinnert mich immer wieder an den Kampf Martin Luthers gegen Strukturen die den Menschen in der Unfreiheit hielten.

Deshalb stehen wir hier als protestantische Minderheit in gewissem Sinne Seite an Seite mit Paulus. Wir leben ja nicht auf einer Insel, sondern mitten im “Geschehen”, wir sind Teil dieser Gesellschaft und wir wollen doch wir selbst bleiben. Das ist gar nicht einfach. Das Denken und Handeln der Mehrheit, seine Moralvorstellungen, all das hat natürlich Einfluss auf uns, besonders auf junge Menschen. Neulich sagte ich in einer Predigt: “…viele von uns denken päpstlicher als der Papst..”, und meinte damit den schleichenden Verlust unserer Werte, wie z.B. des freien Willens und des Gewissens. Wir passen uns an, wir wollen nicht aus der Reihe tanzen…

Und so kommt die Gesetzlichkeit, gegen die Paulus und später Luther mit aller Schärfe ankämpfte, durch die Hintertüre wieder in unser Gemeindeleben herein. Ich gehe zum Gottesdienst, weil ich weiss, dass er mir gut tut, aber auch, um mich mit Gott gut zu stellen (“…siehst Du, ich bin ja da..”). Unter dem Anschein, Gott gehorsam zu sein, halte ich ihn mir gerade vom Leibe. Taufe meines Kindes?, kann ja nicht schaden…, man geht an einer Kirche vorbei und bekreuzigt sich…, auch als Protestant…, ein Politiker schwört mit der Hand auf der Bibel, obwohl er sich eigentlich als Agnostiker versteht…; ein junges Paar – absolut kirchenfern -, möchte aber in der Kirche getraut werden…”wir glauben zwar nicht an Jesus Christus, aber es muss doch etwas “Höheres” existieren, etwas undefinierbares…”

Viele Eltern schicken ihre Kinder an katholische Schulen, weil das staatliche Schulsystem seit vielen Jahren systematisch zerstört wird. Auch wir schickten die unseren in eine dieser “guten” Schulen. Dort werden regelmässig die Kinder gezwungen an der Messe teilzunehmen, auch die Evangelischen. Mit der Zeit gehen die meisten “freiwillig”, weil sie die Strafe Gottes fürchten. Wir konnten “schlimmeres” verhindern, weil wir mit ihnen im ständigen Gespräch blieben. Unser Sohn hat sich dann eines Tage spontan auf seinen “freien Willen” berufen und “Schimpf und Schande” auf sich genommen. Er hat plötzlich begriffen, dass Glaube nichts mit Zwang oder Unterwerfung zu tun hat, sondern dass er ihn gerade daraus befreit. Er sah sich plötzlich auf dem “Urgrund” unseres protestantischen Glaubens stehen.

Vor einigen Jahren führten wir unter unseren Mitgliedern eine Art Umfrage durch. Eine der Fragen lautete: “was ist ein Protestant?”. Eine Katholikin die ab und zu unsere Gottesdienste und Bibelkreise besucht, nahm ebenfalls an der Aktion teil und beantwortete die Frage so: “…es ist eine andere Art des Seins…”.

Wir sind also “anders”, unser Glaube macht uns zu anderen Menschen, nicht zu besseren (¡!), aber zu anderen. Der Glaube verändert unser Denken und Handeln, dadurch “unterscheiden” wir uns von der Mehrheit.

Die grosse und entscheidende Entdeckung Luthers, dass Gott mich nicht aufgrund meiner guten Werke annimmt, sondern mich bedingungslos liebt, mich “rechtfertigt aus Glauben”, das ist in der Geschichte der Menschheit nicht ohne Folgen geblieben. Ohne diese persönliche Glaubenserfahrung Luthers wäre es nicht zur Reformation gekommen. Das wird mir hier jeden Tag aufs neue deutlich: wer nach dem “Gesetz” lebt, oder versucht zu leben, wird immer nur auf sich selbst stossen, wird sich immer wieder “selbst finden”, ich drehe mich im Kreise, werde mich immer wieder in einem Spiegel entdecken…. Gott aber, sein Wille, seine Liebe, sein “wie ER ist”, wird mir verschlossen bleiben. Wenn ich diese Abhängigkeit hinter mir lassen kann, werde ich in den “Gnadenbereich Gottes” kommen, wird Christus in mir leben. Dann werde ich auf dem “Urgrund” unseres Glaubens stehen und dieser…

…ist Gott selbst!

Und wenn wir nun über diesen Urgrund sprechen wollen, kommen wir am Kreuz nicht vorbei. Das Kreuz ist ein historisches Ereignis, d.h. Jesus ist gescheitert!!! Sein Projekt der Liebe ist am Kreuz zerbrochen, in sich zusammengefallen, wie ein mehrstöckiges Gebäude in Beirut das von einer Fliegerbombe getroffen wird. Da bleibt nichts mehr übrig, kein Stein auf dem anderen, da kann man nichts mehr verwenden, da muss man ganz neu aufbauen!

Als Christen wissen und glauben wir, dass dieses Gebäude ganz neu errichtet wurde, und der Baumeister ist Gott selbst, der Schöpfer der Welt und des Universums. Die zerstörerische Kraft der Bombe, d.h. der Welt, hat nicht das letzte Wort, sondern der, der da sagt: “…siehe, ich mache alles neu.”

Als Kind hat mich die Geschichte von den beiden Männern, die mit Jesus den selben Tod erleiden, zutiefst bewegt. Da ist sich der eine seiner Situation voll und ganz bewusst: “…ich habs ja nicht anders verdient…, was hab ich schon zu erwarten, als die ewige Finsternis…!” Warum sagt er dann zu Jesus: “…Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!” Hat er in seinem tiefsten Innern gespürt, geahnt, geglaubt, dass Gott nicht der strafende Gott ist, sondern der liebende und vergebende?

Diese “Ahnung”, dieses Fünkchen Vertrauen in die rettende Liebe Gottes hat ihm das Tor zum wahren Leben geöffnet: “Wahrlich, ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradies sein.”

Auf solch einem Glauben lässt sich ein neues Leben aufbauen, ein Leben auf dem Urgrund unserer Existenz: Gott selbst! Das Leben als Geschenk!, nicht als Verdienst!

Das Ereignis am Kreuz, das Ringen des Paulus um das wahre Verständnis des Evangeliums und die Entdeckung Luthers weissen auf das Eine hin: unser Leben begründet seinen “Wert” nicht auf dem was wir leisten, sondern darauf, dass es existiert. Ich lebe, ob ich was “nützliches” leiste, oder nicht: ich lebe! Gott hat mich gemacht, erschaffen…, welch ein Wunder!, das einzig wahre Wunder: das Leben!

Welch befreiender, freimachender Gedanke! Ich muss nicht, damit…, sondern ich darf, kann.., weil Gott mir das Leben geschenkt hat!

Welches ist für Sie der erste Tag der Woche?; für die meisten Menschen ist es der Montag…, eben weil wir da wieder zeigen können was wir zu leisten fähig sind. Für uns Christen sollte der erste Tag in der Woche der Sonntag sein! Wir leben von dem was wir empfangen haben und dann und darauf hin erst von dem, was wir – mit Gottes Hilfe – zu Wege bringen. Das wäre ein Leben aus der Gnade Gottes, ein befreites Leben.

Sollten wir damit nicht gleich heute und hier damit beginnen?. Nein, wir sollen nicht, das wäre ein Rückfall in vergangene Zeiten…. Wir wollen, weil wir dürfen!

Amen.

Reiner Kalmbach (Patagonien / Argentinien)
reikal@neunet.com.ar

 


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