Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag), 20. August 2006
Predigt zu Jesaja 62, 6-12, verfasst von Angelika Überrück
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

Zwischen den Trümmern ihrer Stadt stehen die Menschen, an die diese Worte gerichtet sind. Sie brauchen Trost und Hoffnung. Was ist passiert?

Jerusalem lag in Schutt und Asche und der Tempel war zerstört. Das Volk Israel musste jahrelang im Exil leben und hatte sich von der Rückkehr aus dem Exil eine gewaltige, alles zum Guten wandelnde Wende versprochen. Nachdem sie endlich die Erlaubnis zur Rückkehr erhalten haben, gehen die ersten zurück. Doch nun ist die Enttäuschung groß. Nur Trümmer und Verwüstung sind überall sichtbar. Jerusalem ist keine schöne Stadt mehr, sondern eine zerstörte Stadt. Die wirtschaftliche Not ist riesig, die politische Situation ist noch immer unsicher. Ein Teil der Gemeinde sitzt noch im Exil.

Und da hinein versucht der Predigttext Hoffnung zu geben. Er möchte den Menschen deutlich machen, dass sie weiterhin auf Gott vertrauen können und Jerusalem weiterhin Gottes auserwählte Stadt ist, auch wenn sie zwischen Trümmern stehen.

Das Volk Israel ist seit damals getrennt, ein Teil lebt im Land Israel, ein Teil lebt bis heute über die Welt verstreut. Es hat fast zweieinhalb Jahrtausende gedauert bis es wieder einen Staat Israel gab. Dazwischen hat es noch viele zerstörte Städte gegeben. Das Volk Israel hat noch viele mehr davon erleben müssen. Es hat unzählige Tränen, unsagbares Leid gegeben. Gerade auch durch das, was in unserem Land während der Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist.

Diese Erfahrungen sitzen tief. Und deshalb wird die Erinnerung daran auch wach gehalten. Etwa im August, der genaue Termin richtet sich nach dem jüdischen Festtagskalender, ist es üblich, dass im jüdischen Gottesdienst an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem gedacht wird und darum getrauert. Am Ende wird dann unser heutiger Predigttext gelesen. Er soll auch heute trösten, das Vertrauen in Gott stärken und deutlich machen, dass Gott trotz allem vor Schaden schützt.

Jerusalem ist bis heute noch immer keine Stadt des Friedens. Die Hoffnung auf Frieden scheint weit weg. Nicht nur im Nahen Osten.

Gerade die letzten Wochen haben uns gezeigt, wie instabil der Frieden ist, wie nah Bomben und Krieg sind. Von Raketen getroffene israelische Häuser und die Bilder des zerstörten Beirut stehen uns allen durch das Fernsehen und die Zeitungen vor Augen. Zerstörte Brücken, zerstörte Häuser. Eine Stadt, abgeschlossen von der Welt. Nun ist ein Waffenstillstand beschlossen zwischen der libanesischen Hisbollah-Miliz und Israel. Ob er halten wird? Ob er Frieden bringen wird?

Ich möchte das zerstörte Jerusalem damals als Sinnbild nehmen für alle zerstörten Städte heute. Die meisten von uns kennen die Bilder von Städten, von deren Häusern nur noch Trümmer übrig sind, zum Glück nur aus dem Fernsehen. Bilder von Städten, die in Schutt und Asche liegen, von denen nur noch Steine übrig sind. Die Älteren allerdings werden auch noch die Bilder der zerstörten Städte im und nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen haben. Sie haben Zerstörung und Leid eines Krieges erlebt. Und auch die Bundeswehrsoldaten, die aus dem Auslandseinsatz zurückkommen, erzählen immer wieder, wie nachhaltig ihnen die Zerstörungen in Erinnerung geblieben sind: Dörfer und Städte, in denen kein Stein mehr auf dem anderen ist. Wie viele solche ursprünglich einmal schönen Städte gibt es, die der Krieg zunichte gemacht hat und damit auch alle Träume der Menschen. Nicht nur das: er hat die Existenz der Menschen vernichtet. Und jeder Krieg vernichtet, er zerstört Leben und trägt eben nicht dazu bei, dass Frieden wird. Es scheint kein Ende zu nehmen.

Unser Predigttext allerdings resigniert nicht angesichts von Krieg und Zerstörung in dieser Welt. Er möchte vielmehr trösten und Hoffnung geben. Er sagt den Menschen im zerstörten Jerusalem zu: "Euer Korn sollen nicht mehr Feinde essen, und euren Wein nicht mehr Fremde trinken, die nicht dafür gearbeitet haben. Wer die Ernte einbringt, soll auch das Brot essen, und wer die Trauben liest, soll auch das Brot essen, und wer die Trauben liest, soll auch den Wein trinken." Jeder kann säen und ernten, jeder hat genug zu essen und zu trinken und keiner muss mehr Angst haben vor dem, was in den nächsten Stunden oder Tagen passieren wird an Grausamkeit und Leid. Wie schön wäre das, wenn das in allen Städten der Welt der Fall wäre: in Jerusalem, in Beirut, in Bagdad, in Kabul, im ehemaligen Jugoslawien, in allen Gegenden, in denen Krieg und Gewalt das Leben zerstört haben. Hinter der Zusage unseres Bibeltextes schwingt ja mehr mit: es gibt keine militärische Besetzung mehr, es gibt keine Unterdrückung mehr, es können Gottesdienste in Ruhe gefeiert werden, Menschen verstehen sich und tolerieren sich. Eine Vision- zu schön, um wahr zu sein?

Wenn ich die Realität unserer Welt ansehe: vielleicht. Dennoch möchte ich an dieser Vision, an dieser Hoffnung festhalten so wie die Israeliten damals und wie vermutlich auch die Meisten von Ihnen. Und ich möchte sie nicht nur für mich behalten. Ich möchte probieren, so zu leben, dass sie vielleicht Wirklichkeit werden kann.

Unser Predigttext zeigt uns zwei Wege, was wir tun können.

Der erste lautet: "Baut eine Straße, räumt die Steine aus dem Weg." Steine aus dem Weg räumen, das ist sicher damals erst einmal ganz wörtlich gemeint. Passiert ist oft das Gegenteil: es wurden Steine zu Mauern aufgetürmt, aus Angst. Mauern, die schützen sollten vor anderen: vor andersdenkenden Menschen, vor politischen Systemen, vor terroristischen Grenzübertritten. Was diese Mauern anrichten, das haben wir auch in unserer Geschichte erlebt. Sie tragen nicht zum Frieden bei, weder bei uns, noch anderswo.

Steine gibt es aber auch in unseren Köpfen. Steine im Kopf aus dem Weg räumen, heißt für mich: Lass dich auf den Anderen ein. Hör, was er dir sagen will. "Zerstörung", so hat es mal jemand gesagt, "Zerstörung kann nicht immer ungeschehen gemacht werden, aber Beziehungen können wieder aufgebaut werden. Das gilt nicht nur für Nationen, sondern auch für Individuen, und es ist die einzig mögliche Grundlegung für Frieden." Politiker haben das in den letzten Wochen in Israel probiert, sie haben versucht, für einen Waffenstillstand einzutreten. Frieden ist das noch nicht, aber vielleicht ein erster Schritt. Natürlich ist es schwer und ob es gelingt, ist offen. Immer wieder können Einzelne alles zerstören. Immer wieder gibt es Menschen, die lieber Steine in den Weg räumen möchten und damit Mauern bauen, statt sie wegzuräumen. Angesichts der Terrordrohungen in London letzte Woche und des Terrorismus insgesamt, frage ich mich manchmal, ob man überhaupt Steine aus dem Weg räumen kann. Ist das überhaupt eine Möglichkeit? Ich weiß es nicht, aber eines weiß ich sicher: Krieg, Gewalt und Unterdrückung sind keine Lösung. Sie machen das Leid nur größer. Das Kennenlernen des Anderen ist die einzige Möglichkeit, die wir haben, wenn wir Frieden auf dieser Welt möchten. Ich möchte Ihnen eine Geschichte vorlesen, die uns ganz deutlich dazu auffordert, es miteinander zu probieren und uns aufeinander einzulassen.

"Ganz zuletzt sitzen die Religionen, alle Religionen und Konfessionen dann in einem Wartezimmer, wie bei einem Arzt, und die Tür ist noch verschlossen.
Jede Religion und Konfession sitzt für sich und hat, statt der sonst üblichen Illustrierten, die eigenen Schriften dabei. Ja, auch die Thora, die Upanishaden, das Neue Testament, eine Surenauswahl ...
Darin blättern sie und heben immer wieder den Blick, lassen ihn kurz über die anderen hinweg schweifen und fragen sich: Wer wird wohl der Erste sein, der Zweite, wen ruft er als Letzten hinein? Wird die Zeit überhaupt reichen – es sind ja so viele – oder werden einige von uns hier nicht eingelassen werden?
So sitzen sie da in diesem letzten Wartezimmer.
Fast könnte man meinen, trotz all der Stille und des friedlichen Eindrucks, sie belauerten sich.
Sie tun es ja auch.
Dann, nach langer, langer Zeit, geht die Tür auf und der Ewige ruft alle zu sich herein, alle auf einmal.
Gott sieht sie alle an. Mag sein, dass er dabei lächelt sogar. Vielleicht aber auch nicht. Wer weiß das schon?
Doch dann stellt Gott nur eine Frage: Warum habt ihr nicht geredet miteinander? Ihr hattet doch so viel Zeit.
Warum redet ihr nicht miteinander? Spricht Gott und schickt sie wieder zurück, durch das Wartezimmer, noch einmal zurück, in ihr Leben, verlängert noch einmal die Zeit."

Der zweite Weg steht ganz am Anfang unseres Predigttextes: "Ich habe Wächter auf deine Mauern gestellt." Wächter, das sind Menschen, die über Recht und Gerechtigkeit in einer Stadt, in einem Land wachen. Sie haben einen Auftrag und eine Vollmacht. Diese Wächter sollen erinnern. Sie sollen die Hoffnung wach halten. Bei sich, bei anderen, bei Gott.

Sich erinnern, heißt für uns sicher, das, was durch Unterdrückung und Gewalt in unserem Land anderen Menschen angetan wurde, wach zu halten, davon zu erzählen, damit es nie wieder passiert. Es heißt aber auch: nicht zu schweigen, da, wo heute Unrecht geschieht. Im Kleinen und im Großen. Unrecht kann nur dann verhindert werden, wenn es auch benannt wird. Wenn wir nicht schweigen, sondern uns dafür einsetzen, dass Frieden wird.

Als Wächter über den Frieden haben wir in den letzten Jahren ja vielfach die UN-Truppen bezeichnet, die auch unter deutscher Beteiligung im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan oder im Kongo versuchen, einen stabilen Frieden zu sichern. Über solche Wächter, also UN-Truppen, auch im Nahen Osten wird im Moment ebenfalls geredet. Es wird überlegt, ob und wie sie dort helfen können. Vielleicht ist es eine Chance, die Hoffnung auf Frieden wahr werden zu lassen. Ob allerdings auch deutsche Soldaten sich als Wächter daran beteiligen sollten, muss noch sorgfältig und ausführlich diskutiert werden. Diese Entscheidung muss auch unsere Geschichte mit berücksichtigen.

Die Wächter sollen aber auch Gott an den Frieden erinnern. Das kann nicht nur eine Aufgabe von Spezialisten sein, sondern das geht uns alle an. Auch wir können und sollen solche Wächter ein. Für mich heißt das: wir können Gott im Gebet um Frieden bitten. Wir sollen nicht müde werden, daran zu erinnern, dass wir Frieden brauchen in dieser Welt und für diese Welt. Wir können das Gott immer wieder mitteilen, wenn wir traurig sind über Leid und neues Unglück. Wenn wir Angst haben vor Terror und Zerstörung. Wir dürfen nicht aufhören, Gott zu bitten, dass er uns seinen Schutz gewährt. Wir müssen ihn bitten, dass die Städte unserer Welt nicht mehr zerstört werden, dass keiner mehr weinen und hungern muss. Wenn Juden und Christen gemeinsam Gott erinnern, vielleicht wird die Vision ja dann wahr und alle Menschen können in Frieden das ernten und essen, was sie gesät haben und keiner muss mehr verzweifeln.

Amen

Pastorin Angelika Überrück
Eschenweg 3
59423 Unna
Tel.: 02303/256276
Email: RUeberrueck@t-online.de


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