Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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5. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juli 2006
Predigt zu 1. Mose 12, 1-4a, verfasst von Inke Raabe
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


20 Jahre ist das jetzt her, dass Annegrets Vater mit einer anderen Frau davonging. Annegret war damals 15. Ihre Mutter war am Boden zerstört, sie hatte nichts geahnt und niemals damit gerechnet. Nach der Arbeit traf sie ihn beim Kofferpacken. „Ich gehe fort. Es tut mir leid.“ Das war alles, was er sagte. Es gab keine Erklärungen und keine Gespräche. Das war´s. Einige Wochen später bekam Annegret einen Brief von ihm. Sie öffnete ihn gar nicht, sondern zerriss ihn noch in der Haustür. Dann hat er noch ein paar Mal versucht, sie anzurufen. Weil sie aber nie mit ihm sprechen wollte, unterließ er es irgendwann. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört und sie hat sich auch nicht danach gesehnt. Ihr Vater ist für sie gestorben. Sie will ihn nicht sehen. Sie will nicht wissen, wie es ihm geht. Sie weiß nicht, wo er wohnt und was aus ihm geworden ist. Und wenn sie ihre beiden kleinen Kinder spielen sieht, dann wünscht sie sich oft intensiv, dass sie ihren Großvater niemals kennen lernen.

Annegret ist überrascht, als eines Tages ein Brief in ihrem Kasten liegt. Eine sympathische Handschrift, die sie nicht kennt, hat die Adresse drauf geschrieben. Eine Einladung? Annegret öffnet.

„Liebe Annegret – mein Name ist Lilo Sievers. Ich bin die Frau, wegen der dein Vater euch damals verlassen hat. Du hast mich nie kennen lernen wollen, ich verstehe das gut, es ist in Ordnung. Dein Vater aber hat dich nie aus den Augen und schon gar nicht aus seinen Gedanken verloren. Freunde von Freunden hielten ihn auf dem Laufenden. Er liebt dich sehr, Annegret und du fehlst ihm. Aber das allein ist nicht der Grund, warum ich dir schreibe. Dein Vater hat Krebs. Es geht ihm nicht gut und die Prognosen sind schlecht. Aber er selbst würde es nicht wagen, zu dir Kontakt aufzunehmen. Er weiß, wie weh er euch getan hat und respektiert deine Entscheidung.

Dennoch möchte ich dich bitten: Überleg es dir, ob du deinem Vater nicht doch noch in diesem Leben eine Chance geben möchtest. Wahrscheinlich hat er nicht mehr viel Zeit. Er würde es leichter haben, wenn er dich noch einmal sehen könnte. Bitte, Annegret, besuche ihn. Er würde sich so sehr freuen. Sei gegrüßt von Lilo Sievers.“

Dazu lese ich den Predigttext für den heutigen Sonntag. Er steht im 1. Buch Mose im 12. Kapitel:
Der Herr sprach zu Abraham: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen und verfluchen, die dich verfluchen. Durch dich sollen gesegnet werden alle Völker der Erde. Da zog Abraham weg wie der Herr ihm gesagt hatte.

Da ist von einem, der auszog, die Rede, liebe Gemeinde. Abraham macht sich auf Gottes Befehl hin auf den Weg. Er verlässt Vater und Mutter, Brüder und Schwestern und macht sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Gott segnet ihn. Er schützt ihn und er gibt ihm ein großes Versprechen: Aus ihm soll ein großes Volk hervorgehen. Und Gott hat Land für ihn bereit, ein Land, in dem er bleiben kann, ein Land, das ihm gehören soll. Geh, Abraham, geh und vertrau mir – und Abraham geht und vertraut.

Sie denken vielleicht bei dieser Geschichte an Annegrets Vater, an den, der auszog, das große Glück zu finden. Auch er verlässt seine Familie und macht sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Aber kann auf so einem Verhalten Segen liegen? Nun ist er krank. Wahrscheinlich wird er sterben. Er ist noch keine 60 Jahre alt. So was kommt von so was, sagen die Leute und schütteln den Kopf. Und es gibt sogar einige, die denken: Gott ist eben doch gerecht und straft, die es verdienen.

Ich aber meine es anders. Ich denke dabei an Annegret.

Annegret liest den Brief und sie zittert vor Wut. Soll er doch verrecken, ist ihr erster Gedanke. 20 Jahre ist es jetzt her und sie hasst ihn noch genau wie damals. Vollkommen undenkbar ist es, dem Wunsch der Stiefmutter nachzukommen. Das kann sie nicht, das will sie nicht. Niemals. Und sie merkt, wie ihr das Herz rast und der Hass ihr die Luft abschnürt. Sie rennt raus und läuft und läuft und läuft, bis sie sich wieder etwas beruhigt hat.

„Warum gehst du nicht hin?“ Annegret kann es kaum glauben: Ausgerechnet ihre Mutter rät ihr dazu. „Was hast du zu verlieren? Es ist 20 Jahre her, Kind, du vergiftest dein eigenes Leben mit deinem Hass. Er hat nicht dich, er hat mich verlassen. Du schadest dir selbst mehr als ihm.“

Eigentlich hätte sie sich das denken können. „Was hast du zu verlieren?“ Das war immer Mutters Standardfrage in schweren Entscheidungen gewesen. Niemals hatte sie locker gelassen, bis Annegret ihr von ihrer Angst erzählen konnte. Und war die Angst erst einmal genannt, dann war sie schon fast gebannt.

Ich denke bei der Geschichte von Abraham an Annegret. Denn auch Annegret muss den sicheren Boden verlassen, auf dem sie steht. Sie hat sich jahrelang in der Ablehnung ihres Vater geübt, sie kann sich das gar nicht mehr anders vorstellen. „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“ – jetzt ist es an der Zeit für sie, den Auftrag Gottes anzunehmen. „Geh und vertraue!“ Oder: Was hast du zu verlieren?

Die Geschichte von Abraham ist eine zentrale Geschichte für das jüdische Volk und auch für uns Christen. Abraham ist der Stammvater Israels – die Israeliten sind Kinder und Kindeskinder Abrahams. Und wir Christen, so sagt Paulus, gehören durch Jesu Christi zu diesem Bund dazu, durch ihn sind auch wir Kinder Abrahams und Erben der Verheißung.

Die Sendung und Segnung Abrahams zu Beginn der Vätererzählungen ist mehr als eine Geschichte, sie ist eine Art Prolog, ein Leitbild. Geh! Vertraue! Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein. In ihm ist die enge Bindung Israels an das Land Palästina begründet, in ihm sein besonderer Auftrag unter den Völkern. Hier drückt sich die besondere Liebe Gottes zu seinem Volk aus und vielleicht beginnt hier auch das besondere Leiden dieses Volkes, das schweres Schicksal immer wieder als Strafe Gottes verstand. Denn auch Abraham marschierte keineswegs direkt in das Land seiner Träume; es dauerte Jahre und selbst dann gehörte ihm nicht mehr als ein Brunnen. Er wurde keineswegs Vater vieler Kinder – ein einziges Kind gebar seine Frau Sarah noch in fortgeschrittenem Alter und dieses eine Kind wäre ihm beinahe genommen worden. Abraham hätte allen Grund gehabt, an der Verheißung Gottes zu zweifeln. Aber er tat es nicht. Seine Segnung und seine Sendung gab ihm immer neuen Mut, sie stand wie eine Überschrift über seinem Leben.

Und die Erinnerung an Abraham hat dem Volk Israel immer wieder neuen Mut gegeben. Abraham ist ihr Vater, ihr Vorbild, ihre Leitfigur. Durch ihn sollen gesegnet werden alle Völker – das ist ein Glaubensbekenntnis. Gott hat etwas mit dir vor. Geh und vertraue.

Vielleicht macht es das Annegret so schwer. Ihr Vater war auch ein Vorbild für sie gewesen und als er ging, hat er damals den festen Grund zerstört, auf dem ihr Leben ruhte. Sie hatte keine Verheißung für sich und fühlte keinen Segen. Auf einmal stand sie ganz allein da. Sie fühlte sich verlassen. Sie überlebte, weil sie hassen lernte, zumindest glaubte sie das. Arme Annegret – was hast du zu verlieren? „Zieh aus deinen alten Wunden und Verletzungen und aus deinem Hass und deiner Traurigkeit in das Land, das ich dir zeigen will. Ich werde dich gesund machen und dich segnen und stolz auf dich sein. Durch dich sollen andere gesegnet werden. Du kannst nur gewinnen.“

Annegret ist in Not. Es fällt ihr so schwer, neues Vertrauen zu fassen und einen neuen Weg mit ihrem Vater zu beginnen. Sie muss loslassen lernen, sie muss den Hass und die Wut loslassen und einen neuen Anfang finden. Aber sie weiß nicht, wie das gehen soll.

Anders als das Volk Israel hat sie nie an eine Verheißung für ihr Leben geglaubt. Sie hat keinen sicheren Grund, auf dem sie steht. Jetzt, wo ihr Vater stirbt, hat sie nur noch Angst und sie wünscht sich, sie wäre wieder Kind und unschuldig und ganz geborgen.

Die Geschichte von Abraham, von seiner Segnung und seiner Sendung ist eine positive, lebensbejahende Geschichte. Menschen, ob nun Juden oder Christen, die sich diese Worte zu eigen machen können, haben einen guten Grund in ihrem Leben. Sie fühlen sich mit Abraham gesegnet und gewollt. Sie finden Mut für neue Lebenswege und für neue Aufgaben. Sie lassen sich von Gott auch auf neue Gedankenwege führen. Sie leben als „gesendete“ Menschen, weil sie wissen, dass Gott etwas mit ihnen vorhat. Schwere Zeiten sind manchmal nur zu ertragen, wenn man glauben und vertrauen kann. Geh. Vertraue. Das sind die beiden starken Aspekte der Abrahamserzählung. Geh. Vertraue. Verzeihe. Fang neu an.

Für Annegret wird die Mutter ausschlaggebend: Was hast du zu verlieren?. Und so sehr sie auch überlegt, es gibt kein Risiko, nur ihren Zorn, der sie schon so lange mürbe macht. Sie kann dabei nur gewinnen. Geh. Vertraue.

Sie wird gehen, bald. Sie will ihn sehen, mit ihm sprechen. Er liebt sie, schreibt die Stiefmutter, er hat sie nie vergessen. Vielleicht findet sie endlich inneren Frieden. Und wenn nicht, dann macht sie wenigstens einem sterbenden Mann eine Freude. Die Kinder malen dem Kranken ein Bild. Für Opa – schreiben sie drauf und es fühlt sich noch ein bisschen komisch an.

Wie wird es werden? - Auch Abraham geht in eine ungewisse Zukunft. Aber er geht mit Gottes Segen. Und auch Annegret geht gesegnet: Sie weiß, dass sie das Richtige tut. Amen.

Inke Raabe
inkeraabe@web.de


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