Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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4. Sonntag nach Trinitatis, 9. Juli 2006
Predigt zu Matthäus 5, 43-48, verfasst von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

„Eine Ente hatte Entlein bekommen. Und schon am ersten Tag ihres Lebens sollten sie die Welt kennen lernen. „Rappelt euch,“ sagte die Mutter, eilt euch! Nicht die Füße einwärts setzen. Ein artiges Entlein setzt die Füße auswärts, weit voneinander, so wie Vater und Mutter es tun! Und verneigt euch und sagt ‚rap’! So taten denn die Entlein auch, während die anderen Enten ringsum sie ansahen und laut sagten: Sieh da, jetzt kommt diese Sippschaft auch noch dazu, als ob wir nicht schon genug wären! Und pfui, wie das eine Entlein nur aussieht, das wollen wir nicht dulden.“ Und gleich flog eine Ente hin und biss es in den Nacken.
„Lasst es in Ruhe!“ sagte die Mutter, „es tut ja nichts.“ – „Aber es ist so groß und ungewöhnlich,“ sagte die Ente, die gebissen hatte, „man sollte es verjagen.“
Das arme Entlein, das zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so hässlich aussah, wurde gepufft, gebissen und gefoppt. „Es ist zu groß,“ sagten sie.
Das arme Entlein wusste schon nicht mehr, wie es gehen und stehen sollte, es war so traurig, weil es so hässlich aussah. Es wurde von allen gejagt. Seine Geschwister waren böse zu ihm, und sie sagten: „Wenn dich nur die Katze holen würde!“ Und die Mutter sagte: „Wärest du doch weit, weit fort!“
Die Enten bissen es, die Hühner hackten nach ihm, und die Futtermagd trat mit dem Fuß nach ihm.“

Es ist natürlich „Das hässliche Entlein“, das Märchen von H.C. Andersen, aus dem ich hier ein Stück zitiert habe. Und es ist eine ausgezeichnete Veranschaulichung für das Evangelium von heute, in dem Jesus sich mit der Aufteilung in Freund und Feind, in Mitmensch und Gegenmensch auseinandersetzt, die jeder von uns im ersten Augenblick vorzunehmen geneigt ist.
Denn so ist es doch, nichts stärkt den Zusammenhalt mehr als ein gemeinsamer äußerer Feind, sei es beim Fußball oder in mehr ernsten Angelegenheiten wie einem nachbarlichen Streit, in Fehden oder im Krieg.
Ja, es ist fast, wie wenn es ein Naturgesetz wäre: je mehr das Ichbewusstsein ins Wanken gerät, desto größer ist das Verlangen nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe und nach klar festgelegter Abgrenzung anderen Gruppen gegenüber.
So denken wir. So meinen wir, ist es.
Und deshalb müssen wir sagen: gewiss sind die Worte, die wir hier hören, alt, aber es ist doch ein völlig neuer und unbegreiflicher Gedanke, wenn Jesus dazu auffordert, dass wir unsere Ichsicherung der Selbstbehauptung aufgeben und sie stattdessen durch Liebe ersetzen sollen, durch Liebe, Vergebung und Willen zum Frieden.
„Liebet eure Feinde,“ sagt er, „segnet die, die euch fluchen. Tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen!“

Ja, das sind harte – ehrlich gesagt – unmögliche Worte, darüber besteht kein Zweifel, dass es Worte aus der Bergpredigt sind, die wir heute hören.
Liebet eure Feinde. Das sollt ihr!
Ja, aber das können wir nicht, sagen wir.
Das ist ja absurd, denn Hass und Liebe sind ja eben Gefühle, und über sie haben wir bekanntlich keine Macht, auch wenn wir das vielleicht gerne möchten.
Ein Mensch ist in der Gewalt seiner Gefühle, sagen wir doch, und das ist ja gerade Ausdruck dafür, dass wir einer Sache unterlegen sind, die stärker ist als wir.
Hass und Liebe sind Gefühle, die uns überwältigen können, aber es sind nicht Gefühle, die wir durch einen Willensakt oder einen Entschluss hervorrufen könnten.
Vielleicht können wir, mit ein wenig gutem Willen, uns wenigstens dazu ermannen, unsere Feinde anständig zu behandeln. Ja, wir können vielleicht sogar so weit gelangen, dass wir lernen, sie zu dulden. Aber es ist noch ein großer – ein sehr großer – Unterschied zwischen Toleranz und anständigem Betragen auf der einen Seite und der Liebe auf der anderen.
Wir können womöglich auch lernen, uns abzuregen, so dass die Liebe nicht mit uns durchgeht, aber das hat genauso viel mit Hass zu tun wie Toleranz und Anständigkeit mit Liebe zu tun haben.
Ja, aber ganz ehrlich – worum geht es denn dann?
Stehen wir nicht einmal mehr vor der unerfüllbaren Forderung, die niemand, außer demjenigen, der sie selbst formuliert hat, jemals hat erfüllen können?

Wir könnten nun auch versuchen, uns der Sache von einer anderen Seite her zu nähern.
Ich möchte einen Abschnitt aus dem Neuen Testament lesen, einen sehr schönen Abschnitt, einen Abschnitt, der jeder Hochzeitsrede wohl anstehen würde. (1. Joh. 4,7 ff.)
„Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.
Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: dass wir nicht Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben.“

Liebet einander.
Also nicht einmal die Feinde, sondern einander.
Und schon hier finden wir, die Forderung ist übermäßig hoch. Denn wir ahnen: einander zu lieben, das dreht sich nicht um unsere Eltern, Ehepartner oder Kinder – für sie ist es ja glücklicherweise in der Regel nicht schwer zu lieben. Nein, liebet einander, das bedeutet soviel wie: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Und der Nächste, das ist jeder, mit dem du in Berührung kommst und der dich nötig hat.
Und jetzt sind wir wieder da, wo wir begonnen haben – ja, aber das können wir doch nicht. Wir können nicht über unsere Gefühle bestimmen, wir können doch nicht jeden beliebigen Menschen lieben.
Und nein, so wie wir gewöhnlich die Liebe auffassen, als das stärkste aller menschlichen Gefühle, dafür aber auch als ein Gefühl, das wir für ganz wenige ausgewählte Personen empfinden, für Menschen, die entweder unser eigenes Fleisch und Blut sind oder die so anziehend auf uns wirken, dass wir es ganz einfach nicht sein lassen können, sie zu lieben – in dem Sinne können wir natürlich nicht jeden beliebigen Mitmenschen lieben.

Aber – und jetzt kommt der Clou – von dieser Art Liebe ist ja gar nicht die Rede, weder hier noch im Evangelium von heute. Die Liebe, die Gott von uns verlangt und von der Jesus spricht, soll sogar unseren Feinden gelten, und das ist eben kein Gefühl.
Es ist vielmehr eine Lebenshaltung, eine Einstellung zur Welt und zu den Menschen, denen wir in unserem Leben begegnen.
Kurz, es ist kein Gefühl, es ist eine Haltung, die sich in der Tat ausdrückt. In konkreter Tat, anstelle von all den schönen Worten, mit denen wir uns so gern schmücken wie mit fremden Federn und die leider nicht immer wörtlich genommen werden können.
Es geht um eine Lebenshaltung, die sich in der konkreten Handlung ausspricht. Dort, wo Menschen unsere Hilfe oder Aufmerksamkeit brauchen, da geben wir ihnen, was sie brauchen, wir wenden ihnen nicht den Rücken zu und denken nicht darüber nach, ob es sich denn auch für uns lohnen kann, Zeit für diese Menschen zu haben.

Aber selbst in diesem Sinne ist die Forderung, einander zu lieben, für die meisten von uns zu groß. Weil wir immer und ewig genug an uns selbst und unserem Eigenen haben.
Da ist Verwandlung nötig, wenn wir mit Jesu Worten vollkommen sein wollen, so wie unser Vater im Himmel vollkommen ist.
Aber das vergessen wir so oft.
Wir definieren oft die Liebe als ein Gefühl oder ein Verhältnis, das auf eine ganz bestimmte Person ausgerichtet ist.
Und genau an diesem Punkt irren wir!
Denn wenn ein Mensch nur einen anderen Menschen liebt und wenn ihm alle anderen gleichgültig sind, dann ist die Liebe keine Liebe mehr, sondern eher eine Form von ausgeweitetem Egoismus.
Und doch glauben die meisten von uns, dass die Liebe auf ihrem Gegenstand beruht und nicht auf der Fähigkeit zu lieben.
Ja, wir glauben obendrein, dass es ein Zeichen der Stärke ist, wenn wir nur „den Geliebten“ lieben.
Aber wenn wir in Wirklichkeit verstünden, dass zu lieben eine aktive Handlung ist, dass es sehr viel mehr um die Fähigkeit zur Liebe geht als darum, den rechten Gegenstand für unsere Liebe zu finden, ja, dann würden wir uns der Forderung Jesu annähern, unseren Nächsten lieben zu können, und – wer weiß? – vielleicht sogar auch unsere Feinde lieben können.

In seinem genialen Buch „Die Kunst des Liebens“ schreibt Erich Fromm, dass die Grundlage aller Liebe die Nächstenliebe ist.
Und damit denke ich, so sagt er, an Verantwortungsgefühl, Fürsorge, Respekt vor und Wissen um einen jeden anderen Menschen und an den Wunsch, ihm im Leben weiterzuhelfen.
„In Nächstenliebe erlebe ich die Vereinigung mit allen Menschen, menschliche Solidarität, menschliche Einheit.
Unterschiede in Talent, Intelligenz und Kenntnissen sind im Vergleich mit dem menschlichen Kern, der allen gemeinsam ist, von geringer Bedeutung. Wenn man diese Einheit erleben will, muss man von der Oberfläche an den Kern vordringen. Wenn ich nur die Oberfläche eines Menschen sehe, sehe ich wesentliche Unterschiede, die trennen. Aber wenn ich zum Kern vordringe, sehe ich die Einheit zwischen uns, die Grundlage unserer Brüderschaft.“
Und er fährt fort und sagt, dass die Liebe zu dem Hilflosen, dem Armen und dem Fremden Ausgangspunkt der Nächstenliebe ist.
Und dann verweist er im Übrigen genau auf die Stelle im AT, die wir heute in der Lesung gehört haben:
„Denn du sollst daran denken, dass du selbst Knecht (d.h. Fremder) in Ägypten gewesen bist. Darum gebiete ich dir, dass du solches tust.“ (5. Mose 24,18)

Wenn man Mitgefühl mit dem Hilflosen hat, ist die Grundlage für die Nächstenliebe gelegt, und in der Liebe zu sich selbst liebt man auch den, der Hilfe braucht, den schwachen unsicheren Mitmenschen.
Denn Mitgefühl enthält Elemente des Mitwissens und der Identifizierung.
Ja, ihr kennt den Fremden, denn ihr wart selbst Fremde in Ägyptens Land. Liebet deshalb den Fremden.

Und er hat ja Recht, der alte Erich Fromm. Wir wissen das doch ganz genau.
Liebe ist eine aktive Handlung, und dort, wo sie sich durchsetzt und zu etwas anderem und mehr wird als zu schönen Worten, dort geschieht eine Verwandlung.
Wir wissen es.
Und H.C. Andersen wusste es, denn als das hässliche Entlein schließlich an den Ort kam, wo jemand hinter alles Äußere sehen wollte und nicht nur ein graues unbeholfenes Entlein sah, da entfaltete es sich und wurde zu dem, was es war – ein schöner Schwan.

Aber nein, das kommt nicht von selbst. Dazu bedarf es des Willens, der Handlung und des Glaubens, der Hoffnung, des Verantwortungsgefühls, der Fürsorge und des Respekts.
All dies gehört zum Wesen der Liebe, sonst wäre es keine Liebe.
Und das ist es, was wir in uns haben sollen.

„Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“
Ja, Gottes Vollkommenheit besteht genau darin, dass er uns alle von ganzem Herzen liebt, Freund und Feind, Gerechte und Ungerechte, Gute und Böse. Und er tut es, weil er uns liebt – nicht auf Grund dessen, was wir sind oder was wir tun.
Er liebt uns, weil wir sind!

Und deshalb glaube ich auch nicht, dass das Evangelium von heute zu hören ist als ein Gericht über uns alle, die wir nicht imstande sind, die unerfüllbare Forderung zu erfüllen, dass wir einander und unsere Feinde lieben sollen.
Denn das Gericht kann nichts anderes tun als uns auf die Erde niederzudrücken und uns machtlos und indifferent zu machen.
Ich höre das Evangelium als einen Appell an den guten Willen, den wir alle haben, einen Appell zur Tat, mitten in der gegebenen Wirklichkeit.
Denn der Geist, der Geist der Liebe, auch Heiliger Geist genannt, setzt sich in Ereignissen durch, in denen die Liebe zur Tat wird.
Gott hat uns mit einem Willen geschaffen, und sein Geist wird in unseren Taten hin und wieder sichtbar. Die Taten, die uns aufrechterhalten und die bewirken, dass es gut und sinnvoll ist zu leben.
Oder mit den Worten Henrik Pontoppidans aus seinen Erinnerungen:
„Ach verdient oder unverdient. Wie schlecht würde es uns Menschen ergehen, wenn wir uns mit dem begnügen müssten, was uns nach strenger Gerechtigkeit zustünde. Alle verlassen wir das Leben als insolvente Schuldner.
Von der Wiege bis ans Grab werden wir von Liebesgaben getragen. Der Mensch, der das nicht erfährt, hat nie gelebt.“
Amen

Pastorin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: +45 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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