Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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3. Sonntag nach Trinitatis, 2. Juli 2006
Predigt zu 1. Johannes 1,5 - 2,6, verfasst von Ulrich Braun
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Von der Abschaffung der Dunkelheit

"Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.

Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat."

Liebe Gemeinde!

Die Vorstellung eines jüngsten Gerichts ist zu Recht in Misskredit geraten. Zu viel Schindluder ist damit getrieben worden. Und zu oft sind dabei Ängste von uns Menschenkindern benutzt worden, die ihre Ursprünge ja nicht nur in der verständlichen Furcht vor Strafe haben, sondern auch und vor allem in dem Wissen um die verschatteten Stellen unserer Lebensgeschichten und damit unserer Seelenlandschaften.

Menschen sind mit diesem Wissen um die eigenen Schattenseiten unterschiedlich umgegangen. Im Mittelalter haben sie sich zu Bildern vom Fegfeuer und überaus unerfreulichen, eben höllischen Strafprozeduren verdichtet. Hieronymus Bosch (1450-1516) hat diesen Höllenfahrten mit Pinsel auf Leinwand den entsprechenden Ausdruck gegeben.

Überhaupt ist nach dem Eindruck vieler Zeitgenossen im Christentum die Furcht vor sicheren Sündenstrafen mehr gepflegt worden als fröhliche Menschenliebe der Kinder des Lichts. Die Häupter, die sich angesichts der nahenden Erlösung erwartungsfroh erhoben haben, sind offenbar flugs wieder eingezogen worden, um sich unendlich kunstvoll in Sündengram zu üben. Selbst die unbestreitbar aufrichtig gepredigte Menschenliebe kommt dann mit einem verkniffenen Zug um den Mund daher. Es ist, wie es scheint, keine leichte Übung, am Ende im jüngsten Gericht nicht doch ganz alt auszusehen.

Aus diesem etwas oberflächlich gezeichneten Bild rührt wohl auch die Auflehnung gegen die Gerichtsvorstellung her, die uns in verschiednen Formen, manchmal auch im Schlager und in der Popmusik begegnet. So singt Gunther Emmerlich, der Dresdner Sänger und Entertainer, quietschvergnügt, dass er am Ende wohl in die Hölle kommen werde. Mit diesem für den mittelalterlichen Menschen unerträglichen Los zeigt sich der Barde indes durchaus einverstanden, wofür er zwei wesentliche Punkte geltend macht: Erstens würde er es wohl verdient haben, da er, wie man heute sagt, nichts ausgelassen habe. Darüber hinaus zeigt er sich zuversichtlich, dass man auch seinen Freunden diese größte anzunehmende Sünde, nämlich etwas ausgelassen zu haben, so nicht wird nachsagen können. Also könne er sich zweitens darauf freuen, selbige am nämlichen Ort, in der Hölle, wieder zu sehen.

Mit der Haltung des "angry young man“ vertritt der nicht mehr ganz so junge, dafür aber überzeugend ärgerliche, Frontmann der Düsseldorfer Punkband die Toten Hosen eine ähnliche These – nur eben, dass er sich nicht so keck mit der Hölle einverstanden zeigt. Dafür lehnt er es ausdrücklich ab, sich um den Einlass in den Himmel bzw. ins Paradies bemühen zu wollen. Er wolle dort nicht rein, lässt er uns wissen, weil ihm auf dem Weg dahin unzumutbare Bedingungen auferlegt würden. Für den problemlosen Zugang zum Paradies werde sich nicht verbiegen. Wenn man ihn dort nicht nähme, wie er eben ist, dann bliebe er eben hier.

Womit wir wieder da wären, wo wir angefangen haben: im Hier und Jetzt und im je eigenen Leben mit den mehr oder weniger schattigen Stellen auf Biographien und Seelenlandschaften. Die Höllenfahrten des Hieronymus Bosch sind längst nicht mehr Bestandteil einer allgegenwärtigen Sündenangst. All das ist lange her und könnte uns ganz egal sein, wären da nicht zwei Dinge, die bedenklich erscheinen. Das erste möchte ich die „Ich-steh-dazu-Kultur“ nennen. Sie repräsentiert eine Haltung, die sich so zusammenfassen lässt: „Der Himmel ist leer, die Hölle gibt es gar nicht, ja, ich lasse nichts aus, ich nehme mir, was ich will, wenn nötig auch mit rabiaten Mitteln, aber: Was wollt ihr denn? Ich steh dazu.“

In einer bestimmten Klasse von Talkshow wird diese Kultur gefeiert: Ja, ich habe meinen Schwiegersohn verführt, lebe auf Kosten anderer und schere mich auch um sonst nichts auf der Welt. Der Soundtrack zu dieser Haltung hieß vor ein paar Jahren: „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“.

Für unseren Zweck erlaube ich mir den Luxus, diese Haltung für ein Oberflächenphänomen zu halten. Es steckt darin so etwas wie das Staunen des Kindes, das für eine bestimmte Handlung plötzlich keine Strafe bekommt. Dabei war sich das Kind gerade noch sicher, dass hier eine Strafe erfolgen müsste. Und nun? Ja sollte etwa lügen, betrügen, stehlen, ehebrechen, verächtlich machen anderer, am Ende sogar Mord straffrei sein?

Manchmal scheint es so. Und wer begründen will, warum es gleichwohl nicht erlaubt und geradezu eines vernünftigen Menschen unwürdig sein soll, der weiß, welch hartes Geschäft solche Begründungsversuche sind. Allerdings ist das Kind, das so fragt, eben auf dem Weg, kein Kind mehr zu sein. Die Frage, warum denn jetzt und hier keine Strafe erfolgt, trägt bereits das Bewusstsein von Gut und Böse in sich. Der Zweifel, ob denn die Handlung am Ende gar nicht strafwürdig sei, währt ja im Grunde nur kurz. Nein, natürlich ist sie es, und natürlich würde ich – hätte ich die Möglichkeit - einen, der so handelt, zur Rechenschaft ziehen.

Die zweite Haltung ist nicht weniger bedenklich im Sinne von bedenkenswert. Sie kennt nämlich das ganze Programm von Sünden- und Strafenangst auch ohne den bevölkerten Himmel und die martialisch ausgerüstete Hölle. Menschen werden davon überfallen, wenn sie Bilanz machen. Wer bin ich? Wer wollte ich sein? Wer bin ich geworden? Was habe ich geschafft? Woran bin ich gescheitert? Welche Menschen und welche Träume habe ich verraten? Habe ich bis hierher das Leben geführt, das ich führen wollte?

Sich diesen Fragen auszusetzen gehört zu den riskantesten Unternehmungen, zu denen ein Mensch fähig ist. Das wussten schon die alten Griechen, denn natürlich war ihnen klar, dass der Rat zum „erkenne dich selbst“ (γνώθι σεαυτόν) erhebliche Risiken auferlegte.

Der Predigttext aus dem Johannesbrief beschildert diese Risiken ausführlich. Man kann auf vielerlei Weise in die Irre gehen. In der Regel, indem man sich selbst etwas vormacht und sich selbst in die Tasche lügt.

Andererseits sprachen wir schon eingangs von den Risiken, die wiederum durch eine so ausführliche Beschilderung der Irrwege entstehen. Die Irrwege treten stärker ins Bewusstsein als der gangbare Weg. Es ist ja alles nicht zu bestreiten, dass man sich nur zu gern Schein- und Trugbildern seiner selbst hingibt. Aber warum nur?

Keiner lebt so ganz freiwillig in einem Lügenbild seiner selbst. Irgend einer Not gehorcht, wer am Selbstbild retuschiert. Meine Vermutung über die Gründe führt mich von einer neuen Seite an das alte Motiv vom Jüngsten Gericht.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich will nicht bestreiten, dass diese Vorstellung zu vielerlei Schändlichem gebraucht worden ist. Die Ängste von Menschenkindern können dazu benutzt werden, sie gefügig zu machen, und zwar für durchaus andere als für göttliche Zwecke. Aber wenn man einmal die Höllenangst des Mittelalters für erledigt halten will, und wenn man zusätzlich optimistisch genug ist, anzunehmen, dass sich heute kaum jemand von dem Herumfuchteln mit Höllenstrafen gefügig machen ließe, dann bleibt trotzdem eine Wirkung des Bildes vom Jüngsten Gericht übrig. Nicht mehr als Ausdruck weltlicher und kirchlicher Machtgefüge, sondern als Spiegel meiner Seele, in der helle und dunkle Landstriche einander abwechseln.

Wie aber kann ich in diesen Spiegel schauen, ohne ein schier untragbares Risiko einzugehen? Doch wohl nur, indem mit vorher gewissermaßen in die Hand versprochen wird, dass ich als Person darin nicht zugrunde gehen soll. Dass das Bild mir nicht nur vor Augen stellt, wer ich bin, sein wollte und tatsächlich geworden bin, sondern auch wie ich gemeint war – und dass ich von dem, als der ich gemeint war, durch meine Lebensgeschichte nicht vollends abgeschnitten bin.

Der Text aus dem Johannesbrief, der an die Lichtworte aus dem Evangelium anknüpft, formuliert einen Plan zu Abschaffung der Dunkelheit. Und dieser Plan lässt mich abschließend noch einmal noch einmal auf das Jüngste Gericht, auf das Himmelreich und auf das Paradies zurückkommen – gerade so, wie man es nennen will. Die Vorstellungen scheinen mir doch nicht gar so abgebraucht und nutzlos, wie sie mir manchmal vorkommen. Nur eben, dass ich sie nicht als reale Welten annehme, sondern als Bilder. Bilder, die meine Seele braucht um sich selbst zu verstehen.

Die Toten Hosen hatten es ja schlicht abgelehnt, Einlass ins Paradies zu verlangen, und zwar in der Annahme, dass sie dort als sie selbst sowieso nicht hineinkommen würden. Die einzige Chance bestünde also darin, als ein anderer, also unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dort hinein zu gelangen. Das aber wäre keine erfreuliche Vorstellung, im Himmelreich, mithin: auf ewig, sich verstellen zu müssen oder aber als unrechtmäßiger Gast erkannt und ausgewiesen zu werden.

Das Kind, das sich wundert, warum es jetzt für eine eindeutig strafwürdige Handlung nicht bestraft wird, kann daraus zwei Schlüsse ziehen. Der eine führt in die kindische Beliebigkeit: Wenn mich keiner zur Rechenschaft zieht und bestraft, dann kann ich machen, was ich will. Das ist die dauerhafte Unmündigkeit, weil sie im Grunde weiter nach Bevormundung verlangt.

Der andere Schluss ist der erste Schritt in die Mündigkeit. Das Gottesgeschenk besteht eben nicht in andauernder Bevormundung, sondern in der Fähigkeit, selbst hell und Dunkel, Gut und Böse zu unterscheiden. Und das Gottesgeschenk besteht darin, auch dann diese Mündigkeit zu erhalten und zu erneuern, wenn wir in die Irre gegangen sind.

Amen

Pastor Ulrich Braun
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Medizin- und Bioethik am Universitätsklinikum Dresden
Ulrich.Braun@uniklinikum-dresden.de


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