1. Sonntag nach Trinitatis, 18. Juni 2006 |
I. Es ist ein scheußliches Gefühl, wenn man Fachleuten nicht mehr trauen kann: Wenn man das Gefühl hat, mir wird nicht die Waschmaschine empfohlen, die ich brauche, sondern diejenige, die gerade auf Lager ist. Wenn man fürchten muss, der Vertreter schwatzt mir eine Versicherung auf, die mir im Ernstfall nichts nützt. Oder gar, wenn man Zweifel an der Kompetenz seines Arztes oder der Glaubwürdigkeit seiner Pastorin hat. Meistens ist solches Misstrauen unberechtigt oder wir wissen uns in solchen Situationen anders zu helfen. Schlimmer ist es, wenn es um entscheidende Weichenstellungen geht im persönlichen oder im gesellschaftlichen Leben; wenn man ratlos den Schlagabtausch von Spezialisten, Funktionären und Politikern verfolgt und sich ihnen ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Am schlimmsten ist es, wenn es bei solchen Fragen um Tod und Leben, gar um die Existenz eines ganzen Volkes geht. Anfang des 6. vorchristlichen Jahrhunderts kontrolliert die Besatzungsmacht Babylon das kleine Judäa und seine Nachbarstaaten. Sie sind dabei, sich gegen die fremden Oberherren zu verbünden, um ihr Joch abzuschütteln. Ein gefährliches Unternehmen. Wer weiß, wohin das führt? Wer weiß, was in dieser Situation das Richtige ist? Das ist damals nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse Frage. Spielt Gott mit? Ist er dafür oder geschieht es gegen seinen Willen? Die Fachleute für diese Frage sind die Propheten, und die sind sich nicht einig. Die meisten von ihnen sind dafür. Sie lassen sich anstecken von der nationalen Begeisterung. Sie reden den Politikern nach dem Mund. – Nur eine Minderheit ist dagegen und warnt dringend vor militärischen Abenteuern. Sie berufen sich auf Gott, auf sein Wort, seine Offenbarung. Aber das tun die anderen auch. Prophet gegen Prophet. – Man könnte mit den Schultern zucken und sagen: Theologen–Gezänk. Aber es hängt zu viel davon ab, im Grunde alles. – Überliefert sind uns vor allem die Stimmen der wenigen, die damals gegen das politische Abenteuer sind. Es sind jene, die sich zurecht auf Gott berufen und im Verlauf der Ereignisse auch Recht bekommen. Aber sie sind weit davon entfernt, darüber zu triumphieren. Angesichts einer nationalen Katastrophe gibt es wenig Grund zum Jubel. Diese Katastrophe hat auch sie selbst nicht verschont. Was uns heute am meisten berührt ist ihre tiefe Verzweiflung: Sie sehen völlig klar, welches Unheil auf ihr Volk zukommt. Sie sind sich sicher, den Willen Gottes zu kennen – aber sie dringen mit ihrer Stimme nicht durch. Sie können die politisch Verantwortlichen und das Volk nicht wirklich erreichen und überzeugen. Es ist besonders der Prophet Jeremia, der händeringend nach eindeutigen Zeichen und Argumenten sucht, mit denen er die falschen Propheten entlarven und damit das Volk zum Umdenken bringen kann. Der Predigttext wird vorgelesen. II. Es tut weh, wenn man dem Propheten so zuhört: Wie er nach eindeutigen Kriterien sucht, um wahr und falsch zu unterscheiden. Wie er sich das Herz aus dem Leibe schreit, um die Menschen doch noch zum Nachdenken zu bringen. Er selber ist völlig durchdrungen von dem Wort Gottes, das ihn getroffen hat – diesem übermächtigen, bedrängenden, lebendigen Wort, das wie ein Feuer ist, wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt (V. 29).
Mit allen diesen Argumenten hat Jeremia vermutlich völlig Recht. Aber wie will er das beweisen? Wie kann er diese schlechten, ja falschen Propheten tatsächlich bloßstellen als Speichellecker und Scharlatane? Kein Prophet im Alten Testament hat so unter diesen berufs–bedingten Anfechtungen gelitten wie Jeremia. Keiner hat die Frage nach der richtigen Verkündigung so klar gestellt, ob sie tatsächlich von Gott autorisiert oder eigenmächtig ist. Eine eindeutige, allgemein–gültige Antwort hat er nicht gefunden. – Die Frage beschäftigt uns Christen bis zum heutigen Tage. Schon im Neuen Testament wird sie in aller Schärfe gestellt. Jesus warnt vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern kommen, aber inwendig reißende Wölfe sind (Mt 7,15). Er warnt vor falschen Aposteln, ja vor falschen Christussen, die sich mit großen Zeichen und Wundern hervortun (Mt 24,24ff). Satan selbst – schreibt Paulus – verstellt sich als Engel des Lichtes (2Kor 11,13ff). In der Reformationszeit stellte sich die bedrängende Frage: Wer beruft sich zurecht auf die Heilige Schrift: Martin Luther oder seine Gegner zur Rechten und zur Linken. Sie alle haben für sich die Wahrheit beansprucht und dem Gegner falsches Spiel vorgeworfen. – Unausweichlich wurde diese Frage im Dritten Reich, als sich sog. Deutsche Christen und Bekennende Kirche gegenüberstehen. Viele sind unsicher oder feige, sie suchen Kompromisse oder folgen blind der Mehrheit. – Diese Frage verfolgt uns bis heute: gleichgültig, ob es um Auslegung der Bibel und Verkündigung im Namen Gottes geht oder um Krieg und Frieden, Ökologie und Ökonomie, um Rassismus, Gentechnologie oder Empfängnisverhütung. – Wer hat da Recht? Und woran kann man das erkennen? Man hat gut reden, wenn man nachher großmäulig feststellt, wer recht und wer unrecht hatte, wer seriös war oder wer nicht. Dann ist das Kind meistens längst in den Brunnen gefallen. – Die Frage ist, wie kann man das vorher feststellen? III. Es steht außer Frage, dass wir in der Kirche Fachleute brauchen, z.B. solche, die die Bibel sachgemäß auslegen und Fragen des Glaubens kundig beantworten können. Wir brauchen die christlichen Praktiker, die aus langer geistlicher Erfahrung eine Antenne dafür entwickelt haben, was anliegt und was Sache ist. Wir brauchen Autoritäten und gute Kirchenleitungen, die sagen, wo’s lang geht – aber bitte nicht eigenmächtig, sondern zusammen mit anderen berufenen Christen und Christinnen. Das ist das eine. Das andere ist, dass wir diese Aufgaben nie einfach an andere delegieren können und dann blind folgen. So schnell kommen wir nicht aus der Verantwortung. Vor 14 Tagen haben wir es erneut gehört, wie der pfingstliche Geist damals in Jerusalem auf alle gegossen wurde – und nicht nur auf die wenigen erwählten Priester und Propheten, wie es das Alte Testament berichtet. Denn vor Gott sind alle gleich. Es gibt bei ihm keinen höheren oder niederen Rang, nur unterschiedliche Aufgaben. Deshalb sind auch alle von Gott in gleicher Weise gefordert. Nicht umsonst hat die Reformation das Priestertum aller Glaubenden und Getauften wieder in Erinnerung gebracht. Jeder hat Zugang zum Evangelium und jeder ist verantwortlich für den eigenen Glauben, aber auch für den der Brüder und Schwestern, ja der ganzen Gemeinde. Niemand kann sich hinter irgend welchen Autoritäten verstecken, jeder steht für sich selbst gerade. Der kleine Mönch Luther hat es demonstriert, als er 1521 in Worms vor Kaiser, Fürsten und vor den Abgesandten des Papstes allein stand und sagte: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Ich bin an mein Gewissen vor Gott gebunden. Das kann mir niemand auf der Welt abnehmen. Niemand kann uns – dem einzelnen Christen und der hörenden Gemeinde – die Verantwortung dafür abnehmen, dass wir uns ein eigenes Bild machen von dem, was wahr und dem was falsch ist; was wichtig und was nebensächlich; was Gott heute von uns will und was nicht. Das Neue Testament ermahnt uns eindringlich, kritisch die Geister zu unterscheiden: Ob sie von Gott sind oder nicht (1Kor12,10; 1Joh 4,1). IV. Wie machen wir das?
Letzten Endes reicht es aber nicht, wenn wir uns eine unabhängige Meinung bilden und mit denen mitfühlen, denen Unrecht geschieht. Wir kommen nicht darum herum, persönlich Stellung zu beziehen und Farbe zu bekennen – auch wenn der Preis dafür ist, dass wir uns den Mund verbrennen und die Finger schmutzig machen. Ich glaube, dass wird von Christen und Christinnen erwartet, und damit sind sie noch lange keine Märtyrer. V. Der Prophet Jeremia hat das getan. Theoretisch, theologisch konnte er die Frage nicht befriedigend beantworten – die Frage, woran kann man von außen erkennen, ob sich jemand mit seinem Reden und Handeln zu Recht auf Gott berufen kann oder nicht. Er – und mit ihm andere Propheten wie Jesaja oder Hesekiel – sind für ihre Überzeugung mit Leib und Leben eingetreten. Zahllose Christen haben es ihnen nachgetan – auch im Dritten Reich. Ihr persönlicher, oft hoch riskanter Einsatz ist für sie zur Stunde der Wahrheit geworden. Wahrheit im doppelten Sinn: Sie haben erfahren, dass es weh tun kann, wenn man seinem Gewissen folgt und auf allgemeine Missbilligung und Ablehnung, ja auf Widerstand und Gewalt stößt. Sie haben aber in der Stunde der Wahrheit auch erfahren, dass Gott ihnen in unerwarteter Weise nahe war, gerade in der Gefahr. Gott lässt die Seinen nicht im Stich, auch wenn er ihnen anders hilft, als sie es hoffen oder als sie es sich im voraus vorstellen können. Christliche Märtyrer aus Korea haben es so bezeugt: Als sie uns festnahmen, fühlten wir uns wie verängstigte Mäuse; im Gefängnis wurden wir zu mutigen Löwen. So erging es auch der 21jährigen Sophie Scholl. Zusammen mit anderen Studenten hat sie 1943 in der Münchner Universität Flugblätter gegen die Nazis verteilt. Sie wurden verhaftet und zum Tode verurteilt. Auf der Anklagebank hat sie ihrem Richter Roland Freisler die prophetischen Worte entgegen gehalten: „Bald werden sie dort stehen, wo wir jetzt stehen.“ Wilhelm v. der Recke
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