Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

Pfingstsonntag, 4. Juni 2006
Predigt zu 1. Korinther 2, 12-16, verfasst von Rainer Stahl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Schwestern und Brüder,

„Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen! Es grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
Jede Wiese sprosste von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.“
– So feiert Goethe in seinem „Reineke Fuchs“ das Pfingstfest.
Erholung, Ausflug, Feiern – das sind die Erwartungen und Hoffnungen, die wir mit Pfingsten verbinden. Eine weitere Gelegenheit von – hoffentlich! – gelingender Freizeit, von Gemeinschaft in der Familie, von Erlebnissen mit Freunden.

An zwei ganz verschiedene Traditionen darf ich erinnern, die aber doch jede für sich auch auf dieser Linie lagen:

Zuerst sei bewusst gemacht: In langen Jahren der DDR-Zeit war der Ostermontag abgeschafft, denn den Karfreitag hatten die Kirchen als Feiertag verteidigen können. Auch am Pfingstmontag wurde – wenn ich mich recht erinnere – immer wieder „gedreht“. Die Abschaffung gelang aber letztlich nicht, weil zu Pfingsten zwei Interessen aufeinander stießen – und sich gegenseitig stützten –, eben die beiden schon angetippten Traditionen:

Die Pfingsttreffen der Jugend und Studenten, die der Staat, die die FDJ (die „Freie Deutsche Jugend“) und die Pionierorganisation durchführten, und
die Jugendtage der Kirche, die Treffen der „Jungen Gemeinden“, die „Landesjugendsonntage“, die Ausflüge der Konfirmandengruppen oder der Gruppen der Studentengemeinden.

In beiden Fällen war organisatorische Leistung gefordert.
In beiden Fällen mussten sich die Teilnehmenden entsprechend der Regeln des Gruppenlebens verhalten.
In beiden Fällen war finanzieller und – heute würden wir sagen – „ehrenamtlicher“ Einsatz nötig.
In beiden Fällen wurden Ausgelassenheit und Lebensfreude gelebt.
In beiden Fällen wurde Glück erfahren.
Das eine nur trist zu malen und das andere nur idyllisch, würde verfälschen.
Doch aber gab es grundlegende Unterschiede, vor allem Unterschiede dahingehend, welcher „Geist“ jeweils „herrschte“.

Vielleicht sind beide Möglichkeiten auch für diejenigen, die sie nie erfahren haben, nachzuempfinden. Denn vielleicht wurde Ähnliches unter anderen Namen erlebt – beim CVJM z.B. oder für die ganz Alten im Gegensatz dazu bei der „HJ“. So können Sie beide Beispiele als Bilder für die Gegensätze verstehen, die Paulus anspricht, für die Gegensätze, die doch auch unsere Lebenswirklichkeit bestimmen.

Denn zum diesjährigen Pfingstfest ist uns nicht einfach die Feier der Gabe des Geistes Gottes aufgetragen, nicht einfach das Fest des Heiligen Geistes.
Zum diesjährigen Pfingstfest ist uns aufgetragen durchzubuchstabieren,
was es heißt, vom Geist geprägt zu sein,
was es heißt, mit der Gabe des Geistes Gottes zu leben,
was es heißt, den Alltag mit den „Augen“ des Heiligen Geistes wahrzunehmen
und im Alltag von den „Maßstäben“ des Heiligen Geistes her zu entscheiden und zu handeln.

Zwei Linien stellt Paulus nebeneinander, ja: gegeneinander – ähnlich der Linie der Jugendsonntage der Kirche gegenüber der Linie der Jugendfestspiele der Partei der Arbeiterklasse:

Der Geist der Welt,
die gelehrten Worte der üblichen Menschenweisheit,
die normalen Geistgaben, durch die nicht aufzunehmen ist, was Gottes Geist zu sagen hat,
gegen
den Heiligen Geist von Gott,
die Art, wie der Heilige Geist lehrt,
die Fähigkeit, belehrt vom Heiligen Geist, alles zu verstehen.

An diese beiden Wege richte ich die Fragen:
Wie finden wir den zweiten Weg?
Wir gelingt es, den ersten Weg zu vermeiden?
– Wo wir doch gerade im Alltag dauernd im Sinne des ersten Weges funktionieren müssen! Gar nicht anders können, als auf ihm zu gehen!

Und da entdecke ich ganz am Ende unseres Briefabschnittes eine Antwort:
„Wir aber haben Christi Sinn.“

Das ist die Fähigkeit, auf die es ankommt,
die Dimension, für die wir offen sein sollten,
die Bereitschaft, der wir uns verpflichten sollten.

Nicht großartige Begeisterung,
nicht dauerndes High-Sein,
nicht Hingerissen-Sein, das uns selbst wie ergriffen vorkommen lässt
– das alles manchmal vielleicht auch, aber im Alltag nicht ständig! –,
sondern ganz nüchtern die Offenheit
für Christi „Νους“,
für Christi Verstand,
für Christi Durchblick,
für Christi Erkenntnisfähigkeit!

Denken wir an die vielen Geschichten im Neuen Testament, die uns Jesus Christus als einen zeigen, der die Fassade durchschaut hat, der durch die Oberfläche hindurchsehen konnte, der die innersten Beweggründe und Triebkräfte wahrnahm, die Menschen bestimmten:

Einer fragt nach den Regeln und nach der Kraft des Glaubens. Christus aber zwingt ihn, seine – eventuell täuschende – Fassade scheinbarer Gelehrsamkeit abzulegen, indem er mit der Gegenfrage, mit der Wissensfrage antwortet: „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“ (Lk 10,26). Aber dabei herausfordert zu benennen, worauf der Frager wirklich vertraut.

Die Verheißung solcher Fähigkeit ist die Botschaft des diesjährigen Pfingstfestes:
Beschenkt vom Geist Gottes können wir die Hoffnung haben,
in mancher Situation – immer wieder einmal – den Sinn Christi als eigene Möglichkeit zu erleben,
den Durchblick Christi,
den Verstand Christi zu „besitzen“ – ja: zu „besitzen“.

Die beiden gegensätzlichen Reihen des Paulus lehren uns, dass wir diese Fähigkeit geschenkt bekommen können,
wenn wir uns nicht auf die normalen Geistgaben, die uns nicht zu Gottes Geist führen werden,
wenn wir uns nicht an die gelehrten Worte der üblichen Menschenweisheit halten,
wenn wir nicht dem Geist der Welt folgen
sondern
wenn wir uns dem Heiligen Geist von Gott öffnen.

Wir alle kennen das mit Blick auf andere Menschen: Wie lange oft lassen wir uns von ihnen täuschen, von ihren falschen Fassaden, von ihrem Auftreten, von ihrem materiellen Reichtum, von ihrem äußerlichen Erfolg. Den Durchblick vom Geist Gottes her erlangen wir oft ganz plötzlich, wenn wir die andere Person in ihrer inneren Unruhe, in ihren Ängsten, in ihrer Not wahrnehmen.

Und wenn uns der Heilige Geist von Gott her solcherart die Augen öffnet, dann werden wir nicht siegesbewusst und überlegen werden sondern die Hilfsnotwendigkeit der anderen Person wahrnehmen und ihr unsere Zuwendung und Unterstützung nicht verweigern. Dann wird Pfingsten werden – für uns beide. In diesem Sinne sollten wir singen:

„Du bist ein Geist der Liebe,
ein Freund der Freundlichkeit,
willst nicht, dass uns betrübe
Zorn, Zank, Haß, Neid und Streit.
Der Feindschaft bist du feind,
willst, dass durch Liebesflammen
sich wieder tun zusammen,
die voller Zwietracht seind.

Du, Herr, hast selbst in Händen
die ganze weite Welt,
kannst Menschenherzen wenden,
wie dir es wohlgefällt;
so gib doch deine Gnad
zu Fried und Liebesbanden,
verknüpf in allen Landen,
was sich getrennet hat.

Erhebe dich und steu’re
dem Herzleid auf der Erd,
bring wieder und erneu’re
die Wohlfahrt deiner Herd.
Laß blühen wie zuvor
die Länder, so verheeret,
die Kirchen, so zerstöret
durch Krieg und Feuerszorn.

Beschirm die Obrigkeiten,
richt auf des Rechtes Thron,
steh treulich uns zur Seiten;
schmück wie mit einer Kron
die Alten mit Verstand,
mit Frömmigkeit die Jugend,
mit Gottesfurcht und Tugend
das Volk im ganzen Land“ (Paul Gerhardt, 1653, EG 133,7-10).

Das wünsche ich mir zum diesjährigen Pfingstfest.
Das wünsche ich Ihnen zum diesjährigen Pfingstfest.
Amen.

Pfarrer Dr. Rainer Stahl
Erlangen, Martin-Luther-Bund
rs@martin-luther-bund.de


(zurück zum Seitenanfang)