Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Kantate, 14. Mai 2006
Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34, verfasst von Hans-Hermann Jantzen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde:

Kantate – Singet! Jahr für Jahr zeigt sich die Kirche an diesem Sonntag von einer ihrer besten Seiten. Die Orgel zieht alle Register. Die Gemeinde singt fröhliche alte und neue Lieder. Und die Chöre wetteifern geradezu, die Gottesdienste festlich zu gestalten. Ja, die Kirchenmusik ist ein Markenzeichen der Kirche, zumal der evangelischen. Damit können wir uns wahrhaftig hören und sehen lassen!

Kantate – gesungenes und gespieltes Gotteslob: ist das nur etwas für Sonntage? Für die Sonnentage des Lebens? Oder trägt das auch im Alltag? „Singen und spielen wir dem Herrn in unserm Herzen“ (Eph. 5, 19) nur, wenn es uns gut geht? Wenn uns das Herz voll ist mit Freude und Dank und uns deswegen der Mund übergeht? Oder bringen wir auch mit einem Kloß im Hals und mit tränenerstickter Stimme ein Loblied über die Lippen?

Der Predigttext für heute erzählt von einer Situation, in der einem normalerweise nicht nach Singen zumute ist und jedes Gotteslob im Halse stecken bleibt. Der Apostel Paulus und sein Mitarbeiter Silas sitzen in Philippi im Gefängnis. Man hatte sie von der Straße weg verhaftet, angeblich wegen Aufruhrs, also Störung der öffentlichen Ordnung. Sie hatten eine Sklavin von einem lästigen wahrsagerischen Geist befreit. Ihre Besitzer fühlten sich um ihren finanziellen Gewinn gebracht und schleppten Paulus und Silas vor den Richter. Der ließ sie ohne Umschweife auspeitschen und ins Gefängnis werfen. Es war eben schon immer gefährlich, Mammon, den Gott Nummer eins, in Frage zu stellen.

Hören Sie den heutigen Predigtabschnitt aus Apg. 16:
23 Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen.
24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.
25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.
26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab.
27 Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.
28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!
29 Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.
30 Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?
31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!
32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.
33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen
34 und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.

Da sitzen sie also, die beiden Missionare, im Innersten des Gefängnisses, sozusagen im Hochsicherheitstrakt, der Rücken zerschunden, die Füße zu allem Überfluss in den Block gespannt. An ein Entkommen ist nicht zu denken. Wieviel Angst der Mächtigen vor der Sprengkraft des Evangeliums spricht schon allein aus den Haftbedingungen! Die Mission auf europäischem Boden, die gerade mit der Bekehrung und Taufe der Purpurhändlerin Lydia eine erste zarte Pflanze hervorgebracht hatte, scheint zu Ende, bevor sie richtig angefangen hat. „Mission impossible“.

Manche Ausleger streiten darüber, worin das eigentliche Wunder der Erzählung besteht: in dem Erdbeben, das die Gefängnistüren aufspringen lässt und die Ketten sprengt, – ein Motiv, das wir auch aus anderen antiken Wundergeschichten kennen - oder darin, dass die Gefangenen nicht weglaufen, oder in der Bekehrung des Gefängnisaufsehers.

Ich möchte unser Augenmerk auf die Situation davor lenken, vor dieser Aneinanderreihung wunderbarer Ereignisse. Für mich liegt das größte Wunder, das alles Nachfolgende überhaupt erst möglich macht, darin, dass Paulus und Silas anfangen zu singen! Ein Loblied im Knast, um Mitternacht, zur dunkelsten Stunde; ein gesungenes Gebet auf dem Tiefpunkt, in Todesangst: so bricht sich das Evangelium vom auferstandenen Christus Bahn und entfaltet seine befreiende Kraft, wo niemand mehr damit rechnet.

Was treibt Paulus und Silas dazu, in dieser Situation das Gotteslob anzustimmen? Zunächst einmal die Tradition, in der sie aufgewachsen sind: die jüdische Gebetssitte. Sie halten daran fest, was sie von Kind auf gelernt haben. Mitternacht ist Gebetszeit. Betend singen sie Hymnen oder Psalmen, greifen auf geprägte Texte und Melodien zurück und lassen sich davon tragen.

Gott auch in der Tiefe loben: vielleicht kann man das nur, wenn man so in einer Tradition verankert ist, dass man sie auch in sinnlos erscheinenden Situationen gewissermaßen „abrufen“ kann. An manchem Krankenbett habe ich erlebt, wie der Schwerkranke oder Sterbende, der sonst kaum ein Wort gesagt hat, plötzlich mit einstimmt in den Choral „Lobe den Herren“ oder in den 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Von solchem Gotteslob geht spürbar Trost und Halt aus. Manchmal wird mir angst und bange, wenn ich an die nachfolgenden Generationen denke: Worauf werden sie zurückgreifen können, wenn ihre Stunde gekommen ist oder wenn sie nicht mehr ein und aus wissen? Es lohnt sich, sich wenigstens einen kleinen Vorrat an Gebetstradition anzulegen, der uns dann, wenn es drauf ankommt, zur Verfügung steht.

„Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott.“ Das Gotteslob ist zweckfrei. Darin unterscheidet es sich von der Bitte und Fürbitte, auch vom Dank und von der Klage. Paulus und Silas bezwecken nichts mit ihrem gesungenen Gebet. Sie beten nicht um offene Gefängnistüren, nicht um Freiheit, nicht um ein Wunder. Sie loben Gott. Im Gotteslob erkennen wir Gott an als den, der er ist: als Herrn der Welt; als Herrn über Leben und Tod.

Und gerade so, in dieser Zweckfreiheit, entfaltet das Gotteslob seine ganze Kraft! Wo das Lob Gottes erklingt, setzt sich die Leben schaffende Macht Gottes durch. Auferstehungsmacht. Es ist eine befreiende Kraft. Eine das Leben verändernde Kraft. Eine Gemeinschaft stiftende, Gemeinde bildende Kraft. Alle drei Aspekte finde ich in unserer Predigtgeschichte wieder:

1. Die befreiende Kraft: „Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben...“ Grundfesten geraten ins Wanken. Verschlossene Türen springen auf. Fesseln fallen ab. Das Gotteslob hat nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine kosmische Dimension. Der Gott des Himmels und der Erde kann scheinbar Unerschütterliches erschüttern und gänzlich neue Lebensmöglichkeiten auftun.

Bei uns wird niemand um seines Glaubens willen verfolgt und eingesperrt. Das ist anderswo durchaus anders, z.B. in China, in Afghanistan, in Uganda. Auch dort loben und preisen die Menschen Gott. In vielen Gefängnissen erklingt das Gotteslob, und das nicht nur mit ironischem Unterton, wie im „Hauptmann von Köpenick“, wo die Gefangenengemeinde singt: „Bis hierher hat mich Gott gebracht“, sondern aus tiefstem Herzen. Und trotzdem springen nicht gleich überall die Gefängnistüren auf. Aber dass sich Türen in die Freiheit auftun, erleben wir auch heute: z. B. für die beiden Leipziger René Bräunlich und Thomas Nitzschke, die wochenlang im Irak als Geiseln festgehalten waren. Ich bin sicher, dass die Kerzen in der Nicolaikirche und die vielen Gebete anderer Menschen ihren Anteil an der Befreiung haben.

Wieviel mehr gilt das für andere Mauern oder Fesseln, die uns einengen! Ich denke ich an die Fesseln des knappen Geldes, die unser gegenwärtiges Denken und unsere Entscheidungen in der Kirche manchmal so sehr gefangen nehmen, dass wir wir uns gar keine lebendige Kirche der Zukunft mehr vorstellen können. Lassen wir uns doch mit Paulus und Silas von der befreienden Kraft des Gotteslobs anstecken! Es werden sich ungeahnte Türen auftun, und wir werden erleben, dass Neues aufbricht und wächst. Mission possible!

2. Die lebensverändernde Kraft: Einer, der in seinen Grundfesten erschüttert wird, ist der Gefängnisaufseher. Als er aus dem Schlaf aufschreckt und sieht, was passiert ist, will er sich umbringen. Sein fest gefügtes Weltbild von Macht und Strafe lässt ihm keinen andern Ausweg. Das ändert sich erst, als er merkt: die Gefangenen sind noch da! Das Gotteslob hat ihnen offenbar auch die Kraft zur Solidarität gegeben, die Kraft auszuhalten und dazubleiben. Zitternd lässt er sich ein Licht reichen und wirft sich den merkwürdigen Gefangenen zu Füßen: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“

Sehr fein hat Lukas die Alternative Schwert oder Licht gezeichnet. Ohne die Beziehung zu Gott bleibt unser Leben oft ausweglos und dem Tod verfallen. Angerührt vom Gotteslob kann selbst mitten im Dunkel ein orientierendes Licht aufscheinen. Wo uns das Gotteslob erschüttert, zerbrechen wir nicht, sondern können die heilsame Frage stellen: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“

Es gibt bewegende Lebenszeugnisse von Menschen, die durch das Gotteslob anderer aus dem Gefängnis ihrer Sucht, aus einem durch Gewalt und Kriminalität verkorksten Leben frei gekommen sind. Die zitternd angefangen haben, über ihr altes Leben nachzudenken, und sich den Weg in ein neues Leben haben zeigen lassen, bis sie selber mit einstimmen konnten in das Lob Gottes, der bis heute Menschenleben verändern und erneuern kann.

3. Die gemeindebildende Kraft: die Fortsetzung der Geschichte ist frühchristliche Mission von ihrer besten Seite, sozusagen Missionsgeschichte „at it’s best“. Der Gefängnisaufseher nimmt Paulus und Silas mit nach Hause und versorgt ihre Wunden. Es folgt der wohl kürzeste Taufunterricht, den ich kenne: „Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.“ Wo das Gotteslob auf fruchtbaren Boden trifft, kann es erfreulich unkompliziert zugehen. „Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen.“ An andern Stellen heißt es: „mit seinem ganzen Hause“. Vermutlich war das der Beginn der Kindertaufe. Die Familie als Keimzelle der Gemeinde.

Zur Zeit ist das Bündnis für Erziehung in aller Munde. Familienministerin von der Leyen hat es medienwirksam ins Leben gerufen, zunächst nur in Kooperation mit den beiden großen christlichen Kirchen. Das hat ihr heftige Kritik eingebracht. Ich finde es bedauerlich, dass eine gute Sache so gleich wieder zerredet wird. Die Offenheit für alle, die mitmachen wollen, ist ja gegeben. Aber wir brauchen doch nicht zu verleugnen, dass die beiden Kirchen, zu denen immer noch rund drei Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung gehören, mit rund 20.000 Kindertagesstätten die bei weitem größten freien Träger sind! Es muss doch in unserm Interesse sein, biblisch-christlich geprägte Werte wie Gottes- und Nächstenliebe, Menschenwürde und Achtung vor dem Leben oder Freiheit und Verantwortung in der Erziehung der Kinder stärker zur Geltung zu bringen! Es wäre viel gewonnen, wenn es von unseren Familien wieder hieße: „Und sie freuten sich mit ihrem ganzen Hause, dass sie zum Glauben an Gott gekommen waren!“ -

Kantate: die Gemeinde Gottes singt. Sie singt das Lob dessen, der Jesus Christus aus dem Tode in ein neues, verwandeltes Leben gerufen hat und der uns allen Leben solches Leben verheißt. Das Gotteslob hilft uns, unsere Freude und unseren Dank zum Ausdruck zu bringen, und es trägt uns durch dunkle Tage. Wir wollen uns gegenseitig ermutigen, in dieses Lob einzustimmen. Und wir werden erleben, wie Mauern wanken und Fesseln abfallen und sich neue Türen ins Leben auftun. Amen.

Hans-Hermann Jantzen
Landessuperintendent im Sprengel Lüneburg
Hasenburger Weg 67, 21335 Lüneburg
Tel. 04131-401025; Fax 04131-405332
Email: hans-hermann.jantzen@evlka.de


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