Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Jubilate, 7. Mai 2006
Predigt zu Johannes 14, 1-11, verfasst von Anders Gadegaard (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Es ist die Stunde des Abschieds. Etwas vom Schwersten im Leben: unwiderrruflich Abschied nehmen. Man empfindet es, wie wenn das Schwert, das die Bande, die uns zusammenhalten, zerschneidet, auch die Seele durchbohrt, wenn man gegen seine Willen und seine Lust zum Abschied gezwungen wird. Sitzt man zum letzten Mal zusammen, dann sehen wir alle kostbaren Augenblicke, die wir gemeinsam erlebt haben, noch einmal vor uns. Und sie vermischen sich mit der Angst vor dem unbekannten neuen Leben in der Zukunft auf eigene Hand.

Aber Abschied ist nicht nur traurig. Abschied zwischen Menschen ist eine notwendige Sache. Er kann auch als hart und unbarmherzig empfunden werden, während er stattfindet, und er kann einem auch Angst vor der Zukunft machen, aber der Sinn des Abschieds ist doch, dass er nötig ist, damit neues und mehr Leben entstehen kann. Ein gutes Beispiel ist hier der notwendige Abschied zwischen Eltern und Kindern. Er ist ein für viele abschreckender Wendepunkt, aber doch ganz und gar notwendig. Beide Partner fürchten sich ein wenig vor der Zukunft. Jetzt haben die Eltern nicht mehr die sinnvolle Aufgabe, ihr Kind zu erziehen und zu beschützen. Jetzt können sie nichts mehr machen, jetzt muss sich zeigen, ob die Flügel tragen können. – Und das Kind, der junge Mensch, hat nicht mehr einfach seine Eltern, an die er sich wenden kann. Jetzt ist man grundlegend auf sich gestellt. – Manche Eltern können diesen notwendigen Abschied nicht über sich bringen. Aus Furcht vor dem Alleinsein – oder aus Besorgnis, wie es dem Kind ergehen wird, – halten sie ihr Kind so lange wie möglich zurück. Und Letzteres kann schlimmer sein als das Erste. Der Abschied muss geschehen. Er ist für beide Seiten notwendig – auch für ihr gegenseitiges Verhältnis. Denn das Kind hat erst als erwachsener Mensch, was es selbständig seinen Eltern zurückgeben kann, wenn es einige Jahre lang die Möglichkeit gehabt hat, selbst für sein Leben verantwortlich zu sein. Die Dankbarkeit für das, was die Eltern gegeben haben, kann erst wirken, wenn man erlebt und erfahren hat, was man von zu Hause mitbekommen hat. Entdeckt man es – und entdeckt man, dass es hält! – dann ist es ein Glück für Eltern und Kind – ein Glück gerade wegen des Abschieds.

Genau dies ist die Situation während des großen Osterabendessens, das Jesus mit seinen Jüngern in Jerusalem einnimmt. Nach Johannes hält Jesus hier eine lange Abschiedsrede mit genau diesem Thema: Der Abschied ist notwendig. Euer Herz erschrecke nicht! Die Jünger sollen keine Angst vor dem haben, was die Zukunft bringt, obwohl Jesus nun fortgeht, zum Vater geht und sie sich selbst überlässt. Das verstehen sie vielleicht jetzt noch nicht, aber es ist notwendig, dass er sie verlässt. Er sagt es auf diese Weise: er gehe fort, um ihnen Platz zu schaffen – Platz bei Gott. Bei Gott gibt es nämlich viele Wohnungen. Würde er bleiben, würde er sie als ihr Herr und Lehrer daran hindern, selbständig zu leben – und sie würden einfach nur so weitermachen wie bisher, d.h. ihm folgen und handeln wie er. Genau wie die Eltern, die ihre Kinder nicht loslassen können, sie dadurch in ihrer eigenen Entwicklung hemmen. Oder wenn ein eindeutiges Gesetz ganz genau diktiert, was jeweils das Richtige ist. Dann wäre die Autorität in dieser Form hier geblieben. Das will Jesus gerade nicht. Er war kein neues Gesetz. Er war das Ende des Gesetzes! Er wollte das ganze Leben des freien Menschen. Deshalb ging er fort.

Er hinterließ die Jünger jedoch nicht mit leeren Händen. Sondern er hinterließ etwas anderes als einen Diktator oder ein Diktat. Er hinterließ ihnen etwas, was unendlich viel mehr Macht hat – Macht in seiner Ohnmacht: er hinterließ ihnen eine Vision. Eine Vision, in die man eintreten kann oder auch nicht. Tritt man aber in sie ein, wird man befreit und wächst man. Diese Version bekam hier in der Rede die Überschrift: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.

Die Jünger kannten sie sehr wohl im Voraus. Denn sie waren ihm ja auf dem ganzen Weg nachgefolgt. Es war ihnen bloß nicht bewusst, dass alles, woran sie in den vergangenen drei Jahren Teil gehabt hatten, der Weg selbst, die Wahrheit selbst, das Leben selbst war. Thomas enthüllt es, wenn er fragt: „Herr, wie können wir den Weg wissen?“ Thomas bittet um Rat. Er möchte gern klare Anordnungen haben, wie man nun sein Leben leben soll, alleingelassen vom Meister. Aber Jesus antwortet Thomas nicht mit einer konkreten Anweisung, wie man nun sein Leben leben soll. Dann wäre Jesus ja bloß ein neuer Lehrer gewesen, der seine Forderungen auf Gehorsam bestimmten Regeln und Geboten gegenüberstellte.

Stattdessen sagt er: Ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, ich bin das Leben. Er, ihr Freund und Führer aus dem armen und unansehnlichen Galiläa, er sagt von sich selbst, dass er nichts weniger ist als die Wahrheit selbst. Der unnennbare Gott, Anfang und Ende aller Dinge, zur Welt gekommen als ein lebendiger Mensch von Fleisch und Blut. „Ich bin“ – Gott ohne Namen, aber von dem man nur sagen kann, dass Er IST – sich gezeigt hat – nicht nur in einem brennenden Dornenbusch, sondern leibhaftig. Er hat den Weg und die Wahrheit gezeigt, er hat jedem, der daran glaubt, gezeigt, was das Leben in Wahrheit ist. – Indem die Jünger hier mit Jesus zusammensitzen und dies hören, sind sie auf dem Wege, in der Wahrheit, mitten im Leben. Die Bewegung, die sie hiernach vornehmen sollen – und die wir alle ausführen sollen: hinaus ins Leben, auf den Weg – sie ist in diesem einzigartigen Augenblick vollzogen, da sie gemeinsam zu Tisch sitzen und eins sind im Augenblick der Liebe, der Hingebung.

Hiernach aber geht der Weg weiter – man ist allein und auf sich gestellt. Es wurde bald Nacht in Gethsemane und Morgen im Hof des Statthalters. Mit Gefangennahme, Streit, Abfall, Verleugnung und Verrat. Die Jünger waren ratlos und hatten Angst, verloren den Mut. – Und dennoch zeigt sich, dass sie nicht allein auf dem Weg waren. Nach der Hinrichtung und Grablegung und, da alles ungewiss war, erschien er ihnen, kam zu ihnen durch geschossene Türen. Die Gemeinschaft mit dem lebendigen „Ich bin“ hörte mit dem Abschied und dem Tod nicht auf. Sie waren zu etwas Neuem geworden kraft des Verhältnisses, in das sie zu ihm gestellt waren, „dem Weg, der Wahrheit und dem Leben“.

Was wir sind, sind wir im Verhältnis zu anderen. Niemand, absolut niemand von uns ist etwas von sich aus oder für sich. Wir sind immer im Verhältnis zu anderen. Ist man tüchtig, ist man faul, ist man reich oder arm – es ist immer an anderen gemessen. Ist man liebevoll, treu, hilfreich oder hasserfüllt, misstrauisch – so ist man es anderen gegenüber. Unsere Identität bekommen wir durch die Verhältnisse, in die wir gestellt sind. Auch Jesus erhielt seine Identität von seinem Verhältnis zu anderen – in erster Linie vom Verhältnis zu seinem Vater. Er ist im Vater und der Vater ist in ihm. Und jetzt geht er fort, um in diesem Verhältnis Platz zu schaffen für alle, für uns alle. So, dass wir immer darauf vertrauen können, dass wir unsere Identität geschenkt bekommen in Freiheit von dem Verhältnis, in das wir zu Gott gestellt sind – von Gott selbst. Wir haben es mit uns, wir haben es im Rücken. Deshalb halten wir so gern Kindertaufe: Weil es hier so deutlich ist, wie man es sich nur denken kann, dass wir, indem wir ins Leben eintreten, indem unser Weg beginnt, das Gottesverhältnis mit uns haben, von Gott selbst gegeben. „Wir sind Christus eingepflanzt“ – wie er es im Vater war, sind wir es in ihm. Das ist die Mystik des christlichen Glaubens. Er in Gott und wir in ihm. Und wie wir in Christus sind kraft seiner Liebe zu uns, so sollen wir ineinander sein kraft unserer gegenseitigen Liebe.

Christus ging fort, nahm Abschied von dieser Welt und ließ uns allein zurück. Und wir müssen auf eigene Faust weitergehen. Wir wenn wir nach der Begegnung mit Christus von hier (aus der Kirche) weggehen, liegt alles wieder an uns selbst. – Und doch haben wir Geleit. Er folgt uns in neuer Gestalt: Als Geist, als Tröster, als Ratgeber, den wir nicht hören können, an den wir nur mit dem Herzen glauben können. Bleibt in meiner Liebe, dann bleibe ich auch in euch, sagt er wenig später in seiner Abschiedsrede. Das ist der Weg. Unser Weg ist wie en Labyrinth, meinen wir oft. Eine Unzahl von Wahlmöglichkeiten, wenn wir unseren Weg wählen sollen. Aber wählen wir mutig und sorgfältig mit Christus als dem Weg, der Wahrheit und dem Leben im Vertrauen darauf, dass er selbst uns nahe ist, um uns Rat zu geben – dann werden wir entdecken, dass wir richtig gewählt haben. Auch wenn wir später bereuten oder einen anderen Weg gewollt hätten. Sieh nur zurück, und du wirst sehen, dass deine Wahl nicht anders hätte sein können. Alles sieht dann aus wie ein Weg, wenn er gegangen ist. So sieht mein Leben im Licht der Rückschau aus. Das ist Gnade. Das Leben ist gleich einem Labyrinth: Viele Wege, angenehme und unangenehme schlingen sich ineinander, viele schwere Wahlsituationen, aber: Immer ist eine Wohnung bereit für dich im Zentrum, bei Gott. Er ist dir vorangegangen und hat sie dir bereitet. Gebrauche du deshalb nur deine ganze Kraft auf dem Weg.

Das ist das Versprechen, das Jesus seinen Jüngern gibt – und uns mit ihnen – in dieser Stunde des Abschieds. Und das ist das Versprechen, das uns Stärke und Kraft geben kann, unsere Wanderung auf dem Wege zu vollenden. – Manchmal hat es der Kirche und anderen, selbstbestallten Verkündern des Reiches Gottes beliebt, den Weg, der die Wahrheit und das Leben ist, sehr eng zu machen und ihn nur wenigen rechtgläubigen Auserwählten vorzubehalten. Dieser Haltung tritt Jesus hier nachdrücklich entgegen: Im Reich Gottes gibt es keine Enge, keine Ansehung der Person. Im Haus Gottes gibt es viele Wohnungen, und der Platz ist bereitet – auch für dich und mich!

Ich möchte mit einem Gedicht von Ole Sarvig schließen, das dieses Thema inhaltsreich auslegt: Dass wir ununterbrochen weitergehen sollen von hier aus auf eigene Verantwortung. Nichts ist uns gegeben. Und doch ist uns alles gegeben, weil Gott uns auf dem Wege aufsucht und trotz unseres Versagens, unseres Judasverrats – anderen, uns selbst, Gott gegenüber – Neues in uns schafft. Seine Liebe zu uns macht es uns möglich, in Wahrheit zu wandeln, so dass wir alle, die kleinen schwachen und bangen Seelen, wachsen, stark, frei und froh werden dürfen. Das geschieht in diesem Augenblick. Mitten im Leben sind wir auf dem Wege, in der Wahrheit. Indem wir eins sind miteinander und mit Gott in seiner ewigen Liebe zu uns.

Hier kommt das Gedicht von Ole Sarvig (hier in Prosa übersetzt):

O, Gott,
lass mich von hier weiterkommen
auf einem Weg, der dein Weg ist,
auf einem Pfad, der dein Pfad ist.
Lass diese Gestalten hervortreten und grüßen,
so dass der Tag, der dunkle, seitenverkehrte,
worin du uns suchtest,
sich zu dem neuen Samen formt
und durch den Judaskeim
der neue Raum hervorbricht in dir,
der uns geliebt hat,
der uns beehrt hat,
indem er unser bedarf,
uns begehrt, unseren Trotz.
Obgleich die Tage niedrig sind, grau,
können wir empfinden und verstehen,
dass du hervorwachsen wirst
mit uns in dir, unserem Heim und unserer Ehre.
Und alles, was du sein magst
für Taube, Blinde, Geschlagene, Kleine.
Dein Reich komme, neuer Gott,
im noch verborgenen Kleid deines Geistes.
Da wachsen wir so zart jetzt
in dir, unserem Nächsten, Freund und du!
Amen

Dompropst Anders Gadegaard
Fiolstræde 8,1
DK-1171 København K
Tel.: +45 33 14 85 65
E-mail: abg@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 

 


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