Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Jubilate, 7. Mai 2006
Predigt zu 2. Korinther 4, 16-18, verfasst von Ulrich Haag
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Trübsal.
was für ein Gegensatz zum Sonntag Jubilate.
Als wollte Paulus uns auf den Teppich zurückholen.
Trübsal - so übersetzt Martin Luther das griechische Wort thlipsis. Wörtlich bedeutet es Drangsal, Bedrückung. In heutiger Sprache würde man vielleicht ganz einfach von Druck sprechen: Ich stehe unter Druck. Druck gibt es überall. Vor den Abiturklausuren und Prüfungen. Druck gibt es zu Hause und am Arbeitsplatz, im Sportverein und natürlich im Portemonnaie. Sogar zum Alltag der Kirche gehört es längst, unter finanziellem Druck zu stehen.
Wenige Verse vorher, im zweiten Kapitel erwähnt Paulus den Druck, unter dem er steht. Er spricht von der Enge und der Beklemmung, die sich auf sein Herz legt, weil er mit den Korinthern in Streit geraten ist. Denn die wollen ihn als Apostel nicht mehr anerkennen und weichen von seinem Evangelium ab.

Herrlichkeit: Das zweite Schlüsselwort in unserem Predigttext.
In der griechischen Bibel steht "doxa "- eines der häufigsten und vielschichtigsten Wörter des neuen Testaments. Doxa - das Wörterbuch übersetzt mit Glanz, Schein. Gemeint ist der Lichtglanz Gottes, der seine Majestät, seine Erhabenheit wiederspiegelt - eben seine Herrlichkeit. An dieser hellen Herrlichkeit werden im Jenseits alle, die zu Gott gehören teilhaben. Sie werden eintauchen in den vollendeten Lichtglanz des Ewigen. Doch nicht, erst dann - schon jetzt haben die Menschen, die ihr ganzes Leben Gott weihen, Opfer dafür auf sich nehmen, Leiden oder gar ein Martyrium - schon jetzt haben Menschen an diesem Lichtglanz teil.
Deshalb übrigens werden auf den Ikonen der orthodoxen und katholischen Kirchen die Heiligen immer mit einem Heiligenschein dargestellt. Die mittelalterliche Kirche hat diesen Satz aus unserem Predigttext offenbar wörtlich verstanden: Die Trübsal, die Bedrückung, die Qual, die Verfolgung schaffen den Menschen die sie auf sich nehmen, einen über alle Maßen beständigen Schein der Herrlichkeit. Für das menschliche Auge ist dieser Schein unsichtbar. Aber ein Ikonenmaler stellt den Menschen nicht so dar, wie er vor Augen steht, sondern wie er ihn glaubt. Seine Darstellungen blieben nicht beim vordergründig Sichtbaren – sondern zeigen die Wirklichkeit in ihrer Tiefe - auch das Unsichtbare eben, das Ewige, das Göttliche am Menschen.

Das Sichtbare - das Unsichtbare.
Unter diesem Wortpaar läßt sich tatsächlich der ganze Predigttext in zwei Teile gliedern:
Hier das Vordergründige, das Greifbare, das Meßbare - dort das Unsichtbare, das eigentliche Wesen, der göttliche Wille, die Intention hinter den Dingen.
Hier Trübsal, Mühsal, Druck und Gegendruck. Dort Herrlichkeit, Leichtigkeit, Pracht, Erfüllung. Hier der äußere Mensch, der mit den Jahren verfällt. Dort der innere Mensch, der Tag für Tag erneuert und wieder aufgebaut wird.

Wir wundern uns hier und da über die Naivität mittelalterlicher und zeitgenössischer Heiligenbilder. Wir leben schließlich im Zeitalter der Photographie, der Videoaufnahme, der digitalen Bilder. Wenn wir Menschen auf beweglichen oder unbewegten Bildern festhalten, dann realistisch, dann wirklichkeitsnah. Dann so wie sie sind, das heißt, so wie sie das Auge sieht.
Die Menschen früher haben hinter dem Sichtbaren immer das Unsichtbare gesucht und erkannt. Mag sein, sie haben auch eine Menge religiöses Beiwerk in die Welt hineininterpretiert. Aber sie ahnten etwas vom geheimen Wesen, vom unsichtbaren Leben und Weben aller Dinge. Wir heute halten am Sichtbaren fest. Wenn wir eine Sache besser verstehen wollen, dann versuchen wir sie zu durchdringen. Und zwar nicht geistig und geistlich, sondern wirklich im physischen Sinne. Wenn wir eine Sache besser verstehen wollen, dann nehmen wir sie auseinander. Schauen sie uns aus der Nähe an, genauer, noch genauer. Wir nehmen die Lupe zur hand, ein Mikroskop. Auf diese Weise haben wir Ungeheuerliches in Erfahrung gebracht über die Welt und den Menschen. Wir haben erkannt, daß ein Mensch aus Erbanlagen zusammengesetzt ist, und aus welchen. Wir haben begriffen, daß ein Mensch durch Zellteilung entsteht und wächst, und sich in der Tat täglich erneuert - bis zu einem gewissen Alter. Wir sind tatsächlich bis zum Innersten vorgedrungen, was die Welt zusammenhält - und gleichzeitig in Bewegung bringt, zum Kern aller Dinge - dem Atom, dem kleinsten unteilbaren Bestandteil, aus dem sich alle Dinge zusammensetzen. Das elementare, grundlegende Prinzip, nach dem alle Dinge funktionieren, nach dem alle Dinge in einem gewissen Sinne sogar lebendig sind. Das Atom – kann man noch genauer sehen?

Und doch: Mit alldem bleiben wir beschränkt auf das, was Paulus die Welt der sichtbaren Dinge nennt. Nur ist der äußere Mensch nicht alles.
Zwar spürt Paulus die Anzeichen des äußerlichen Verfalls.
Zwar spürt er, wie sich die Müdigkeit mit den Jahren tiefer in seinen Glieder einnistet.
Aber er weiß: An mir, in mir gibt es etwas, das wird von Tag zu Tag erneuert, bleibt bestehen bis über den Tod hinaus, und hat jetzt schon Teil an der Herrlichkeit Gottes:
Paulus nennt es den inneren Menschen.

Mag sein, unsere moderne Art, nur das Sichtbare zu sehen, hat den Menschen aus so manchem abergläubischem Gestrüpp befreit und gewaltige Kulturelle Leistungen hervorgebracht. Doch ebensoviel Barbarei und Zerstörung - und manche Verarmung. Eine davon rührt Paulus mit seinen Worten an. Es ist die Angst davor, einmal nicht mehr zu können, und die Kontrolle über sich selbst abgeben zu müssen. Es ist die Unfähigkeit, Leiden anzunehmen.

Wir glauben zwar auch an innere Werte. Aber das sind für uns doch meist nicht mehr als Tugenden, Eigenschaften, die man erlernen kann, sich aneignen kann. Die man sich zumindest duch disziplinierte Arbeit an sich selbst zulegen kann.
In unseren Augen sind wir das Werk unserer selbst.
Wir sind, was wir können.
Wir sind, wie wir aussehen.
Wir sind, was wir selbst aus uns machen.

Und doch spüren wir, wie unser Körper unaufhaltsam verfällt.
Wir wehren uns nach Kräften dagegen.
Doch was ist, wenn meine Kräfte nachlassen.?
Wer bin ich noch, wenn mein Geist seinen Geist aufgibt? Wenn ich wirr und ungeordnet rede, denke? Wer bin ich, wenn der Glanz meiner Augen matt wird, mein Stern zu sinken beginnt, und meine Herrlichkeit erlischt? Wer bin ich, wenn meine Lust sich langsam verflüchtigt,
und damit die Aussicht, einmal in meinen Nachkommen weiterzuleben? Wer bin ich, wenn ich das Heft einmal aus der Hand legen muß, am Ende gar ein anderer, eine andere die letzten Seiten meiner Biographie schriebt – nicht ich selbst?
Die Vorstellung, einmal zur Passivität verurteilt zu sein, die Vorstellung, daß ich einmal nicht mehr mich selbst leben kann, sondern gelebt werde, daß ich mich einmal nicht mehr selbst entwerfen, selbst planen könnte, sondern von einem anderen geformt, verformt werde, daß ich den Weg nicht selbst bestimme, sondern einer mich nimmt, und führt, wohin ich nicht will, die Vorstellung, daß ich einmal zur Passivität verurteilt sein könnte, zur Passion,
zum Leiden - wehrlos, ausgeliefert - diese Vorstellung ist schwer zu ertragen.
Wer bin ich noch, wenn ein anderer, ein Fremder - und sei es Gott - mein Leben formt?
Weil wir uns nicht mehr vorstellen können, daß der Mensch mehr ist als das Sichtbare, mehr als das Vorfindliche, weil wir nicht mehr glauben können, daß das Entscheidende von uns, der wichtigste Teil unserer Persönlichkeit ganz woanders aufbewahrt ist, als in unserem eigenen Bewusstsein - deshalb sind wir weitgehend unfähig geworden, zu leiden, etwas an uns heranzulassen, uns formen zu lassen. Auch: Uns einbinden, eingliedern, einfügen zu lassen.

Gegen diese Verarmung erinnert Paulus an das Kreuz Christi – an sein Leiden und Sterben. So wie Jesus erst aus dem Tod erweckt worden ist zu großer Glorie, so gelangen auch wir Menschen erst durch Trübsal zur Herrlichkeit. Dabei ist das Leid nicht nur eine Durchgangsstation. Paulus sagt es ausdrücklich: Die zeitliche Trübsal erst schafft uns ewige Herrlichkeit.

Man höre und staune. Die Trübsal ist in der Lage, ewiges für uns zu schaffen. Wo sonst wird das noch über etwas irdisches gesagt? Trübsal, Leid, Traurigkeit – all das setzt Paulus hoch in Kurs, es bringt uns mit dem Ewigen in Verbindung.

So will Paulus die Sichtweise ändern – die Sichtweise der Korinther und unsere.
Er lenkt den Blick über das Äußerliche, vordergründig Sichtbare hinaus auf das Unsichtbare, auf den Unsichtbaren, bei dem mein Menschsein aufgehoben ist. Er will uns eine Perspektive geben, die über den Verfall, den wir allenthalben feststellen müssen, hinausreicht. Er schärft unsere Augen, die an der bloßen Trübsal allzu leicht hängen zu bleiben drohen. Er schärft unseren Blick für die Herrlichkeit, die tiefe Freude, den Jubel, die still, aber sicher und gegen alle Erwartung im Leiden wachsen.

Amen.



Ulrich Haag, Aachen
haag@ekir.de

 


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