Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Miserikordias Domini, 30. April 2006
Predigt zu 1. Petrus 5, 1-4, verfasst von Traugott Schächtele
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Führen und leiten
– in Verantwortung vor Gott und den Menschen

Sie versprechen sehr viel. Sie sind unglaublich teuer. Sie haben großen Zulauf. Ich spreche von Führungsseminaren. Management und Führung. Rhetorik und Kommunikation. Innovation und Präsentation. So ähnlich lauten die Themenbereiche, für die zu solchen Veranstaltungen eingeladen wird. „Führen durch Zielvereinbarungen“, „Charisma und Strategie“, „Überzeugend Leiten“ – so oder so ähnlich sind die Kursangebote überschrieben. Schon ein Wochenendseminar kostet dabei mehrere hundert Euro. Nach oben sind kaum Grenzen gesetzt.

Wer Verantwortung übernehmen soll, muss geschult und trainiert werden. Überall ist das so. Im Bereich der Wirtschaft schon lange. Längst auch im Sektor von Verwaltung und Dienstleistung. Und mittlerweile auch in der Kirche. Kirche, die von der Wirtschaft lernt! Lernen muss. Schließlich ist die Kirche nicht einfach die irdische Variante des Reiches Gottes oder doch zumindest dessen Vorstufe. Sondern auch einer der größten Arbeitgeber im Land. Wer mitspielen will auf dem Markt der Anbieter – und sei’s mit Dienstleistungen der ganz besonderen Art - der muss auch die Regeln beherrschen. Der oder die muss dann eben auch auf Führungsseminare gehen. Schließlich haben wir als Kirche da noch erheblichen Nachholbedarf.

Aber geht es auch umgekehrt? Kann die Wirtschaft auch von der Kirche lernen? Und womöglich genau da, wo viele ganz selbstverständlich ein besonders ausgeprägtes Wissen der Wirtschaft vermuten – im Bereich von Führung und Leitung. Wird Leitungsverantwortung hier und dort auf gleiche Weise wahrgenommen? Wie ist dann aber mit der Warnung Jesu bestellt: „So soll es unter euch nicht sein!“ Oder seinem „Ihr habt gehört … ich aber sage euch!“ Geht in der Kirche am Ende alles doch noch einmal ganz anders? Und womöglich in der Tat so, dass die Wirtschaft von der Kirche lernen könnte.

Was heißt das überhaupt: Führen und Leiten? Leiten, so hat man sich verständigt, meint, sich der dafür bereitstehenden Mittel und Methoden zu bedienen. Vereinbarte Grundlagen. Geltende Regeln. Geordnete Zuständigkeiten. Führen ist mehr. Auch wenn dieser Begriff gerade in unserem Land letzten Jahrhundert sehr diskreditiert wurde – in den Trainings und Seminaren für Menschen in Verantwortung findet er in positivem Sinn durchaus Verwendung. Führen bezieht die Person mit ein. Ihre Autorität. Ihre Gabe, andere zu gewinnen und zu überzeugen. Ihre Persönlichkeit und Ausstrahlung. Was bedeuten dann aber Führen und Leiten in der Kirche? Der Predigttext für diesen Sonntag Misericordias Domini hat genau dieses zum Thema. Nämlich einen Blick auf eine genuin christliche Leitungskultur. Wie sollen die Leitungsverantwortlichen in der Kirche ihr Amt ausüben? Im fünften und letzten Kapitel des 1. Petrusbriefes heißt es in den ersten vier Versen:

1 Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: 2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; 3 nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde. 4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen.

Die Sprache von Führungsseminaren spricht er nicht gerade, der heutige Predigttext. Stattdessen die Sprachmuster der sich entwickelnden noch jungen Kirche. Einer Kirche in einer Zwischenphase. Einer Kirche auf dem Weg von der Bewegung zur Institution. Solche Prozesse wiederholen sich immer wieder. In den letzte Jahrzehnten vielleicht am deutlichsten zu beobachten beim Weg der Umweltbewegung der siebziger Jahre hin zu einer politischen Partei. Aber nirgends sonst ist die Entwicklung so fulminant und dynamisch wie hier. Wie eben in der Kirche.

Am Anfang steht da ein einzelner Bote der anbrechenden Gottesherrschaft. Wenige Jahre später ein kleines Grüppchen verängstigter Anhänger, das sich am Karfreitagnachmittag in alle Winde zerstreut. Und nach nur dreieinhalb Jahrhunderten gilt das Christentum durch ein entsprechendes Edikt des Kaisers Theodosius ab 380 allein zugelassene Religion im großen römischen Weltreich. Wer auf einen solchen Weg zurückblickt, muss doch Führungserfahrung haben!

Längst nicht immer war diese Entwicklung ein glaubwürdiger Siegeszug der Liebe und der Wahrheit. Im Gegenteil: die Erfolgsgeschichte kommt allzu häufig nicht ohne Gewalt aus. Und nicht ohne Grund macht der Kirche diese Rolle als alleinige Staatskirche über Jahrhunderte heftig zu schaffen. Brüche folgten. Zwischen Ost und West in Konstantinopel. Zwischen altem und neuem Glauben in Wittenberg und Genf. Aber die Kirche ist immer noch am Markt. Und bei den Menschen. Bis heute. Sucht nach immer neuen Wegen der Kommunikation der Guten Nachricht von Gottes Lust an den Menschen und seiner Zuwendung zur Welt.

Zur Zeit der Abfassung des ersten Petrusbriefes ist es bis dahin noch ein weiter Weg. Es gibt bestenfalls Vorformen einer Organisation oder einer Institution. Ämter sind gerade erst dabei, sich zu entwickeln. Im Predigttext – so wie ich ihn vorgelesen habe – ist von Ältesten die Rede. Von Presbytern. Aus diesem Wort hat sich das deutsche Wort Priester herausentwickelt.

Aber womöglich sind noch gar keine wirklichen Ältesten gemeint. Sondern einfach nur ältere und deshalb hoch angesehene Gemeindeglieder. Denn schon im nächsten Vers geht es um Jüngere, die sich den Älteren unterordnen sollen. Eine Institution im Aufbau. Ein Projekt zwischen Versuch und Irrtum. Das Amt des Ältesten, das eigentlich noch gar kein wirkliches Amt ist.

In einer solchen Phase steht alles auf dem Spiel. Gerade hier kommt es darauf an, dass klug geleitet, dass behutsam, aber klar geführt wird. Nicht ohne Grund wird dieser 1. Petrusbrief geschrieben. Die Zeit der charismatischen Führungsfiguren, die Hoch-Zeit der Apostel und Evangelisten ist vorbei. Das erhoffte schnelle Ende aller Dinge und die baldige Wiederkunft Christi lassen auf sich warten. Man richtet sich ein. Und schafft erste Leitungsstrukturen. Noch ohne Bischöfe. Aber mit verdienten Gemeindegliedern, denen man das letzte entscheidende Wort zubilligt. Erfahrene Ältere werden zu Ältesten.

Aber das Wissen um die grundsätzlich andere Struktur des Volkes Gottes ist noch erhalten. Die Gemeinde als ganze ist ersten Petrusbrief vor allem im Blick. Als „heilige Priesterschaft“ wird sie beschrieben. Als „geistliches Bauwerk“ Gottes. Als „Haus der lebendigen Steine“. Aber all dies im Wissen darum, dass dieses Haus eine Struktur braucht. Einen Plan. Dass die Statik stimmen muss. Es ist nicht Petrus, der hier schreibt. Aber einer, der sich die Aufgabe des Petrus zu eigen macht. Einer, der an der Zukunft der Kirche Interesse hat. Darum lässt er es nicht an Anweisungen für den Umgang miteinander mangeln. Mahnt den rechten Umgang miteinander an. Spricht von einem angemessenen christlichen Verhalten. Zwischen Sklaven und ihren Herren. Zwischen Frauen und Männern. Zwischen Älteren und Jüngeren.

Und spart dann eben auch die Frage der Leitung nicht aus. Spannend, hoch spannend sogar, welche Grundanforderungen er an christliches Führungspersonal stellt. Zunächst bedient er sich des traditionellen Bildes des Hirten. Darum beschreibt er das, was von den Ältesten verlangt wird, auch einfach mit dem Ausdruck „Weiden“. „Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist!“ Dann aber konkretisiert er diesen Auftrag mit drei Gegensatzpaaren. Beschreibt, wie er sich dieses Weiden in rechter Weise vorstellt:

  • nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt
  • nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund
  • nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde

Ein Motivationsprofil frühchristlichen Leitungshandelns in Reinkultur. Drei Prüfsteine, die es in sich haben. Zunächst: „Nicht gezwungen, sondern freiwillig“. Wer will einen anderen Menschen zwingen, ein Leitungsamt übernehmen. Von Augustinus, dem großen Bischof in Nordafrika, wird knapp drei Jahrhunderte später solches durchaus berichtet. Bei einem Gottesdienstbesuch in der Stadt Hippo Regius, wo er sich zu einem Besuch aufhält, wird er mehr oder weniger überrumpelt und unter Tränen zögernd und protestierend auf der Stelle zum Priester geweiht. Vor dem, was sich im Falle des Augustinus als Beginn einer der größten und wirkungsvollsten Karrieren der Kirchen- und Theologiegeschichte erwies, wird hier nicht ohne Grund gewarnt.

Wer ein solches Amt übernimmt, muss wissen, worauf er sich einlässt. Er – und in unserer evangelischen Kirche gottseidank längst auch sie - muss hier in Freiheit entscheiden können. Nach reiflicher Überprüfung der eigenen Schwächen und Stärken. Nach Rücksprache mit Menschen, die Ehrlichkeit nicht scheuen. Und die nicht nur die eigene Eitelkeit bedienen. Und unter der Voraussetzung eines gesunden Gottvertrauens. Ein Gang übers Wasser bleibt eine solche Entscheidung allemal. Freiwilligsoll sie gefällt werden, „wie es Gott gefällt“. Ein guter Prüfstein bei einer solch schwierigen Entscheidung.

„Nicht aus Gewinnstreben, sondern von Herzensgrund“. So wird der zweite Prüfstein beschrieben. Und er mutet fast schon modern an. Könnte aus unserer Zeit stammen. Denkt man nur an die Diskussion um die in der Regel gut dotierten Nebentätigkeiten unserer Verantwortungsträger. Oder an WM-Tickets für Politiker, die unsere Energiekonzernen verteilen. Das Gewinnstreben ist die Achillesferse jedes Leitungsamtes. Am wenigsten vielleicht noch in der Kirche. Und das ist sicher nicht schlecht.

Bleibt der dritte Prüfstein: „Nicht als Herren, sondern als Vorbilder“. Bei Lesen fühlte ich mich sofort an eine Betriebsbesichtigung im Kollegenkreis erinnert. Dabei hat uns das leitende Management des Betriebes auch sein Führungskonzept vorgestellt. Der erste Satz der Führungsleitlinien lautete: Führung ist Vorbild! Ein weltliches Konzept. Geprägt von der Klugkeit und der Erfahrung der Weltkinder – und dabei fast wie aus der Bibel abgeschrieben. Nichts wirkt auf andere überzeugender als die eigene Glaubwürdigkeit und ein vorbildliches Verhalten.

Das entscheidende Vorbild ist für den Schreiber des ersten Petrusbriefes derjenige, den er den „Erzhirten“ nennt. Der, dessen Auferstehung wir vor zwei Wochen an Ostern gefeiert haben. Der, dessen noch ausstehende Wiederkunft die Kirche auf Dauer zu einer Einrichtung im Übergang macht. Die Ausbildung besonderer kirchliche Ämter, wie sie sich in der bunten weltweiten Ökumene in großer Vielfältigkeit entwickelt haben, mag ein Zeichen dafür sein, dass sich die Kirchen als Institution stabilisiert haben. Aber auch dann bleiben die Zeichen des Übergangs prägend für die Wirklichkeit der Kirche. Ämter in der Kirche schreiben nichts fest. Können nichts festschreiben. Kirchliche Ämter moderieren die Wesensäußerungen der Freiheit eines Christenmenschen. Die Zeit der unvergänglichen Kronen, um noch einmal die Sprache des Predigttextes aufzugreifen, steht allemal noch aus.

Für die Gegenwart gilt: Kirchliche Ämter sind allemal übertragene Ämter. Sie sind Ämter auf Zeit. Sie sind nicht abhängig von irgendwelchen Bedingungen oder irgendwelchen höheren Weihen. Sie unterliegen einzig der Voraussetzung der entsprechenden Gaben. Und sie ziehen die Pflicht nach sich, Rechenschaft abzulegen – so, wie wir es im selben 1. Petrusbrief etwas früher, im 3. Kapitel, nachlesen können: Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist. Diese Aufforderung ist im Grunde die Summe über den gesamten Brief. Und sie umschreibt damit zugleich den Rahmen, innehab dessen auch die Anleitung zu einem rechten Leiten – und zu dem rechten Leben - zu verstehe ist.

Rechenschaft ablegen über die Hoffnung, die in uns ist. Diese Aufgabe ist letztlich uns allen übertragen. Nicht nur den Inhaberinnen und Inhabern kirchlicher Ämter. Es ist die Grundaufgabe jedes Christenmenschen. Auch derer, die in welcher Weise auch immer, Weltverantwortung wahrnehmen. Ein tragendes Fundament allen Handelns, bei dem andere von uns als Kirche – oder zumindest beim Schreiber des 1. Petrusbriefes - sehr wohl lernen können.

Die Bereitschaft und die Fähigkeit, Rechenschaft abzulegen - das ist der generelle Prüfstein, vor den wir all diejenigen ruhig stellen dürfen, die wir für die Übernahme von Führung- und Leitungsverantwortung für geeignet halten. Wenn sie dazu bereit sind. Wenn es ihnen um die Sache und gerne auch um den Reiz der Aufgabe geht. Aber nicht darum, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Wenn sie ihr Vorbild an dem, ausrichten, der dem Leben zum Sieg verholfen hat – gegen alle Widerstände. Sogar gegen den des Todes. Gott versorgt nicht mir Ämtern. Das ist Gottes Sache nicht. Gott ruft vielmehr in Verantwortung.

Gut, dass wir ein solches Vorbild haben. Und wir auf diese Weise selber zu Vorbildern im Glauben werden können. Gut, dass wir diese Welt in Freiheit, in Versuch und Irrtum mutig gestalten können. Gut, dass von uns nicht mehr gefordert ist, als Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die in uns ist. Dies ist schon Herausforderung genug. Bis diese Zeit des Vorläufigen und die der Institution im Übergang ans Ziel kommt. Und wir die unvergängliche Krone empfangen. Und all unsere Verantwortung und all unsere Ämter aufgehen in der Freiheit, die in der Gegenwart Gottes gründet. Amen.

Dekan Dr. Traugott Schächtele
Goethestraße 2 – 79100 Freiburg
Telefon 0761 7086326, Fax 0761 7086393
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