Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

Miserikordias Domini, 30. April 2006
Predigt zu 1. Petrus 5, 1-4, verfasst von Bernd Giehl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(1) Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: (2) Weidet die Herde Gottes, die euch anvertraut ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; (3) nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde. (4) So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen.

Liebe Gemeinde!

Auch ich bin noch ganz im Respekt vor der Obrigkeit aufgewachsen. Damals, in meiner Kindheit, in den fünfziger und sechziger Jahren kannte noch jeder seinen Platz. In den Konfirmandenunterricht ging ich in den Jahren 1967/68, aber dass ich etwas davon gespürt hätte, was diese Jahre später so berühmt gemacht hätte, kann ich nicht behaupten. Wir hatten wirklich noch Respekt vor unseren Lehrern und unserem Pfarrer. Vor allem vor ihm, dem Herrn Pfarrer. Damals war das ja wirklich noch etwas: Pfarrer zu sein. Ich muss es wissen, denn ich war damals mit zwei Pfarrerskindern befreundet und hatte einen Heidenrespekt vor ihrem Vater; kaum dass ich mich in ihr Haus traute. Im Konfirmandenunterricht lernten wir die Psalmen, Gesangbuchlieder, das Glaubensbekenntnis mit den Erklärungen Martin Luthers, das Vater Unser mit Erklärungen, die Zehn Gebote. Wir lernten das Vierte Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ und die Erklärung dazu lernten wir auch: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert halten.“ Zur gleichen Zeit demonstrierten die Studenten in Berlin gegen den Besuch des Schahs, zur gleichen Zeit wurde in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeibeamten namens Kurras erschossen, die Kommune 1 wurde gegründet, deren Mitglieder sich nackt fotografieren ließen und die all das lebten, was uns verboten war. Und ich ging weiter in die Jungschar, lernte, dass der liebe Gott mir zusähe, wenn ich Äpfel vom Nachbarn klaue oder die Mädchen an den Haaren zöge und dass ihn das betrübe. In Amerika demonstrierten sie gegen den Vietnam Krieg, lebten Flower Power, die Studenten experimentierten mit Haschisch und LSD, feierten die wildesten Partys, und uns wurde gepredigt, dass wir mit dem Kontakt zu Mädchen besser noch warten sollten, sonst würden wir allzu leicht in Versuchung geraten. Dass junge Männer und Frauen miteinander schliefen, bevor sie heirateten? Es war zwar nicht mehr undenkbar, aber eine schwere Sünde. Deshalb galt es, sich erst gar nicht in Versuchung führen zu lassen.

Ja wirklich: Was wussten wir damals von der Welt? Wenn ich mich heute daran erinnere, wenn ich mich an meine Kindheit und die ersten Jugendjahre in dieser Zeit erinnere, dann denke ich: wir lebten im Stand der Unschuld.

*

Schon merkwürdig, dass mir jedes Mal diese Zeit einfällt, wenn ich mich an diesen Text aus dem Ersten Petrusbrief heranmache. Es muss an den Bildern liegen. Vor allem an dem Bild vom Pastor, also vom Hirten und seiner Herde. Für mich immer noch ein sehr zwiespältiges Bild, das zum einen Geborgenheit ausdrückt und Unschuld, zum anderen aber auch etwas Brüchiges. Ein Scheinidyll. Eine Welt, die man womöglich schützen kann, aber zu welchem Preis?

Noch heute geht es mir so, dass ich mit diesem Bild meine Schwierigkeiten habe. Manchmal fragt mich jemand, wenn ich gerade einen Geburtstagsbesuch in meiner Gemeinde mache: „Na Herr Pfarrer, besuchen Sie Ihre Schäfchen?“ „Schäfchen“, sagt er, nicht etwa „Schafe“. „Schafe“ würde wohl doch etwas zu frivol klingen. Schafe sind nun einmal als dumm verschrien. Sie folgen ihrem Leithammel, wenn es sein muss, bis zur Schlachtbank. „Schäfchen“ hat zumindest noch einen Anflug von Idyll. Schäfchen kann man lieben; sie sind so klein, zart und kuschelig. Aber zugleich ist in diesen Worten auch Herablassung. Ich weiß nicht, ob der Sprecher es so meint oder ob er (oder sie) es zumindest merkt, aber ich weiß zumindest, dass er sich selbst nicht zu meinen „Schäfchen“ zählt. Denn wer würde sich schon gerne als „Schaf“ bezeichnen lassen?

Merkwürdig nur, dass sich diese Redeweise bis heute erhalten hat.

*

Später bin ich dann heraus gefallen. Nein, so ganz trifft es das wohl doch nicht. Vielleicht sollte ich besser sagen: Wir haben uns langsam voneinander entfernt, meine heimatliche Herde und ich. Ich war zwar nicht als schwarzes Schaf geboren, aber nach und nach färbte ich mich dunkler. Es begann damit, dass ich nach dem Abschluss der Realschule ins Gymnasium in die 25 Kilometer entfernte Kreisstadt ging. Dort herrschte ein anderes Klima als zuhause. „68“ begann langsam seine Wirkung zu zeigen. Mein Kinderglaube, den ich von zuhause mitgebracht hatte, wurde infrage gestellt. Ich wurde auf eine Suche geschickt, deren Ziel ich selbst noch nicht kannte. Aber das Schlimmste war, dass es niemanden gab, der mich auf dieser Suche begleiten konnte oder wollte. So vieles, woran ich geglaubt hatte, war plötzlich in Frage gestellt. Es waren nicht nur die Klassenkameraden, die so ganz anders lebten, als ich es kannte. Es war vor allem mein Religionslehrer, der mich mit der Frage konfrontierte, was Gott mit dem Bösen zu tun habe. Wir lasen Texte von Camus, von Sartre, wir lasen Borcherts „Draußen vor der Tür“ wo der liebe Gott am Ende des 2. Weltkriegs durch die Straßen irrt und immer nur stammeln kann: „Meine armen, armen Kinder“ und dem Kriegsheimkehrer Beckmann auf die Frage, wo er in Stalingrad gewesen sei nur antworten kann: „Ich habe es nicht gewollt.“ Auf einmal wusste ich nicht mehr, was Wahrheit war und was Lüge. Die Menschen aus meiner Heimatgemeinde, mit denen ich so lange vertraut gewesen war, wollten oder konnten mich nicht verstehen. Nicht dass sie mich verstoßen hätten. Sie verstanden ganz einfach meine Fragen und Zweifel nicht mehr. Nach und nach entfremdeten wir uns voneinander. Sie wollten, dass ich meine Zweifel aufgäbe und in die Geborgenheit der Gemeinschaft zurückkehrte. Dort würde ich die Wärme wieder finden, die ich vermisste. Aber selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte es nicht gekonnt. Es war ein Prozess, an dem niemand Schuld hatte.

Aus dem Schäfchen, das der Herde und dem Hirten folgte, war plötzlich ein Mensch geworden, der das Recht für sich beanspruchte, selbst zu denken.

*

Ein Einzelfall? Vielleicht. Obwohl ich ja glaube, dass es noch mehr Menschen so gegangen ist. Auch wenn sie aus ihrem Erleben wahrscheinlich andere Konsequenzen gezogen haben. Für mich jedenfalls heißt die Konsequenz: Ich kann das Bild von den Hirten und der Herde nicht mehr auf Pfarrer und Gemeinde anwenden. In diesem Bild ist zuviel Unmündigkeit. Der Hirte weiß, was für die Herde gut ist. Der Hirte führt die Schafe auf ihrem Weg. Er hält die Herde beisammen. Aber in Zeiten, in denen Menschen Wert legen auf ihre eigene Mündigkeit bzw. in denen sie aufgefordert werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, ist dieses Bild nicht mehr zeitgemäß, oder es ist zumindest problematisch geworden.

*

Also keine Hirten und keine Herde? Wenn man das Bild nicht ganz so wörtlich nimmt, und vor allem wenn man es nicht hierarchisch auslegt, ist es vielleicht doch nicht so schlecht. Mir liegt ein anderes Bild näher, nämlich das von der „Gemeinschaft der Heiligen“ von der wir im Glaubensbekenntnis sprechen. Gewiss ist das auch wieder ein missverständliches Bild, weil es uns einreden könnte, wir gehörten nicht dazu, schließlich sind wir ja keine herausragenden Figuren, keine halben Übermenschen, die immer ein moralisch einwandfreies Leben führen. Aber das ist damit auch gar nicht gemeint. „Gemeinschaft der Heiligen“ meint vielmehr die Gesamtheit derer, die an Jesus Christus glauben. Gemeinschaft der Glaubenden, das heißt: Wir gehören zusammen. Wir sind aufeinander angewiesen. „Gemeinschaft“, das ist mehr als eine Anzahl von Individuen, die allenfalls die gemeinsame Sprache oder Staatsangehörigkeit miteinander verbindet. In einer Gemeinschaft ist es mehr oder weniger selbstverständlich, dass einer dem anderen beisteht. Wie eng diese Gemeinschaft ist, das muss sie selbst regeln. Natürlich gelten in ihr mehr Regeln als in einer Gesellschaft, aber dafür bietet die Gemeinschaft auch Schutz. In der Herde sagt der Hirte, wo es lang geht; in der Gemeinschaft dagegen müssen alle darüber diskutieren, wo es lang geht.

Mir jedenfalls gefällt das Bild von der „Gemeinschaft der Heiligen“ einfach besser als das von der Herde und ihren Hirten. Natürlich müssen solche Bilder immer wieder neu interpretiert und mit Leben gefüllt werden. Sie sind nicht statisch. Sie müssen sich an die Wirklichkeit einer Zeit anpassen lassen, sonst werden sie unbrauchbar. „Gemeinschaft der Heiligen“ bedeutet im 21. Jahrhundert etwas anderes als beispielsweise im 16. oder im 19. Jahrhundert. Wir müssen die Mündigkeit der Menschen Ernst nehmen. Auch die Rolle des Pfarrers hat sich gewandelt. Gewiss ist er immer noch Führungsperson. Vielleicht sogar „Hirte“, wenn man den Hirten in einem weiteren Sinn nimmt. Pfarrer oder Pfarrerin müssen überzeugen, und sie müssen es viel mehr tun als in früheren Jahrzehnten. Das was sie sagen, muss glaubwürdig sein. Wahrscheinlich sind sie immer noch Inhaber eines „Amtes“, aber dieses Amt wirkt nicht durch sich selbst, sondern durch die Person dessen, der es innehat. Man muss ihnen abspüren, dass sie hinter dem stehen, was sie sagen. Dass sie das leben, was sie öffentlich vertreten. Was bekanntlich nicht immer einfach ist, da die Menschen heute Kirche viel kritischer gegenüberstehen als früher. Aber wir Pfarrerinnen und Pfarrer vertreten nun einmal Kirche; von daher hilft es überhaupt nichts, sich von der „Amtskirche“ zu distanzieren. Wir gehören dazu, mit all den anderen Christinnen und Christen, die die Kirche bilden.

Und da muss dann auch von den anderen gesprochen werden. Von den so genannten „Laien“. Denen also, die in der Gemeinde mitarbeiten, sei es im Kirchenvorstand oder sei es als Leiterinnen oder Leiter einer Gruppe. Auch sie tragen Verantwortung für die Gemeinde oder die Gruppe. Auch sie sind sozusagen „Hirten“. Und so gilt für sie auch nichts anderes als für Pfarrerinnen und Pfarrer. Auch Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorstehern oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Botschaft des Evangeliums anvertraut. Auch sie müssen glaubwürdig sein. Auch sie müssen oder sollen in ihrem Reden wie in ihrem Handeln das vertreten, was Jesus vertreten hat. Das Vertrauen auf Gott und die Hinwendung zum Nächsten.

Wer ist Hirte? Im eigentlichen Sinn ist es nur einer: Jesus Christus. Der, der uns versprochen hat, dass er immer bei uns sein will. Zu ihm gehören wir. Ihm sind wir verantwortlich. Er wird für seine Kirche sorgen. Und ansonsten? Ansonsten sind auch wir „Hirten“, und zwar wir alle, egal ob wir nun ein „Amt“ in der Gemeinde haben oder nicht. Wir alle sind füreinander „Hirten“, indem wir füreinander da sind. Uns umeinander kümmern. Indem wir Zeit haben für den Anderen. Und indem wir einander beistehen.

Pfr. Bernd Giehl
Kirchspiel 34
65205 Wiesbaden
Tel. (0611)935055
E-Mail:
bernd.giehl@t-online.de

 


(zurück zum Seitenanfang)