Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Quasimodogeniti, 23. April 2006
Predigt zu Kolosser 2, 12-15, verfasst von Wolfgang Vögele
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Mit Christus seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten. Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden. Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet. Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“

I.

Liebe Gemeinde,

Glauben ist mit Sehen verbunden. Zwar preist Jesus diejenigen selig, die nicht sehen und doch glauben. Aber dennoch gilt: Wer glaubt, der hat ein bestimmtes Bild des Jesus von Nazareth vor Augen:

  • den Redner und Prediger, der vor riesigen Menschenmengen über die Hoffnung auf Gottes Reich spricht;
  • den Richter am Ende der Zeit, der gerechte Urteile fällt und gleichzeitig als Fürsprecher der Menschen auftritt;
  • den Wunderheiler, den die Krankheiten und Gebrechen leidender Menschen nicht in Ruhe lassen;
  • den Gekreuzigten, der selbst leidet, gefoltert, verurteilt, verspottet;
  • den Auferstandenen, die visionäre Erscheinung, so sehr strahlend, daß sein Anblick blendet.

In all diesen Facetten haben Maler aller Epochen der Kunstgeschichte Jesus von Nazareth wieder und wieder dargestellt. Der Predigttext aus dem Kolosserbrief malt uns Zuhörern solche Bilder mit Worten vor Augen.

Drei Bilder sind es vor allem:
Der Gekreuzigte.
Der Auferstandene.
Der Weltenherrscher.

II.

An den Jesusbildern läßt sich der jeweilige Glaube erkennen. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Durch das gesamte Mittelalter hindurch war die Kunst, vor allem Malerei und Bildhauerei, von Darstellungen und Szenen aus dem Leben Jesu bestimmt. Gegen Ende des Mittelalters vollzogen sich plötzlich wichtige Veränderungen: Künstler des frühen Mittelalters zeigten auf Altarbildern und Wandfresken vor allem den auferstandenen Christus, den Pantokrator, den Herrscher über die ganze Welt und den Kosmos. Als Herrscher war Christus zugleich Richter, Weltenrichter, unnahbar und unbestechlich, unbeirrbar in seiner Gerechtigkeit.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt rückte plötzlich der gekreuzigte, der leidende, der menschliche Christus in den Mittelpunkt. Ein ganz anderes Motiv aus dem Leben Jesu schob sich in den Vordergrund. Jesus Christus ist plötzlich nicht mehr der unnahbare, richtende Gottessohn, sondern der leidende, der kranke, der gequälte Mensch. Der, der sein Kreuz auf sich nimmt. Strenge und Distanz verwandeln sich in Mitleid und Empathie. In Christus, dem Richter, herrschen die Allmacht und die Gerechtigkeit Gottes. In Christus, dem leidenden Gekreuzigten, treten Mitgefühl und Menschlichkeit hervor.

Und solche Bilder vom leidenden und gekreuzigten Christus hängen nicht mehr nur in den Kathedralen und Münstern, sondern plötzlich auch in Krankenhäusern. Denken Sie an die bekannten Tafeln des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald. Dieser Altar, der heute in Colmar im Museum Unterlinden zu sehen ist, stand ursprünglich in einem Kloster: Die Antoniter-Brüder betrieben in diesem Kloster ein Spital, ein Krankenhaus. Das Altarbild mit der Tafel vom leidenden Christus am Kreuz sollte die schwerkranken Menschen trösten.

Grünewald dachte nicht an eine historische Darstellung der Kreuzigungsszene; er wollte malend und deutend den Kranken die Geschichte des Leidens Jesu auslegen.

III.

An den Bildern und Altartafeln dämmert plötzlich die Erkenntnis: Die Menschwerdung Gottes bedeutet zugleich eine Anerkennung und Aufwertung des Menschen. Wenn Gott selbst am Kreuz leidet, dann nimmt er auch die Leiden und Krankheiten der Menschen ernst. Wenn Gott selbst leidet und deshalb die Leidenden, die Schwachen die Traurigen ernst nimmt, so ist das sozial und kulturell zu übertragen. Daraus entsteht eine Verpflichtung, sich um die Kranken, die Alten und die Leiden zu kümmern. Aus diesem einfachen Gedanken heraus entstanden im Mittelalter und noch heute Krankenhäuser, Einrichtungen der Armenpflege, Alten- und Pflegeheime, diakonische und caritative Werke.

Das jammervolle Bild vom leidenden Jesus am Kreuz ist vielschichtig und komplex. Das Bild vom Gekreuzigten hat eine heilende Wirkung, nun aber nicht in einem platten und mirakelhaften Sinn. Es ist nicht so, daß sofort gesund wird, wer nur das Bild betrachtet. Sondern es geht um einen tieferen Sinn: Gott wird Mensch. Gott solidarisiert sich mit den Leidenden. Leiden und Krankheit haben ihre eigene Würde. Und der Kranke kann seine eigenen Wunden und Gebrechen in den Wunden und Gebrechen des Gekreuzigten erkennen.

Der Blick auf das Bild des Gekreuzigten nimmt den Kranken und den Leidenden in die Geschichte Jesu mit hinein: Gott ist Mensch geworden. Gott ist besonders beim kranken, beim leidenden Menschen. In Jesus Christus verwandelt der kranke Mensch sich vom Leidenden in den Auferstandenen. Jesus Christus nimmt Leiden, Tod und Auferstehung aller Kranken und aller Menschen vorweg. Das ist im tieferen Sinn die Heilung, die auf den Bildern des gekreuzigten und des auferstandenen Christus in einem tieferen Sinn zu „sehen“ sind.

Genau das wird auch in den Bildern des Kolosserbriefs deutlich. Seine Bilder aus Wörtern stehen nicht einfach als Selbstzweck da. Sondern in ihnen verbinden sich Bilder, Gewißheit und Glaube. Deswegen ist das unscheinbare Wort „mit“ ganz entscheidend: Die Taufe bringt euch auf den Weg mitChristus. Deswegen seid ihr mit ihm gekreuzigt worden. Deswegen seid ihr aber auch mit ihm auferstanden. Deswegen müsst ihr euch nicht vor dem Gericht fürchten.

Das Bild vom leidenden Christus zeigt uns den Gott, der sich in allem Leid der Menschen erbarmt, ihnen Würde gibt und Hoffnung, gegen alle Hoffnung, und Glauben, gegen den Anschein einer grausamen Wirklichkeit. Das Bild vom leidenden Christus lenkt unsere Hoffnung auf den Gott, der Mensch geworden ist. Wir hoffen auf seine Verheißungen. Das ist die heilende Wirkung des Bildes vom Kreuz – und der Geschichte Jesu von Nazareth, die darin ihren Ausdruck findet. Dieses Bild gilt uns allen. Gut, wenn wir auf dieses Bild einen Blick werfen.

Denn Jesu Geschichte läßt uns nicht unbeteiligt. Die Taufe, so sagt es der Kolosserbrief, nimmt die Menschen mit in die Geschichte Jesu Christi hinein. Sie führt sie von sich selbst weg und bindet ihr Leben an die Geschichte Jesu Christi.

IV.

Für Matthias Grünwald war der menschliche Christus wichtig. So deutlich und detailliert wie möglich sollten seine Wunden, Narben, Geschwüre zu sehen sein, damit jeder Kranke erkennen konnte: Er war krank und leidend wie ich. Und umgekehrt: Ich lebe mit ihm, wie er in der Auferstehung Leiden überwunden hat.

Heute würde man das Bild anders malen. Mir steht ein Bild des Künstlers Karl Ludwig Lange vor Augen, das gegenwärtig als Altarbild in der Matthäuskirche in Berlin am Kulturforum hängt. Das Bild heißt „Leiden, Auferstehung, Sterben“. Es ist ein Triptychon aus drei großformatigen Tafeln. Von ferne sind große Flächen in Blau-, Schwarz- und Grautönen zu sehen. Je genauer und näher man dem Bild kommt, desto schärfer erkennt man die schemenhaften drei Gestalten – wie im Nebel, wie hinter einem Schleier, undeutlich, ungenau, aber doch sind sie da – ein leidender und ein sterbender Mensch und schließlich – noch schmemenhafter – ein Auferstandener.

Mich fasziniert dieses Bild deshalb, weil es den denkbar größten Gegensatz zur Genauigkeit und zum Detailreichtum, zur malenden Deutungsarbeit Grünewalds darstellt. Das Bild ist undeutlich geworden, ein Schleier hat sich vor die Geschichte gezogen. Ist Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi gemeint? Oder ist Leiden, Tod und Auferstehung aller Menschen gemeint? Man weiß das nicht, und aus dem Bild heraus läßt es sich nicht entscheiden. Es scheint, als ob der Maler mit dem Wörtchen „mit“ aus dem Kolosserbrief gespielt hat. Die Getauften leiden und sterben mit Christus. Und sie werden mit ihm auferstehen. Deswegen kann man in den schemenhaften Figuren Langes keine Gesichter erkennen.

V.

Am Anfang der Predigt habe ich gesagt, daß die Kunstgeschichte des Mittelalters den Schritt von der Darstellung Jesu als Richter und Weltenherrscher zur Darstellung des Leidenden und Gekreuzigten ging. Der Richter und Weltenherrscher verurteilt die Verfehlungen und das Unrecht der Menschen. Der Gekreuzigte dagegen nimmt die Verfehlungen, die Sünde der Menschen auf sich, um sie davon zu befreien.

Schauen wir ein weiteres Mal auf den Text aus dem Kolosserbrief, so sehen wir einen Dreischritt: vom leidenden Christus, der die Sünde der Menschen auf sich nimmt über den Auferstandenen zu Christus, dem Herrscher über alle Mächte und Gewalten. Ist das doch wieder das alte Spiel? Jesus Christus als unnahbarer Gott?

Nein. Denn Kreuz und Auferstehung haben dem Herrscher-Sein Jesu Christi eine neue Gestalt gegeben. Es ist keine Herrschaft der anonymen und absoluten Machtausübung, sondern eine Herrschaft der Demut, der Barmherzigkeit, der Einfühlung und der Freude. Das ist – mit den Worten des Kolosserbriefs – der „Triumph“ seiner Herrschaft.

Die Taufe nimmt uns in diese barmherzige Bewegung und Geschichte Jesu Christi mit hinein. Amen.

PD Dr. Wolfgang Vögele
Goldaper Str.29
12249 Berlin
Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de
Fon: 030 70177366
mobil: 0172 99 1 45 44

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