Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Quasimodogeniti, 23. April 2006
Predigt zu Kolosser 2, 12-15, verfasst von Stefan Kläs
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Ich lese den für den heutigen Sonntag ausgewählten Predigttext. Er steht im Kolosserbrief, Kapitel 2, Verse 12-15. Dort heißt es über unser Verhältnis zu Jesus Christus, dem Auferstandenen:
12 Mit ihm seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten.
13 Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden.
14 Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet.
15 Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.

Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext enthält für mich einen zentralen Satz, der Gottes Handeln an uns ausdrückt: „Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet.“

Was bedeutet das für uns? Ich erörtere zunächst, welche Arten von Schuldbriefen es gibt. Dann wird es um die Frage gehen, was das Problem dieser Schuldbriefe ist. Und am Ende steht die Frage: Was haben wir eigentlich davon, dass Gott unseren Schuldbrief am Kreuz getilgt hat?

Also zunächst mal zu der Frage: Welche Arten von Schuldbriefen gibt es? Als erstes fallen mir die Schuldbriefe von Banken und Versandhäusern ein. Das sind die Art von Schuldbriefen, vor denen immer mehr Menschen in unserem Land heute Angst haben. Der gemeinsame Schuldenreport von Caritas, Diakonie, Rotem Kreuz und Verbraucherzentralen meldet, dass 3,1 Millionen deutsche Haushalte überschuldet sind, das ist jeder zwölfte Haushalt.(*)
Oft sind es Kredite für privaten Konsum, die die Menschen in die Überschuldung treiben. Unter den vielen Prospekten, die ich regelmäßig in meinem Briefkasten finde, sind immer mehr Angebote für Finanzdienstleistungen. Sofortkredite zu traumhaften Konditionen: 10.000 Euro sofort, egal wofür. Oder 50.000 Euro für ein Cabrio zum Frühlingsanfang und den Rest für den Osterurlaub. Alles gar kein Problem. Es gibt auch kaum lästige Formalitäten. Es reicht eine Unterschrift, und das Geld ist auf dem Konto. Das Kleingedruckte wird schnell übersehen. Doch das böse Erwachen kommt mit der ersten Rate, die nicht bedient werden kann. Konsumentenkredite sind leicht zu bekommen – gefährlich leicht, meint das Diakonische Werk der EKD.
Die mit Abstand häufigsten Gründe für das Anwachsen privater Verschuldung sind jedoch die Folgen der Arbeitslosigkeit, eine Scheidung, eine gescheiterte Selbständigkeit oder ein permanent niedriges Einkommen. Man muss also gar nicht unbedingt besonders leichtfertig sein, um in die Schuldenfalle zu geraten. Oft sind es gerade die unverschuldeten Schicksalsschläge, die Menschen mittellos machen. Das also ist die eine Art von Schuldbriefen: die von Banken und Versandhäusern.

Daneben gibt es die Schuldbriefe, die wir einander schreiben. Schuldbriefe im übertragenen Sinne. Sie werden nicht auf dem Briefpapier von Banken und Versandhäusern geschrieben, in der Regel werden sie gar nicht geschrieben. In der Regel existieren sie in den Köpfen von Menschen und vergiften ihre Beziehungen untereinander.
Da sind zum Beispiel die Schuldbriefe, die Eltern ihren Kindern schreiben: Was haben wir nicht alles in deine Ausbildung investiert, wieviel Geld, wieviel Zeit und wieviel Kraft. Wie wenig hast du daraus gemacht. Aus dir hätte viel mehr werden können. Wir haben alles getan, damit du es einmal besser hast. Aber du hast das ja nicht einmal bemerkt, geschweige denn bist du uns dankbar gewesen. So oder so ähnlich lauten Schuldbriefe, die Eltern ihren Kindern schreiben.
Es gibt aber auch Schuldbriefe, die Kinder ihren Eltern schreiben: Nie habe ich eure volle Aufmerksamkeit bekommen. Immer war euch irgendetwas anderes wichtiger: der Beruf, das Haus und der Urlaub. Immer habt ihr alles mit Geld geregelt. Dabei hätte ich euch als Ratgeber gebraucht. Aber ihr habt ja nicht einmal bemerkt, dass ich Probleme hatte, geschweige denn welche. So oder so ähnlich lauten Schuldbriefe, die Kinder ihren Eltern schreiben.

Zuletzt gibt es auch noch die Schuldbriefe, die wir uns selbst schreiben. Auch sie sind Schuldbriefe im übertragenen Sinne. Auch sie werden in der Regel nicht geschrieben. Auch sie existieren in den Köpfen von Menschen und vergiften ihre Beziehung zu sich selbst.
Da sind zum Beispiel die Vorwürfe, die aus hohen Ansprüchen an uns selbst kommen: Was hatte ich nicht für glänzende Aussichten im Beruf. Was hätte alles aus mir werden können, wenn ich mich damals für einen anderen Studiengang entschieden hätte, wenn ich für ein Semester ins Ausland gegangen wäre, wenn ich doch noch diesen einen Lehrgang gemacht und mich bei meinem Chef mehr ins Zeug gelegt hätte.
Es gibt aber nicht nur Schuldbriefe, die sich auf die Vergangenheit beziehen. Es gibt auch solche, die bereits die Zukunft vorwegnehmen.
Seit dem Pisa-Schock trifft der Zwang zum Erfolg mit unverminderter Härte gerade auch Kinder und Jugendliche. Ich werde nie das Gespräch mit einem Konfirmanden vergessen, der sich mit 14 Jahren trotz guter Schulnoten auf dem Gymnasium für zu schlecht für den Arbeitsmarkt hielt: Ich werde es nicht schaffen, es gibt immer noch einen, der besser ist als ich.
So oder so ähnlich lauten die Schuldbriefe, die wir uns selbst schreiben.

Liebe Gemeinde, das Problem bei allen diesen Schuldbriefen ist, dass sie unser Leben zerstören:
Die Schuldbriefe von Banken und Versandhäusern führen Menschen in die Armut. Neulich habe ich mich mit zwei Sozialarbeiterinnen unterhalten, die in der Schuldnerberatung einer Kirchengemeinde arbeiten. Sie haben mir erzählt, dass nur etwa jeder zehnte Betroffene aus der Gemeinde ihre Hilfe sucht. Ich habe sie dann gefragt: Warum ist das so? Warum machen nicht mehr Menschen von diesem Angebot Gebrauch? Ihr erschütternde Antwort: Viele Menschen schämen sich ihrer Schulden so sehr, dass sie es nicht mehr wagen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Während sich zuhause die ungeöffneten Rechnungen stapeln, erfinden sie irgendwelche Geschichten. Legenden, die erklären sollen, warum alles so kommen musste. Nichts ist schwerer, als sich die eigene Lage illusionslos klarzumachen. Mit der Armut kommen dann noch weitere Übel: Krankheit und Vereinsamung. Perspektivlosigkeit schafft Hoffnungslosigkeit.
Die Schuldbriefe, die wir einander schreiben, sind nicht minder zerstörerisch. Die ausgesprochenen und viel mehr noch die unausgesprochenen Vorwürfe belasten unsere Beziehungen. Überall, wo wir miteinander reden und leben, spielen die offenen Rechnungen, die wir miteinander haben, eine Rolle. Sie vergiften die Atmosphäre, sie werden zu einer Macht, die uns voneinander trennt.
Und zuletzt die Schuldbriefe, die wir uns selbst schreiben: sie sind vielleicht die schlimmsten Schuldbriefe, die mit der zerstörerischsten Wirkung. Denn indem wir uns selbst beschuldigen, sind wir für uns selbst Ankläger, Verteidiger und Richter zugleich. Wir sind dem eigenen Urteil ausgeliefert. Das macht Angst. Das macht uns anfällig: für bodenlose Zerknirschung einerseits und Selbstüberschätzung andererseits, und nicht selten schwanken wir zwischen beidem wie ein Rohr im Wind.

Liebe Gemeinde, was haben wir angesichts dieser verschiedenen Schuldbriefe davon, dass Gott unseren Schuldbrief am Kreuz getilgt hat? Inwiefern hat der eine Schuldbrief mit den anderen überhaupt etwas zu tun?
Jemand könnte ja sagen: Lass mich bloß in Ruhe mit Gott und seinem Schuldbrief. Ich habe gerade genug zu tun mit den Schuldbriefen von Banken und Versandhäusern, mit den Schuldbriefen, die andere mir und ich anderen schreibe. Wenn Gott mir über dies alles hinaus auch noch einen Schuldbrief schreibt, dann kann er mir gestohlen bleiben.
Dazu möchte ich sagen: Der Schuldbrief Gottes belastet weder unser Konto noch unser Gewissen. Es ist der Schuldbrief, den Gott schon getilgt hat, den er schon weggetan und an das Kreuz geheftet hat, bevor wir ihn empfangen. Er ist keine offene, sondern eine beglichene Rechnung. Er kennt die Schuld nur als vergebene Schuld. Der Schuldbrief Gottes ist darum kein zusätzlicher Schuldbrief über alles das hinaus, was uns sonst belastet. Er ist vielmehr das Angebot, alles da, was uns belastet, vor Gott zu bringen.

Indem Gott diesen Schuldbrief tilgt, wirbt er um unser Vertrauen. Wir sind mit allem, was unser Leben bedroht und zerstört, von ihm angenommen:
Mit der Scham, die uns daran hindert, andere Menschen um Hilfe zu bitten.
Mit den Legenden, die wir uns zurecht gelegt haben, um vor uns selbst zu bestehen.
Mit den offenen Rechnungen, die wir untereinander haben.
Mit allem, was uns mißlungen ist.
Mit den Fehlern, die wir uns selbst nicht verzeihen können.
Nichts von dem hat die Macht, uns in Zukunft von Gott zu trennen.
Hören wir doch auf, uns selbst Ankläger, Verteidiger und Richter in eins zu sein, dann werden wir den freien Zugang zu Gott sehen, zur Quelle des Lebens, zum Geber aller guten Gaben.

Liebe Gemeinde, einen letzten Gedanken möchte ich mit ihnen teilen: Wer die Erfahrung macht, dass er vor Gott schuldenfrei ist, wird alle anderen Schuldbriefe nicht von heute auf morgen los. Trotzdem liegt darin, dass Gott den Schuldenbrief tilgt, der uns von ihm trennt, die Chance eines neuen Anfangs. Wir sind mit allem, was unser Leben bedroht und zerstört, von ihm angenommen. Es gibt keinen Grund mehr, alles das vor uns selbst und anderen zu verbergen.

Legen wir also die Schuldbriefe auf den Tisch, auch wenn es schwerfällt:
Wir können andere um Hilfe bitten, wo wir sie benötigen.
Wir brauchen keine Legenden mehr, um vor uns selbst zu bestehen.
Wir sollen trotz allem, was uns und anderen mißlungen ist, glücklich werden.

Ich komme zum Schluss: Seit fünf Jahren gibt es in Deutschland nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Privatleute die Möglichkeit, ein Insolvenzverfahren zu eröffnen. Wer seine Geldschulden nicht mehr bezahlen kann, wer in einem Beratungsverfahren alle Rechnungen auf den Tisch legt und innerhalb von sechs Jahren keine neuen Schulden macht, dessen Schulden werden getilgt, der kann wirtschaftlich neu anfangen. Das ist für mich, liebe Gemeinde, ein Gleichnis für Gottes Handeln an uns. Wir können ihm entsprechen in unserem Umgang mit uns selbst und anderen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

(*) Schuldenreport 2006: Schriftenreihe des Verbraucherzentrale Bundesverbandes zur Verbraucherpolitik, Band 7, Berliner Wissenschafts-Verlag, ISBN 3-8305-1109-4, 438 Seiten, 29 Euro.

Pfarrer z.A. Stefan Kläs
Fritz-Windisch-Str. 59
40885 Ratingen
Tel. 02102/1026397

 


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