Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Ostermontag, 17. April 2006
Predigt zu Johannes 20, 1-18, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Rühre mich nicht an!

Er sagte: Rühre mich nicht an! Das ist zu allen Zeiten eine rätselhafte Reaktion gewesen. Aber es liegt überhaupt etwas Schwebendes und Traumartiges in dem Bericht über den Ostermorgen im Johannesevangelium. Die beiden Jünger, die um die Wette zum Grab laufen – jeder will der Erste sein –, und die dann im entscheidenden Augenblick doch den Platz tauschen. Maria Magdalena, die weint und die Engel sieht und die Jesus sieht und ihn dennoch nicht sieht, sondern glaubt, es sei der Gärtner. Sie erkennt ihn nicht, indem sie ihn bloß sieht, sondern erst, als er ihren Namen nennt. Eine vibrierende Unruhe ist in den Menschen, die an jenem Morgen kommen und sehen, dass der Stein vom Grab gewälzt ist. Der Glaube an Jesu Auferstehung von den Toten entsteht in einer überrumpelnden Reihe von Eindrücken und Fragen angesichts des leeren Grabes.

Aber warum sagte Jesus: Rühre mich nicht an? Als Maria Magdalene ihn schließlich doch wiedererkennt und sich ihm aus lauter Freude an die Brust werfen will? Es könnte so kalt und abweisend klingen, aber auch für uns heute wirken die Worte einigermaßen gespenstisch und merkwürdig. In der letzten autorisierten (dänischen) Bibelübersetzung von 1992 sagt er zu ihr: Halte mich nicht zurück! Da bekommt sein Wort plötzlich einen anderen Sinn, es wirkt nicht so kalt und nicht so gespenstisch. Warum darf sie ihn nicht zurückhalten, jetzt wo er lebendigen Leibes vor ihr steht? Weil etwas geschehen ist. Vor seinem Tod war er gegenwärtig wie jeder andere Mensch. Sie konnten ihn sehen, ihn hören, ihn berühren. Jetzt ist es anders. Er wird nicht zurückkehren und unter ihnen leben wie zuvor. Er wird erhöht werden und bei Gott sein. Das bedeutet, dass er von der Gegenwärtigkeit für die Wenigen zur Gegenwärtigkeit für alle übergehen wird. Er wird wie Gott allgegenwärtig sein. Deshalb darf Maria Magdalene ihn nicht aufhalten. Ein Bruch ist geschehen. Er ist von der Vergangenheit aufgebrochen, hat sich vom irdischen Leben frei gemacht, damit etwas Neues kommen kann: Er wird der allumfassende Heiland sein, darum kann er nicht mehr an einen bestimmten Ort auf der Erde oder an betimmte Menschen, die ihn lieben, gebunden sein. Er muss von der Vergangenheit aufbrechen, um der zu sein, der die universale Gemeinschaft stiftet, wo die Liebe allen gilt und allen gehört.

Aber schon die Engel in der Grabkammer sagten es: „Frau, warum weinst du?“ Als ob es gar nichts gegeben hätte, worüber man hätte weinen können. Der Tote war nicht da. Sie sollte nicht in dem Grab nach ihm suchen, nicht den Tod und die Trauer pflegen. Dass sich der Tote nicht im Grab befand, bedeutete, dass er unter den Lebenden zu suchen war. Die Engel schickten sie aus dem Grab, machten sie frei, nicht über einen Verstorbenen zu trauern, sondern sich über sein neues Leben zu freuen. Das leere Grab bedeutet einen Bruch mit aller Versteinerung und Pflege des Unabwendbaren. Es bedeutet einen Aufbruch von der Resignation und Eingeschlossenheit der Trauer. „Frau, warum weinst du?“, fragten die Engel verwundert. Konnte sie nicht sehen, dass er nicht mehr tot war, sondern lebendig für die Welt? Dass Bewegung im Leben war und dass sie frei war, hinauszugehen und mit einem neuen Bewusstsein zu leben? Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft arbeiteten in ihr, und noch war sie nicht frei und abgeklärt. Sie kehrt in ihrer Verzweiflung dem Grab den Rücken und sieht Jesus und sieht ihn dennoch nicht, sondern fragt trotzig und eigensinnig, wo sein toter Leib ist. Noch ist sie nicht frei vom Griff des Todes, sondern sie klammert sich an die Reste der Vergangenheit. Es ist den Engeln nicht gelungen, sie zu überzeugen, aber eine Ahnung ist geschaffen. Etwas Außerordentliches beginnt in ihrem Herzen zu keimen.

Nimm das schwarze Kreuz vom Grab!
Pflanze eine Lilie dort, wo es stand!

So singen wir jede Ostern mit Grundtvigs Lied von Maria Magdalene am Ostermorgen. Optimistisch, froh, uns losreißend von den Banden des Todes und der dunklen Nacht der Trauer. Aber es ist eine anstrengende Arbeit, es zu tun. Es geschieht ruckweise – und es geschieht nicht ohne die Hilfe des Daseins. Wie ein Mensch, der den Menschen verloren hat, den sie am meisten geliebt hat, und wie ein Mensch, der den Glauben und die Hoffnung auf ein zusammenhängendes Leben verloren hat, klammert sich Maria Magdalene an das, was sie verloren hat. Und an die Zeit, die vergangen ist, aber jetzt nicht mehr ist. Als Jesus ihr zwischen den Gräbern im Garten erscheint, lodern der Glaube und die Hoffnung und die Liebe wieder auf. Einen kurzen Augenblick glaubt sie, alles würde wie vorher sein. Es ist allgemein menschlich, sich an das, was man kennt, zu klammern, an das, was gewesen ist, die Zeit zurückzudrehen und sich Tod und Trauer vergessen und überwunden zu wünschen, auf dass alles wieder wie vorher sein soll. Das war Maria Magdalenes verborgener, unbewusster Traum. Und einen Augenblick lang glaubte sie, dass er Wirklichkeit geworden war. Aber nein. „Halte mich nicht zurück!“ sagte er. „Ich bin nicht gekommen, um zu bleiben. Ich gehe zu meinem Vater im Himmel, zu Gott, zu deinem Gott und meinem Gott.“ Es sollte nicht wie früher sein, es sollte neu und größer, ja, allumfassend sein. Das war es, was er ihr zu sagen versuchte, so dass sie es verstehen konnte. Das, was sie geliebt, geglaubt, gehofft hatte, – es sollte nicht ihr Eigentum und das Eigentum der Jünger allein sein, es sollte zur Freude und Freiheit aller dienen. Die Arbeit und die Bewusstmachung, die nötig sind, um das schwarze Kreuz vom Grab zu nehmen und eine Lilje an seiner Stelle zu pflanzen, bestehen darin, darauf verzichten zu können, dass es wie eigener Besitz war, und verstehen zu können, dass nichts privater Besitz ist, sondern dass alles für die Gemeinschaft daist. Die Gemeinschaft zwischen den Toten, den Lebenden, den noch nicht Geborenen... Und wenn das nicht so wäre, würde der Einzelne in Selbstmitleid und Pflege der Vergangenheit erstarren, der Tod würde die Macht ergreifen, das Leben würde untergehen.

Das hatte Maria Magdalene nicht verstanden. Sie hatte in ihrer eigenen von Träumen erfüllten Welt gelebt. Sie hatte an die Stelle der Wirklichkeit ihre eigenen Vorstellungen und Einbildungen gesetzt. Man sagt, es sei ein anderer nötig, um einen aus einer solchen privaten und eigensinnigen Welt zu reißen. Dass es dazu der Begegnung mit einem anderen, eines Gesprächs bedarf, damit etwas Neues in der geistigen Entwicklung eines Menschen geschehen könne. Damit sich die Wirklichkeit im inneren Kreislauf zur Geltung bringen kann. Jetzt sprach Jesus zu Maria Magdalene und sagte ihr, was sie tun sollte. Sie war nicht mehr allein. Er sagte, sie solle zu den Jüngern gehen und ihnen sagen, dass er nicht bei ihnen bleiben, sondern bei Gott sein werde. Bei dem Gott, dessen Wille es gewesen sei, dass er aus Liebe sterben und damit die Welt verändern sollte. Maria Magdalene wurde durch diese Worte aus ihrer Sehnsucht nach der Vergangenheit und aus ihrer eigenen Vorstellungswelt gerissen. Sie erfuhr, dass sie den Garten mit den Gräbern verlassen solle, seine Freunde aufsuchen und ihnen erzählen sollte, dass er sie alle verließ, um bei Gott zu sein. Sie sollte ihre eigene Welt verlassen und nur verkünden, was er gesagt hatte. Es war eine neue geistige Wirklichkeit, die damit in ihrem Innern entstanden war. Eine nach vorn gerichtete Wirklichkeit...

Christus war von den Toten auferstanden – sie hatte ihn selbst gesehen. Die Erzählung des Johannesevangeliums vom Ostermorgen ist voller Unruhe und Missverständnisse. Man braucht Zeit, sich das Außerordentliche anzueignen. Aber Maria Magdalene erzählt am Ende ihr Erlebnis weiter. Sie kann nicht anders. Und sie soll auch nichts anderes tun. Was sie gesehen und gehört hat, das sollen wir wissen. Und dann liegt es an uns, das zu verstehen. Die Auferstehung bedeutete einen allumfassenden, einen kosmischen Sieg der Barmherzigkeit. Den Sieg, den Christus in seinem kurzen Leben auf Erden inkarniert hatte. Von diesem Augenblick an bekam er Geschichte, er wurde zu einer Bewegung in Zeit und Raum, in Geschichte und Ewigkeit. Die Welt wird niemals wieder so sein, wie sie war, bevor Jesus von den Toten auferstand. Es war ein Ereignis, das die Welt revolutionierte, das für immer den Gang der Geschichte änderte. Vom Gedanken an Gott als einen strengen und fordernden, strafenden und rächenden Gott zum Gedanken an Gott als gnädig und barmherzig, als liebend, vergebend und erneuernd – einen Gott in Bewegung. Die Auferstehung ist Symbol einer Auffassung von der Menschheit als einer Gemeinschaft verlorener Seelen, die ihrem Heil entgegengehen, weil Christus ihnen zu Gott voranging. Darum bedeutet die Auferstehung Licht über dem Menschenleben. Eine Zukunft, die vom Licht der Gnade Gottes beschienen ist. Der einzelne Mensch geht unabwendbar seinem Tod entgegen. Der einzelne Mensch wird unabwendbar die Menschen verlieren, die er liebt. Aber zugleich geht er auf das Licht der Auferstehung zu, das Gottes allumfassende Barmherzigkeit ist. DieAuferstehung von den Toten war das Werk eines einzelnen Menschen, da Christus am Ostermorgen auferstand. Aber es wurde bedeutungsvoll für uns alle und für unser Verhältnis zu der gemeinsamen Gegenwart und Zukunft.

Fröhliche Ostern. Amen.

Pastor Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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