Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Karfreitag, 14. April 2006
Predigt zu Lukas 23,26-49 / Johannes 19,17-37,
verfasst von Anders Gadegaard (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Wir lieben ihn, diesen schönen Menschen. Die Inkarnation der Liebe. Wir lieben seine Aufopferung, seinen kompromisslosen Kampf für Wahrheit, Liebe, Freiheit und Verantwortung.

Aber die Welt und wir in ihr sind nicht im geringsten besser geworden im Laufe der knapp 2000 Jahre, die vergangen sind, seit er leibhaftig herumgewandert ist und von der Wahrheit lehrte. Menschen verbreiten Tod und Zerstörung untereinander, unfassbare Leiden treffen blind. Wir brauchen nicht einmal unsere eigene enge Welt zu verlassen, um das zu sehen. Menschen leiden und sterben ohne Kontakte, erliegen geborstenen Hoffnungen, gehen in der Destruktion zugrunde – an der Gleichgültigkeit anderer oder der eigenen Enttäuschung, nicht das zu können, was man gern möchte.

Das Leben in der geborgensten Gesellschaft der Welt ist oft genauso unerbittlich und unerträglich wie anderswo. Die Selbstmordrate in Dänemark ist noch immer eine der höchsten in der Welt.

Wir kennen die Liebe – wir kennen sie allzu gut – und wir sehnen uns. Wir lieben die Liebe – wir lieben Christus, den zum Tode mit Liebe Gesalbten. Wir lieben ihn – und wir krönen sein Haupt mit Dornen, und wir durchbohren seine Hände und brechen seine Arme und Beine. Wir wissen es nur allzu gut, die Verzweiflung lauert in jedem ernsten Menschen – wir können weder uns selbst noch das Leben aushalten. – Wer kennt nicht die Versuchung, die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und der Konfrontation mit noch einem unerträglichen Tag auszuweichen?

Früher, als ich noch jünger war, dachte ich, wenn Leute in all ihrer Not und all ihrem Leid zu mir kamen, dass es in dem Gespräch mit ihnen darum gehen müsste, dasjenige Gute zu ergründen, das es doch immer im Leben eines Menschen geben müsse. – Insoweit ein logischer christlicher Ausgangspunkt. Wir betrachten das Leben als lebenswert, als ein fundamentales Gut, Gott hat das Leben gut geschaffen, deshalb müssen wir jederzeit zu diesem ursprünglichen Guten zurückfinden können, auch wenn man am allerdeprimiertesten oder völlig außer sich ist. Deshalb habe ich versucht, den Verzweifelten zu dem Wertvollen im Dasein hinzuführen. Ich fragte: „Hast du denn keine guten Freunde, nur ein paar? Gibt es denn nicht irgend etwas im Lauf eines Tages, das dir Freude macht? Interessen, einen Spaziergang im Wald?... – Wenn es sich um sehr Deprimierte, vom Selbstmord Bedrohte handelte, war diese Suche oft wie eine Wanderung in einer Wüste, die bloß damit endete, dass das Gefühl der völligen Sinnlosigkeit nur noch zunahm; denn je deutlicher wurde, dass keine Aufmunterung zu finden war, desto deutlicher war dem Deprimierten, dass es nichts gab, wofür es sich zu leben lohnte!

Indem ich von meiner eigenen Energie, meiner eigenen Lebensfreude ausging anstatt von dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit auf Seiten dessen, der alles aufzugeben im Begriff war, bestätigte ich ja nur das Ausmaß der Hoffnungslosigkeit. – So etwas ist nicht gerade ein eindrucksvolles Ergebnis eines seelsorgerlichen Gesprächs!

Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir uns zu Trauer und Not anderer so verhalten: „Du wirst sehen, das geht schon vorbei, die Zeit heilt alle Wunden. Es gibt doch auch vieles, worüber man sich freuen kann!“ – Ein geringer Trost, wenn alles von Trauer, von Schmerz, von Überdruss und von Resignation gefärbt ist.

Gottes Sohn tat etwas anderes. Sein Wesen war die vollkommene Liebe, die das Leid nicht bagatellisiert oder fortlügt. Er nahm daran mit Mit-Leiden teil. Er stellte sich selbst unter diese Bedingungen. In all seinem Leiden, seiner Verspottung und seinem Schmerz, in allem, was ihm von denselben Menschen angetan wurde, für die er lebte, begegnete auch er der völligen Gottverlassenheit. Alles wurde schwarz – und dennoch hielt er an der Liebe fest in der Vergebung des Menschen, sogar seiner eigenen Henker: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“

So sollen auch wir den Schmerz und das Elend anderer – und unser eigenes – ernst nehmen. Die Berechtigung in ihnen sehen. Die Klage Gestalt gewinnen lassen. Denn durch die Schreie und Klagen können wir vielleicht ein Licht ahnen. Wenn wir in Trauer sind, wenn wir Verlust empfinden oder Sehnsucht – dann haben wir ja etwas gekannt, was wir vermissen und wonach wir uns sehnen. Dann ist da ja etwas, woran sich die Hoffnung knüpfen kann.

Weißt du, was Glaube ist? Glaube ist Gottes Vereinigung mit der Seele. Er kommt zu dir in der Finsternis deines Lebens, nimmt Wohnung in dir, vereint sich mit dir, und in deiner tiefsten Nacht, wo du dich ganz dir selbst überlassen glaubst, auch verlassen von Gott, da, in der Gethsemanenacht, wo die letzten Freunde schlafen, wo sich niemand deiner annimmt, sondern alle dich deinem Untergang überlassen haben, und selbst Gott schweigt, da vollendet Gott seine Vereinigung mit dir und schafft Glauben.

Auf diesen Glauben antworten heißt zuhören und dasjenige in uns sehen, was in der Finsternis ist, was in dem Schweigen ist, in der Verzweiflung. Wenn dein Schmerz und deine Klage am bittersten ist, dann geschieht das, weil du irgendwo von etwas weißt, was sein könnte! Dieses Etwas, das nicht ist, aber sein könnte, ist das Nichts in dir, aus dem Gott schafft. Der Glaube, der der Leere in dir entspringt, wie Christus das leere Grab hinterlassen hat als Grundlage unseres Osterglaubens. Die Finsternis durchbrochen von einem zarten Lichtstrahl, ein Keil drängt sich in die Grabesfinsternis unseres Gemüts. Und dann erwacht vielleicht eine Hoffnung – dass es auch in deinem Leben geschehen kann, dass Finsternis in Licht verwandelt wird, Verzweiflung in Glauben, Tod in Leben.

Diese wahnwitzige Behauptung ist die Behauptung von Karfreitag. Deshalb, wenn wir Christus mit Dornen krönen und seine Hände durchbohren, weil wir einen anderen Menschen verletzen oder weil wir uns selbst zerstören – dann ist er dort gegenwärtig in der Finsternis, um unsere Sünde zu tragen, uns zu vergeben, mit uns ins Grab zu gehen und uns wieder aus ihm zu heben ins Freie zu neuem Leben.

Wunderbare Tiefe der Weisheit in diesem alles entscheidenden Ereignis, wo Göttliches und Menschliches sich begegnen und eins werden! Welch ein bitteres und süßes Ereignis! Diese schmerzliche Grausamkeit verbunden mit der größten Liebe! Durch all dies Furchtbare zu gehen, verursacht von denen – von uns – die damit nie mehr in der äußersten Not allein gelassen sind, sondern auch da dem Gott begegnen, der vergibt und uns bis zum Tod liebt.

Das ist das Rätsel des Kreuzes: Der Mensch kreuzigte Christus, und wir kreuzigen ihn noch immer: wir erschlagen Liebesleben. Und doch geschah das alles um des Menschen willen, Christus opfert sich jeden Augenblick um unseretwillen.

Hier ist Christus zu finden: in Gottes Selbsthingabe an uns, im Opfer, in der Selbstaufopferung der Liebe. Nicht im siebten Himmel oder in weisen Büchern oder in frommen Gebeten, sondern tief drinnen in deinem und meinem Kampf, in der Verzweiflung und Angst, in dem Kampf, mit dem Leben zurecht zu kommen, und in der Angst vor der unbekannten Tiefe – im Dasein und in einem selbst, in der Selbstverachtung, im Schmerz, der Krankheit und der Trauer. Bei allen Opfern der Graumsamkeit sowohl des Lebens als auch des Menschen selbst, da ist Christus, bereit sich zu opfern um der Menschen, um unseretwillen.

Das ist der Trost von Karfreitag, mitten in der Trauer. Christus wurde eins mit uns. Wenn wir meinen, die Finsternis schließe sich am allerdichtesten um uns – dann erfahren wir, dass es einen gibt, der mit uns leidet, der die Macht der Finsternis für uns überwindet und uns damit befreit, das Leben zu lieben. Er bringt uns durch die Finsternis und wieder hinaus ans Licht – wie er selbst durch die Finsternis und wieder ans Licht gebracht wurde am Ostersonntag. So ist der Ostermorgen ein Teil der Ereignisse schon am Karfreitag. Die Erhöhung Christi nahm ihren Anfang vor dem Ostermorgen. Es war Auferstehung in allem, was Jesus sagte und tat, als er lebte – auch Karfreitag. Die Lebensbestätigung der Kreuzigung besteht darin, dass der Gott und Schöpfer des Lebens von da an immer gegenwärtig ist im größten Leiden, in der größen Angst und Verzweiflung, um seinen geliebten Menschen wieder zum Leben zu befreien. Das ist der Trost von Karfreitag, das ist das Rätsel des Kreuzes.

Dies Geheimnis deines Kreuzes
glaub ich, Herr, kraft deines Geistes!
Hilf, will mich der Feind verderben!
Reich mir deine Hand im Sterben!
Sprich: „Wir gehen ins Paradies!“
(Grundtvig, Dänisches Kirchengesangbuch, Nr. 192,9)

Amen.

Dompropst Anders Gadegaard
Fiolstræde 8,1
DK-1171 København K
Tel.: +45 33 14 85 65
E-mail: abg@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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