Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Karfreitag, 14. April 2006
Predigt zu Hebräer 9, 15.26b-28, verfasst von Alfred Buß
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


I
Wie es den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben....
An einem Karfreitag Musik zur Sterbestunde Christi. Ein Crescendo reißt ab. Stille. Keine Blumen auf dem Altar, auch die Kerzen werden gelöscht. Ihr Rauchfaden steht noch eine Weile in der stillen Luft wie ein angehaltener, verwehender Atem. Die herausragenden Stacheln einer Dornenkrone halten alles Lebendige auf Distanz. Den Raum durchspannt vernehmbares Schweigen. Jetzt nicht weglaufen; die Stille aushalten. Standhalten, wo gelitten und gestorben wird. Sich dem Anblick des Gekreuzigten aussetzen. Im Sterben dieses Einen das Leiden und Sterben der Vielen wahrnehmen. Als wären sie in dieser Gestalt zusammengezogen, verdichten sich im gekreuzigten Christus Bildfetzen alltäglicher Gewalt, von Ungerechtigkeit, Bosheit und Elend der Welt.

Wie schwer fällt das: Am Karfreitag im Sterben Christi erst einmal nichts anderes wahrzunehmen als das Sterben. Es auszuhalten. Sich nicht dagegen imprägnieren. Verlockend ist es, wegzulaufen – zu den bunten Eiern in den Frühlingsgärten – in die Welt des so reibungs- und makellos scheinenden Lebens - und so Karfreitag einfach zu überspringen.

II
Christus ist einmal geopfert worden. Viele fühlen sich abgestoßen vom blutdürstigen Gott des Karfreitags, der offensichtlich Opfer braucht. Im Hintergrund des Hebräerbriefes fließt das Blut von Kälbern und Stieren, werden Sündenböcke in die Wüste gejagt. Ein archaischer Opferkult bildet die Kulisse. Uns ist das fremd. Solche Bilder stoßen ab. Wir opfern doch heute keine Böcke, Kälber und Lämmer mehr. Wir suchen nach einer Religion, die von Gewalt erlöst. Haben wir das Stadium der Opferreligion nicht längst hinter uns?

Der Kabarettist Hans-Dieter Hüsch hat es, wie so oft, auf den Punkt gebracht:
Das Lamm ist uns heilig. Es wird nicht geopfert, sondern liegt auf dem Sofa und sieht allen Unzulänglichkeiten zu... (1)
Wir wollen ohne Opfer leben. Wir sind aufgeklärt und humanisiert. Bitte keine Gewalt! Das Lamm soll friedlich auf dem Sofa liegen.

Wirklich?
Am 26. April jährt sich zum 20. Mal die Katastrophe von Tschernobyl. Tausende von Einsatzkräften verhinderten damals das völlige Durchschmelzen des Reaktorkerns. Aber ihre Körper wurden von der Strahlung verseucht. Ein Jahr danach kommentierte der ARD-Korrespondent Gerhard Bott: „Es ist ihr letzter Sommer“ und dann „Sie sind auch für uns gestorben.“

Menschen sterben für andere, lassen ihr Leben für einen höheren Zweck. So wurde ein noch größeres Unglück vermieden. 70 000 Menschen verloren in der Folge ihr Leben. Viele sind von Krankheiten gezeichnet. Sie alle sind Opfer unseres Energie fressenden Lebensstils.

An Extremsituationen tritt uns klarer vor Augen, was alltäglich geschieht: Leben setzt sich durch auf Kosten anderen Lebens. Wir verzehren andere Lebewesen, um unser Leben zu erhalten. Frühere Kulturen spürten noch Skrupel, fremdes Leben für das eigene zu verbrauchen. Darum haben sie den Göttern geopfert, wenn sie z.B. Fleisch aßen. Wir Heutigen opfern die Vielfalt der Arten fast unbemerkt, weil wir so leben, wie wir leben. Eigentlich wollen wir Opfer vermeiden; nur unser individuelles Leben gut gestalten und dabei nicht selber zum Opfer werden. Aber dieser Wunsch ändert nichts daran, dass jedes Leben vom anderen abhängt. Gerade wer nur für sich selber leben will, braucht und verbraucht dafür andere.

Überbordende Gewinne von Kapitalgesellschaften werden heute mit dem Abbau von Arbeitsplätzen verknüpft, um Morgen noch besser dazustehen. Rund um den Globus fließt es an Gütern, Dienstleistungen, Informationen, Technologien, Finanzkapital, Menschen. Doch wer wird dabei arm und wer wird reich? Die einen leben auf Kosten der anderen.

Das Auge der Kameras zeigt uns die Kampfplätze der Welt. Wir können – auf dem Sofa - teilnahmslos am Elend der anderen teilnehmen – viel bequemer noch als die Gaffer beim Unglück auf der Autobahn. Den Impuls, Opfern beizustehen, darf man dabei vergessen. Teilnahmslos zuschauen treibt die Angst aus. Es leiden und sterben ja andere. Nein, das Lamm liegt nicht friedlich auf dem Sofa. Wir können wohl nicht ohne Opfer leben.

III
... danach das Gericht...
Auf Kosten anderer leben – das bleibt nicht folgenlos. Das Gleichgewicht des Lebens wird verletzt; nicht nur des biologischen, sondern allen Lebens. Der Angriff auf das sensible Beziehungsgeflecht von Menschen, Gott und Kreaturen bleibt nicht ohne Folgen. Herausgefallen aus der Gemeinschaft mit Gott, leben wir Menschen in gestörten Verhältnissen untereinander. Wir können die Integrität des Lebens nicht wieder herstellen. Verletzte Beziehungen lassen sich nicht regulieren wie ein materieller Schaden. Sie nehmen uns gefangen, ob wir wollen oder nicht.

Dabei schlagen die Verfehlungen gegen das Leben nicht notwendig auf die Urheber zurück. Wenn Industrieländer die Atmosphäre z.B. ersticken, müssen oft Arme die Turbulenzen des Klimas ertragen. Aber Schuld erschöpft sich nicht in Schuldbewusstsein. Die Verfehlungen gegen das Leben sind nicht so harmlos, wie wir sie gerne hätten. Sie verquicken sich zu einer unheilvollen, destruktiven Macht.

Dem Menschen ist es bestimmt, einmal zu sterben, danach das Gericht...
Erlöschen auch unsere Übertretungen, wenn unser Leben verlischt? Ist mit unserem Sterben alles erledigt, was war? Ist der Prozess gegen Milosevic gegenstandslos nach seinem Tod? Damit tröste sich, wer mag. Dem Menschen ist es bestimmt, einmal zu sterben, danach das Gericht...

Man kann nicht vor Gott ins Nichts entfliehen. Das scheinbare Nichts ist nur die Kehrseite Gottes. (2) Der Hebräerbrief hat dafür ein eindringliches Bild: selbst die himmlischen Räume müssen gereinigt werden. Sogar der Himmel erscheint im Karfreitagslicht. Bis dorthin reichen die Folgen menschlicher Übertretungen. Menschliche Schuld steht vor Gottes Thron, wird dort gekannt und dort in ihrer Realität festgehalten. Im Himmel wartet unsere Schuld auf uns. Das macht sie so unerreichbar für unsere wohlgemeinten Guttaten.

Ernsthafte Bitte um Verzeihung birgt ja den ganz unsentimentalen Wunsch in sich, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Aber das geht nicht. Was geschah, ist irreversibel, unumkehrbar. Es muss noch einmal alles zur Sprache kommen, sonst bleiben die Täter die Täter und die Opfer die Opfer – auf ewig. Dem Menschen ist es bestimmt, einmal zu sterben, danach das Gericht...

IV
Nun aber! Nun aber ist er ein für allemal erschienen... durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Gott hat sich vorbehalten, die unerträglichen Folgen unserer Gottvergessenheit selber auf sich zu nehmen.

Vergeblich unsere Bemühungen, mit unseren Übertretungen fertig zu werden und die Welt wieder ins Lot zu bringen. Mit grandiosen politischen, wirtschaftlichen oder biotechnischen Entwürfen wird immer wieder versucht, die Welt neu zu machen und dabei die Menschen von innen her anders zu erschaffen. Für die erschaute Zukunft plant man –notwendige - Opfer ein. Es erstehen glühende Hoffnungen, ob sie nun wärmen oder – wie meistens - Brände entfachen. Die Unzulänglichkeiten liegen bald auf der Hand, das Ungenügen scheint durch. Es ist ein Zuwenig; zugleich ein Zuviel an Blutvergießen. Das wahrhaft Positive muss und kann nicht gemacht werden. Wir müssen es auch nicht selber herbeiführen.

Nun aber! Das ist Gottes Zäsur mitten in den Zeiten. Jesus Christus tritt dazwischen; zwischen uns und unsere Schuld, zwischen uns und die verheerenden Folgen unseres Tuns und Lassens. Er trägt den Konflikt in sich selber aus. Nicht Gott braucht Blutopfer; in Christus opfert Gott sich selbst. Er lässt sich die Sünden der Welt aufladen, das Unheil der Welt wird ihm buchstäblich auf den Leib geschrieben und schlägt ihm Wunden. Das ist nicht mehr steigerbar: Gott opfert nicht etwas, sondern sich selbst. Es bedarf nun ewig keines Opfers mehr, die Sünde ist durch ihn weggetragen und ausgetilgt. Über uns wird Gericht gehalten werden, aber auf uns wartet der Freispruch, gr. apolutr wsi V, verdolmetscht Losbindung, Entfesselung, Befreiung, Erlösung; die Eröffnung des weiten Raums in seinem Licht.

V
Und wie es dem Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen...
Als Dietrich Bonhoeffer 1935 das Predigerseminar in Finkenwalde einrichtete, verwandelten die Seminaristen mit etwas Leinfarbe, Kistenholz und Nessel die Turnhalle in eine Kapelle. An der Stirnwand leuchtete in Goldbuchstaben dieses programmatische Wort aus dem Hebräerbrief: HAPAX... wie es dem Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen...
Einmal! Das heißt nicht: es war einmal. Nein, HAPAX bedeutet: ein für allemal.

Wie der Tod das Leben unwiederholbar macht, so wird die Versöhnung Gottes durch den Tod Christi unumstößlich. HAPAX: in diesen fünf Buchstaben setzte Bonhoeffer das ein für allemal des Heils im Tode Christi gegen den deutschchristlichen Mythos, Gott bewirke im Führer Heil. Die Theologische Erklärung von Barmen bekannte 1934 dieses ein für allemal so: Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

VI
Zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten zum Heil.
Es ist doch alles geblieben, wie es war. Menschen werden aneinander schuldig. Bosheit und Gewalt herrschen. Wie kommen wir dazu, dem Tod Christi diese heilende Kraft zuzutrauen? So hörte der Verfasser des Hebräerbriefes seine Gemeinde fragen. So fragen wohl auch wir. In der Welt regiert nicht der Glaube an den gekreuzigten Gott. Und die Zahl der Opfer seit Golgatha ist schier endlos.

Doch der Rhythmus der Übertretungen bestimmt nicht die Zahl der Opfergänge Christi. Er hat sich ein für allemal zum Opfer gemacht. Er wird zum zweiten Mal nicht der Sünde wegen erscheinen. Das Bild des Menschen ist ein für allemal wieder hergestellt. Auch ich bin ihm genug, schon heute.

Woher ich den Glauben nehme? Das ist das Testament Christi für uns. So sagt es der Hebräerbrief: Christus hat uns dieses neue Testament Gottes übermittelt und es mit seinem Tod besiegelt. Wie jedes Testament nach dem Tod geöffnet und der Inhalt verkündet wird, so können auch wir nur staunend hören, was hier verfügt ist. Dafür konnten und können wir – Gott sei Dank – nichts tun. Es gibt ein Geschehen in der Zeit, das kann nur vom Himmel her begriffen werden. An dessen Zustandekommen sind wir gänzlich unbeteiligt. Und weil es nicht abhängt von uns, darum können wir es glauben:

Es wird die Zeit kommen, in der die Sünde – unbegreiflicherweise – kein Thema mehr sein wird. Es wird die Zeit kommen, in der wir nicht einmal mehr aus Vergebung leben müssen. Wir werden Gott lieben können, uneingeschränkt lieben. Wir werden fähig, endlich fähig sein zur offenen Gegenliebe. Was wir immer ersehnten und erwarteten, aber durch die Sünde tief verschattet war, liegt leuchtend vor uns. Wo wir bisher quälend befangen waren, sind wir frei. Welche nie gekannten Gefühle, Empfindungen, Gedanken können dann von uns Besitz nehmen? Welcher Dank, welche Anbetung wird möglich sein, wenn der Gekreuzigte erscheinen wird um Gottes willen, um unsretwillen, aber nicht mehr um der Sünden willen!

Wir warten auf ihn zum Heil. Was wir erwarten, das wird die Erscheinung unseres eigenen Lebens sein, jenseits von Sünden, befreit von Schuld. Der auferstandene Herr trägt unsere Wunden. Sünde, Leiden und Tod haben keine Macht mehr über uns. Gott hat sie in sein Leben verborgen und erträgt sie ewig an sich. Seine Liebe hat alles Lebensfeindliche umhüllt. Darum geht es am Karfreitag: Gott hat den Fluch des Todes auf sich genommen, damit wir leben. Hapax. Ein für allemal. Amen


Alfred Buß, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen
Altstädter Kirchplatz 5
33602 Bielefeld
Sekretariat_Praeses@lka.ekvw.de

(1) Hans-Dieter Hüsch in: Das Schwere leicht gesagt 1993, S.58

(2) vgl. Hebr. 10,31

 


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