Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Karfreitag, 14. April 2006
Predigt zu Hebräer 9, 15.26b-28, verfasst von Henning Kiene
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


"Christus ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil."

Liebe Gemeinde!

„Wir haben’s nur für unsere Kinder getan. Den Kindern soll es mal besser gehen als uns“, sagt eine Frau beim Nachbarschaftsabend unserer Kirchengemeinde. Der Akzent in ihrer Sprache verrät ihre Herkunft. Sie erzählt selber, sie hat in Kasachstan gelebt. Vor einigen Jahren ist sie mit ihrer Familie nach Meldorf übergesiedelt. „Man nennt uns Russlanddeutsche“, sagt sie, „wir haben wirklich viel zurückgelassen. Der Anfang hier ist schwer. Doch wir denken dann an unsere Kinder. Die haben heute endlich gute Zukunftsaussichten!“

„Wir haben’s nur für unsere Kinder getan!“. Ich bin mir sicher, diesen Satz sagt diese Mutter stellvertretend für viele andere Menschen. Denn das ist heute sicher, das Leben verlangt in vielen Situationen Opfer von uns. Wie die Mutter aus Kasachstan meint für ihre Kinder das Beste zu tun, so sorgen wir für unsere Kinder und Enkelkinder. Es geht um ihre Zukunft.

Ich war vor Jahren davon überzeugt, dass die Zeiten, in denen wir Opfer bringen müssen, vorbei seien. Verzicht, schmerzhafte Selbstbegrenzung, es sah mal so aus, als sei das alles nicht mehr nötig. Heute weiß ich, das war ein Irrtum. Die leicht bedrückende Stimmung, die der Karfreitag mit den vielen schweren Texten und den dunkel wirkenden Passionsliedern verbreitet, kann wie eine Botschaft aus lange vergangenen Zeiten wirken. „Wer kann wirklich verstehen, dass Gott seinen liebsten Sohn am Kreuz hingibt?“ Antwort: „Niemand verseht das so wirklich richtig! Es sei denn, er gerät selber in diese Geschichte hinein.“ Heute bin ich davon überzeugt, die wirklich tragenden Lebensperspektiven entstehen aus dem Karfreitag. Vieles will unter Schmerzen neu geboren werden. Gott hat das begonnen. Manches entsteht auch daraus, dass die Bereitschaft selber Opfer zu bringen, zunimmt.

Dieser Karfreitag könnte einen Beitrag leisten, in dem alten Wort „Opfer“ wieder einen besseren Klang zu hören. Wenn jemand durch die Reihen unserer Kirche gehen würde und nur die Großmütter und die Großväter bitten würde aus ihrem Leben zu erzählen, dann würden wir vermutlich wissen, worum es geht. Hier haben viele vieles, einige sogar alles gegeben, damit sich in ihren Familien eine Perspektive auftut! Ich erinnere, wie ein Vater sagte, „ich würde alles geben, damit mein Kind leben darf.“ Sein Kind lebt, er musste nicht alles geben. Er weiß, Gott hat das getan.

Der Hebräerbrief kann unsere Gedanken leiten. In diesem Brief lese ich, wie das Opfer Christi dem Leben der Christinnen und Christen eine Zukunftsperspektive eröffnet. Gott wird selber durch Jesu Opfer bewegt. Jeder Schlag gegen Jesus trifft Gott ins Mark. Das ist das erste und einzig gültige Opfer. Gott bringt es, niemand sonst. Es wird sichtbar, dass Gott selber so stark betroffen ist, dass er der Schuld den Abschied gibt. „Ein für alle Mal!“ Das ist das, was sich der Vorstellungskraft entzieht, dass Gott sein Liebstes dahingibt. Doch noch unvorstellbarer ist, dass genau so eine Perspektive eröffnet wird. Der Karfreitag ist eine Krise, in die Gott hineingeht und er steht zugleich für eine Veredelung, die der Glauben erfährt und die das Leben fortan prägt. Um es im Bild zu sagen: Es ist wie ein Galvanisierungsprozess, in dessen Verlauf geht Metall durch viele ätzende und energiegeladene Säurebäder. Am Ende taucht aus dem letzten Bad statt des stumpfen Metalls blitzendes Chrom auf. Ich habe die Stimme der Mutter, die in Kasachstan alles aufgegeben hat, damit ihren Kindern eine bessere Zukunft eröffnet wird, noch im Ohr, „Ich habe es nicht für mich getan, ich habe es für unsere Kinder getan!“ Solche Perspektiven entstehen aus Karfreitag heraus.

In der letzen Woche fand im Fernsehen eine Themenwoche zum Leben mit Krebs statt. Da wurden in vielen, die die Sendungen verfolgt haben, auch Erinnerungen wach. Die Tochter einer Kranken erzählte mir von der Krebserkrankung ihrer Mutter: „Ich habe sie wochenlang zur Chemo begleitet, sie brauchte mich. Ich habe ein Studiensemester verpasst. Ich war jung, war ganz gesund, wollte leben, feiern und musste in die Welt der Kranken eintauchen. Doch heute weiß ich, ich habe in dieser Zeit mehr gewonnen, als ich verlieren konnte.“

Ein Mann, der schon in den „besten Jahren“ war, erinnerte sich, „als ich begriffen hatte, was von mir erwartet wurde, war alles wie selbstverständlich.“ Er hat seinem schwer kranken Bruder eine seiner beiden gesunden Nieren gespendet. „Der kann jetzt wieder richtig gesund leben. Ich spüre nur noch wenig von dem Verlust meiner einen Niere.“ Dass die Brüder seit Jahren kaum Kontakt hatten, spielte keine Rolle. Dass der Kontakt nicht viel besser geworden ist, auch nicht. Er ist davon überzeugt, dass er dieses Opfer schuldig war.

Christus hat das Opfer gebracht. Er hat es „ein für allemal“ hinter sich gebracht, schreibt der Hebräerbrief. Opfern heißt: Ich empfange, weil ein anderer bereit ist, sich selber in Gefahr zu begeben. Aus dieser Gefahr heraus geht es in meinem Leben weiter. Mehr noch: Da wird Jesus Christus so schwer belastet, dass er anderen, uns ihr stumpfes Leben zu Glanz bringt. Heute erfahre ich, dass die Bereitschaft von sich selber so viel zu geben ihren Ursprung in Gottes Handeln hat.

„Ich habe es nicht für mich getan, ich habe es für sie getan!“ Dieser Satz, den die Eltern als Lebensweisheit vielleicht aus Kasachstan mitgebracht haben, gehört zum Karfreitag. Gott will keine Opfer, die ihn besänftigen. Ich muss mich aber fragen lassen, wann und wo und wie von mir etwas erwartet wird. Amen.

Propst Henning Kiene
Kampstraße 8a
25704 Meldorf
propst.kiene.kksd@kirnet.de

 

 


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