Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Gründonnerstag, 13. April 2006
Predigt zu Lukas 22, 14-20, verfasst von Elisabet Mester
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

das Abendmahl, von dem wir gehört haben, ist nicht einfach ein Abendbrot. Es ist ein letztes Essen, eine Henkersmahlzeit.

Jemand, der zum Tode verurteilt ist, darf eine letzte Mahlzeit zu sich nehmen. Er darf sich dazu aussuchen, was es geben soll.

Jesus hat sich als letztes Mahl das traditionelle Passah-Essen ausgesucht. Er feierte diese Mahlzeit mit seinen Jüngern. „Und als die Stunde kam, setzte er sich nieder und die Apostel mit ihm. Und er sprach zu ihnen: mich hat herzlich verlangt, dieses Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide.“ (Lukas 22, 14f)

Normalerweise isst ein zum Tod Verurteilter sein letztes Essen allein. Nur Menschen, die als Gruppe ihr Todesurteil entgegennehmen und zusammen hingerichtet werden sollen, könnten eine gemeinsame Henkersmahlzeit für sich erbitten.

Ich habe Ihnen ein Bild mitgebracht,

http://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Calais_%281346%29
http://www.sfoc.org/english/dialogue01/img/pic_032.jpg
http://home.vrweb.de/f.hellenschmidt/bildgal/rodin/rodin15.jpg
http://www.ot48.de/History/burghers2.jpg

das eine solche Gruppe zeigt. Es ist die Photographie einer Skulptur. Der Künstler Auguste Rodin hat sie aus Bronze gefertigt. Sie zeigt 6 „Bürger von Calais“, zur Erinnerung an das Ende der Belagerung der französischen Stadt im Jahr 1348.

Was in Nordfrankreich geschah während dieses Kriegs, wissen wir recht genau, denn ein Zeitzeuge hat es notiert. In seiner Chronik kann es bis heute nachgelesen werden. Er heißt Jean Froissart und beschreibt in seiner Schrift kurz und knapp und sehr korrekt, wie der englische König Edward mit seinen Truppen in der Normandie landete, um seinen Anspruch auf die französische Krone durchzusetzen. Er belagerte die Mauern der Hafenstadt Calais - eine reiche Handelsstadt mit einer Burg, mächtig und stark befestigt. Einnehmen ließ sie sich kaum, weshalb Edward beschloss, dieses Volk von stolzen Kaufleuten auszuhungern. Er gedachte die Stadt, die ihm wegen ihres für England günstig gelegenen Hafens sehr wichtig war, auf diese Weise auch unzerstört übernehmen. Calais hielt seiner Belagerung eine sehr lange Zeit stand, obwohl die Vorräte sich verbrauchten, die Nahrungsmittel immer knapper wurden und schließlich Hunger herrschte. Wahrscheinlich hofften die Bürger von Calais auf ein Eingreifen ihres König, Philippe des 6. von Frankreich. Nach zwei Jahren traf er endlich mit seinen Soldaten vor dem Belagerungsring ein, griff aber die englischen Truppen nicht an. Er versuchte mit König Edward um die Stadt zu verhandeln. Als dabei kein Ergebnis zu erzielen war, zog er mit seinen Leuten unverrichteter Dinge ab und überließ die Bürger von Calais ihrem Schicksal.

Nun gab es keine Hoffnung mehr für sie - der Gouverneur der Stadt musste tätig werden, um seine Einwohner zu retten. Er bot den Belagerern an, die Stadt und die dazu gehörende Festung kampflos zu übergeben, wenn sie dafür das Leben der Menschen schonten, die dort wohnten. König Edward ging darauf nicht ein.

Er verlangte eine bedingungslose Kapitulation und war nicht bereit, irgendwelche Garantien für die Unversehrtheit der Bürger abzugeben. So hielt die Belagerung weiter an, bis der englische König schließlich ein neues Angebot unterbreitete: Sechs der gewählten Senatoren sollten, nur mit einem Büßerhemd bekleidet und mit fertig geknüpften Galgenstricken um den Hals, aus der Stadt heraus zu ihm kommen und ihm feierlich die Schlüssel zum Tor überreichen. Diese sechs wollte er dann hinrichten lassen, als Genugtuung für seine bei der Belagerung der Stadt umgekommenen Soldaten. Die anderen wären dafür dann frei.

Hier auf dem Bild sehen wir sie so, wie der Bildhauer Rodin sie dargestellt hat: Sechs Männer, ehrenwerte Bürger und geachtete Senatoren von Calais, die sich freiwillig gemeldet haben und nun aufbrechen zu ihrem letzten Gang. Sie verlassen ihre Stadt, die so lange belagerte und mutig gehaltene, unter vielen Opfern verteidigte und jetzt an den Feind preisgegebene.

Eine Plastik aus Bronze, ein echtes Heldendenkmal haben wir hier, doch ohne jede heldenhafte Pose. Große Gebärden sehen wir aber in dieser Skulptur: Gesten der Enttäuschung, der Absage an alle Hoffnung, Bewegungen des Abschieds, Momente des endgültigen Verzichts.

Sechs ganz unterschiedliche Menschen, die aufbrechen, um ihr Leben preiszugeben und dadurch viele andere zu retten. Jeder nimmt sich, seine Vergangenheit und seine jäh beendete Zukunft hinaus aus seiner Vaterstadt, damit die anderen, die dort wohnen, am Leben bleiben sollen. Fröstelnd machen sie sich auf den Weg, nur mit einem Hemd bekleidet, wie es der englische König in seiner Grausamkeit verlangte, eine Genugtuung soll ihr Leben sein für die Gefallenen der feindlichen Seite, ein Liebesopfer für die Verbleibenden der eigenen.

In der Mitte sehen wir einen alten Mann mit langen Haaren und einem Bart – gewiss ein vornehmer Bürger seiner Stadt, wie die anderen auch. Seine Arme hängen hach vorne, als wären seine Schultergelenke locker geworden. Er kippt mit dem Oberkörper nach vorn, als hätte der bittere Abschied ihn auf eine bestimmte Weise müde, ja mürbe gemacht.

Wir erkennen an ihm den schleppenden Schritt des plötzlich Gealterten, den abgenutzten Schritt dessen, der für sich nichts mehr zu erwarten hat. Ein Ausdruck tiefer Erschöpfung zieht sich von seinem Gesicht über den Bart bis hin zu den Füßen.

Rechts neben dem Greis sehen wir einen jüngeren Mann, wahrscheinlich den Gouverneur der Stadt. Er trägt den Schlüssel, der an den König von England übergeben werden soll. Mit beiden Händen hält er ihn, den Zugang zum Tor seiner Stadt. Noch ist es seine Stadt, das große und mächtige Calais mitsamt seinen halb verhungerten Einwohnern. Die Knöchel seiner Hände treten hervor, wir können sehen und spüren, wie seine Finger sich in den Schlüssel hineingraben, während sich sein Mund zu einem Strich zusammenpresst vor lauter Bitterkeit. Was für ein demütigender Akt muss es für ihn sein, die ihm anvertrauten Bürger mit einer so schmachvollen Übung zu retten!

Voller Zorn ist sein Blick. So macht er sich auf seinen Weg.

Rechts hinter ihm erkennen wir einen, der seinen Kopf in beiden Händen hält. Als wollte er sich sammeln, noch einen Augenblick innehalten, bevor er sich ein Herz fasst und den ersten Schritt tut aus dem Stadttor hinaus, so sehen wir ihn, den gesenkten Kopf umklammert. Noch einen Moment allein sein und sich fassen können, nur diesen einen Augenblick, diesen Atemzug noch...

Hinten links auf dem Bild sehen wir zwei Brüder, von denen der Chronist Froissart berichtet. Der eine wendet sich zurück zu seiner Heimatstadt, als wollte er ein letztes Adieu an seine Lieben richten, bevor er seinen schweren Gang antritt. Wir erkennen seinen angewinkelten rechten Arm, den er hebt, während er zurückschaut. Neben ihm sein Bruder spricht ihn an und mahnt ihn zum Aufbruch. Komm, es wird Zeit, das können wir an seinem Gesicht und seiner Hand ablesen.

Vorne links sehen wir einen, der zu kreisen scheint. Er steht nicht, sondern wendet sich. Schon losgegangen ist er, und doch geht sein Oberkörper noch einmal zurück. Kehrt er sich den Weinenden zu, die auf dem Marktplatz stehen und ihm den Abschied geben, oder sendet er seinen letzten Gruß an Calais? Er wendet sich zurück – zu sich selbst.

Zu dem, was er war, was sein Wesen ausgemacht hat und was er jetzt ist, in dieser Sekunde des Aufbruchs, in der er sein Leben verschenkt an seine Freunde. Sein rechter Arm hebt sich, seine Hand öffnet sich, als ließe er einen kleinen Vogel los und schenkte ihm die Freiheit.

So verabschiedet er sich von seinem Glück – von dem Glück, das er hatte und dem, das jetzt nicht mehr kommen wird.

Für mich ist das ein ganz besonderes Denkmal, das Rodin geschaffen hat. Es stellt nicht einen siegreichen Helden dar, sondern eine Gruppe von gescheiterten Menschen. Es zeigt sie, die vielen, die durch nichts Besonderes miteinander verbunden sind – wie planlos stehen sie hier nebeneinander auf einem Sockel, der so flach ist, dass er keiner ist. Mitten auf dem Marktplatz von Calais sollten sie stehen, so hatte der Künstler es sich gewünscht, kaum größer als wir und auf jeden Fall ohne ein hohes Podest. Damit wir verstehen: sie sind unter uns, ein Teil von unserem Leben, diese Bürger von Calais.

Sie sind wie wir, so unterschiedlich und so gleich, so menschlich auch.

Was ihnen gemein ist, das ist das Büßergewand und der Strick um den Hals. Ihr Leben wist verwirkt. Es verbindet sie in dieser Sekunde die Tracht der zum Tode Verurteilten. Sechs freiwillig aus der Menge der angesehenen Bürger herausgetretene Geiseln; Menschen mit großen Gesten und großer Not und - ganz wie wir. Nach ihrer Henkersmahlzeit machen sie sich gemeinsam auf den Weg.

In der Chronik steht zu lesen, wie rau der König der Engländer sie in Empfang nahm, in Gegenwart des Scharfrichters, der schon für sie bereit stand. Nur die Bitten seiner Frau, schreibt Froissart, die laut und eindringlich für das Leben dieser Männer eintrat, waren zu hören, als er die sechs Geiseln in Empfang nahm. „Er hörte auf seine Gemahlin“ — sagt der Chronist, „weil sie sehr schwanger war.“

Die Männer blieben also am Leben. Mehr enthält der Bericht nicht.

Wer seine Henkersmahlzeit zu sich nimmt, kann nicht damit rechnen, dass unter seinem Galgen eine hoch schwangere Königin stehen und um sein Leben flehen wird. Er schluckt die Bissen in dem Bewusstsein, dem Tod geweiht zu sein und nach diesem Mahl nichts mehr zu essen.

„Mich hat herzlich verlangt, dieses Passalamm mit euch zu essen, ehe ich leide“, sagt Jesus zu seinen Freunden. „Denn ich sage euch, dass ich es nicht mehr essen werde, bis es erfüllt wird im Reich Gottes.“

Beim letzten Abendmahl am Gründonnerstag weiß Jesus also von seinem bevorstehenden Tod. Er nimmt mit dieser Mahlzeit Abschied von den Freunden, die mit ihm durchs Land gezogen sind und ihn begleitet haben auf dem Weg bis nach Jerusalem.

Ist es ein Henkersmahl, das er da einnimmt? Oder wusste Jesus auch, dass er auferstehen und gerettet werden wird?

Eigentlich verhält er sich ganz normal bei diesem traditionellen Essen, von dem er sagt, dass er sich sehr danach gesehnt hat, es mit seinen Jüngern einzunehmen. Er nimmt, genau, wie es der Brauch verlangt, den Teller mit den drei flachen Weißbroten und greift sich die mittlere heraus. Dieses mittlere Stück – man nennt es Afikoman – wird üblicherweise in ein Leintuch gewickelt und dann im Haus versteckt. Das gehört zum Ritual des Passamahls. Am Ende der Mahlzeit wird dies Stück Weißbrot von den Kindern gesucht, gefunden und ausgewickelt. Sie sollen es dann zurückgeben. Meistens lassen sie es sich teuer auslösen gegen Geschenke, die die Erwachsenen ihnen dafür geben sollen. Die Gaben für die Kinder liegen natürlich längst bereit. Alle wissen ja, nach welcher Ordnung das Mahl verläuft. Das Suchen des verschwundenen Afikomans und das Verteilen der Ostergeschenke ist ein geprägter Brauch.

Hier aber, bei diesem traditionellen Passa-Essen von Jesus und seinen Freunden, ist manches etwas anders. Jesus bricht die mittlere Mazze entzwei, bevor er sie in das Leinentuch wickelt. „Das ist mein Leib“, sagt er dazu, „der für euch gegeben wird.“ Dann wird das Stück Brot weg getan, wie der Brauch es verlangt.

Wie sollten die Jünger das verstehen? Ich denke, sie haben es wohl erst später verstanden, nach Ostern, als sie anfingen zu begreifen, dass Jesus von der Toten auferstanden war. Er selbst, sein toter Körper, war ja in ein Leintuch gewickelt worden, genau wie der Afikoman. Und er war aus diesem Tuch befreit und wieder hervorgeholt worden, ganz nach der Ordnung des Passa. Gott hatte ihn gesucht, gefunden und aus dem Totentuch heraus geholt. Er hat ihn aber nicht gegen wertvolle Geschenke eingetauscht, bevor er ihn an uns zurückgab. Im Gegenteil. Er hat uns damit ein großes Geschenk gemacht. Wenn wir das Abendmahl feiern, erinnern wir uns nicht nur daran, dass Jesus ein letztes Mal mit seinen Jüngern gegessen hat. Wir vergegenwärtigen uns dessen, dass er selbst sich in diesem letzten Mahl für uns gegeben hat, um unser Leben auszulösen.

Er konnte nicht wissen, dass neben seinem Galgen jemand stehen und laut für sein Leben eintreten würde. Gehofft hat er wohl, dass Gottes Liebe stärker sein wird als sein bitterer Tod.

Sie ist stärker. Das feiern wir beim Abendmahl: den Durchbruch dieser Liebe. Es ist auch für uns ene Feier des Passa, des Übergangs, wie wir dies Wort übersetzen können. Ein Übergang von der Knechtschaft in die Freiheit, ein machtvoller Übergang vom Tod zu neuem Leben wird hier gefeiert im Namen Gottes, des großen Befreiers. Das Stück Brot, gebrochen und in den Tod gegeben, begraben und im Gestein verloren - Jesus, der sein Leben für uns gab, ist lebendig in unserer Mitte, damit wir leben sollen. Amen.

Elisabet Mester
Anna-von-Borries-Straße 5
30625 Hannover
Tel.: 0511/5354119
E-Mail: mester@annastift.de


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