Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Palmarum, 9. April 2006
Predigt zu Jesaja 50, 4-9, verfasst von Franz-Heinrich Beyer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

der heutige Sonntag ist der letzte der Passionszeit und er ist damit auch der letzte Sonntag vor Karfreitag. Diese beiden Tage – so nahe beieinander und doch welche Gegensätze. Die inhaltliche Besonderheit dieser beiden Tage – Palmsonntag: der jubelnde und überschwängliche Empfang des einziehenden Jesus in Jerusalem; Karfreitag: die Verurteilung und Kreuzigung eben dieses Jesus – die inhaltliche Besonderheit dieser beiden Tage kennzeichnen Extreme, deren enge Verbindung nur schwer zu ertragen ist. Heute das „Hosianna“ und Freitag das „Kreuzige ihn“.

Unser heutiger Predigttext ist noch älter als die Geschichte Jesu. Aber er zeigt das Beieinander solcher extremsten Erfahrungen, nun aber in einem Lebensbericht – in dieser Weise können wir den heutigen Predigttext verstehen. Er ist Teil eines sogenannten Gottesknechtsliedes im Buch des Propheten Jesaja.

Der Text, den wir gehört haben, er ist durchzogen von einer Sprachgestalt, die eine innige Verbindung zwischen dem Sprechenden und Gott zum Ausdruck bringt:

Der Sprechende vermag etwas, wozu Menschen nicht selbstverständlich in der Lage sind. Er kann mit Müden reden, er vermag es, abgestumpfte Menschen aufzurütteln, er gibt ihnen, was sie brauchen. In einem biblischen Bild gesagt: Er vermag zu sein wie ein Hirte, der Schafe so weidet, dass sie finden, was ihnen gut tut. Und so kann er zum Ausdruck bringen, was ihn persönlich erfüllt und was sein Lebensgefühl prägt:

„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.“

Aber dem „Reden-Können“, wenn es nicht bloßes Geschwätz bleiben soll, liegt etwas voraus. Das Hören liegt dem Reden voraus. Nur wer hört, kann reden. Ja, es ist grundlegend für die Menschlichkeit des Menschen, dass er hören kann, dass er zu hören vermag. Dazu gehört zuallererst, sich selbst angeredet zu wissen: Ich bin gemeint. Diese Worte gelten mir. Sie stehen nicht oder sie klingen nicht einfach nur im Raum; diese Worte wollen mich erreichen, mein Erleben und Fühlen.

Die Erfahrung der Menschen durch die Jahrhunderte hindurch ist aber häufig eine andere: Nicht das Hören-Wollen und auch nicht das Hören-Können lassen sich beobachten, sondern ein Weg-Hören oder einfach eine Taubheit. Hören-Können, das ist etwas, was wir nicht aus uns heraus vermögen. Es ist nicht etwas, was in unserm Vermögen und Belieben liegt. Vielmehr bedarf es dazu eines Eingreifens von außen. Und so klingen die Worte des Sprechers in dem Gottesknechtslied sowohl einleuchtend als auch verlockend:

„Alle Morgen weckt Gott mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.“

Die bisher betrachteten Passagen des Gottesknechtsliedes, wir können sie als Beschreibung des Menschlichen verstehen, als Modell des Menschlichen – Hören-Können ermöglicht Sprechen-Können.

Aber damit ist noch nicht alles gesagt, was das menschliche Leben prägt. Enttäuschung und Feindschaft, Schmerz, Trauer und Zweifel beanspruchen immer einen Teil, manchmal auch das gesamte Lebensempfinden. Hier nach einfachen, einsehbaren Antworten zu suchen wäre wenig hilfreich. Der Sprecher im Gottesknechtslied ordnet die ganz unterschiedlichen Erfahrungen lediglich nebeneinander an, wenn er fortfährt:

„Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar
denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein
Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“

Schlimmes hatte dieser Mensch zu erleiden und zu ertragen. Und bei all dem lesen wir kein Wort der Klage, keinen Vorwurf. Dieser Mensch ist nicht das passive Objekt von Folter, er nimmt nicht nur hin. Vielmehr ist er es selbst, der dem Leiden nicht aus dem Weg geht, der seinen Rücken, seine Wangen, sein Angesicht den Gewalttätern gleichsam als Objekt für die Gewalt darbietet. Was ist das für ein Mensch, der so lebt und leiden muss? Was ist das für ein Mensch, der so leidet und dabei lebt? – Alles, was wir sagen können ist: Es ist ein Mensch, dessen Leben und dessen Erleben von einem tiefen Gottvertrauen durchzogen ist. In der Sprachform des Gottesknechtsliedes findet das seinen Ausdruck in diesen Worten:

„Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich
mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht
zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht macht.“

Der diese Worte spricht, der sieht sich nicht als Spielball von Willkür und Gewalt. Er sieht sich in aller Ohnmacht und Einsamkeit eben nicht gänzlich verlassen. Das letzte Wort über ein Menschenleben zu sprechen – nicht bei den Gewalttätern liegt es, es liegt allein bei Gott.

Darum, bei allem, was uns, was mir im Leben widerfährt – Gelingen und Scheitern, Lebensfreude und Fassungslosigkeit, Starksein und Schwachsein – bei all dem kann ich mich an diese Worte des Gottesknechtsliedes erinnern, an diese Worte kann ich mich halten:
„Gott der Herr hilft mir, wer will mich verdammen?“

Dieses Gottesknechtslied wurde in seinen Worten lange vor der Zeit Jesu formuliert und ist durch Jahrhunderte im jüdischen Volk überliefert worden. Dieses Gottesknechtslied war für die frühen Christen eine naheliegende Form, ihrem Wissen von Jesus und ihrem Bemühen um das Verstehen des Weges Jesu eine Gestalt zu geben. Das Gottesknechtslied aus Jesaja mit den Worten und Aussagen – es konnte so etwas sein wie ein Spiegel, in dem das Bild des gepeinigten und leidenden Menschensohns gesehen und wiedererkannt wurde.

Und uns, wiederum beinahe zwei Jahrtausende später, auch uns lässt dieses Gottesknechtslied nicht unberührt. Manches von dem, was unser, was mein Leben bestimmt, meine ich dort zu entdecken. Aber möglicherweise noch stärker wird angesichts des Gottesknechtsliedes das sichtbar, was mir fehlt, wonach ich mich sehne, nämlich - im Hören zu leben, mit den Müden zu reden wissen, in den Wechselfällen des Lebens auf Gottes Hilfe vertrauen können. So sehe ich dieses Gottesknechtslied auch für uns heute wie einen Spiegel an. Wer in einen Spiegel schaut erwartet den Anblick des eigenen, vertrauten und wohlgeformten Gesichts. So zeigen es auch Maler, die ihr eigenes Bildnis als Spiegelbild malen. Ein besonderes Selbstbildnis, ein besonderes Spiegelbild hat im 16. Jahrhundert der Maler Albrecht Dürer gestaltet. Das im Spiegel sichtbare und von ihm gezeichnete Bild trägt die charakteristischen Merkmale des Schmerzensmannes. Der Maler, in einer Situation bedrohlicher Krankheit und persönlicher Krise – er zeigt im Spiegelbild nicht das eigene, von Krankheit und Zweifel geprägte Antlitz; er zeigt das Bild des leidenden Gottesknechts, des gepeinigten Schmerzensmanns, das Bild des Jesus, dessen Weg zum Kreuz führte, aber dort nicht endete.

Wer so zu schauen vermag, wer so vertrauen kann, der erfährt sich aufgehoben, in allem, was geschieht. „Denn“ – mit den Worten des Gottesknechtsliedes – „denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Gott ist nahe, der mich gerecht macht“. Die Passionszeit, sie weist uns vor allem auf den Trost hin, den wir haben können.

Prof. Dr. Franz-Heinrich Beyer
Franz-Heinrich.Beyer@rub.de


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