Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Judika, 2. April 2006
Predigt zu 4. Mose 21, 4-9, verfasst von Johann-Stephan Lorenz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Folgende Geschichte, liebe Gemeinde hören wir heute als Predigttext:

Die Israeliten zogen vom Berg Hor den Weg zum Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Unterwegs aber verloren die Menschen den Mut und man fing an auf Gott und Mose zu schimpfen:
„Warum hast du uns nur aus Ägypten hierher in die Wüste gebracht wo wir elendiglich krepieren? Es gibt kein Wasser und kein Brot und was wir zu essen kriegen, widert uns an!“

So schickte Gott gegen die Israeliten die Vipern, die bissen die Menschen und viele, viele starben. Da kamen die Menschen zu Mose gerannt und sagten:
„Wir haben Unrecht getan, als wir auf Gott und Mose schimpften. Mose, setze du dich bei IHM für uns ein, damit wir die Vipern wieder loswerden.“

Und Mose ging hin und sprach mit Gott. Und Gott sagte:
„Mache dir eine Viper und hefte sie an einer Stange fest und dann wir folgendes geschehen:
Jeder Gebissene, der sie anschaut, wird leben.“

Und Mose ging hin, fertigte sich eine Viper aus Kupfer und befestigte sie an einer Holzstange. Und es geschah alles so, wie Gott es gesagt hatte. Hatte die Viper einen Menschen gebissen, blickte er auf die Kupferviper an der Holzstange und blieb am Leben.

I. Die zwei Gesichter Gottes

Das ist eine eigenartige Geschichte. Nicht nur weil Gott sich hier wie ein zutiefst gekränkter Vater zu benehmen scheint, der beim geringsten Widerstand seine Kinder mit Tod und Verderben erschlägt, sondern vielmehr, weil Tod und Leben durch das gleiche Tier - die Schlange nämlich - kommen.

Dies ist keine historische Geschichte, sondern eine Allegorie, ein mit Worten gemaltes Bild, in dem es um menschliche Erfahrungen geht, die anders viel komplizierter, aber auch verkürzter zur Sprache gebracht werden könnten. Es geht in dieser Geschichte um Leben und Tod, noch genauer: um unseren Tod und unser Leben. Es geht um unseren Widerstand gegen Gott und seine Pläne für uns. Es geht um Sein Erbarmen uns gegenüber.

Die Erfahrung, die diese Geschichte anspricht, machen viele Menschen heute auch noch: es ist die Erfahrung, dass die Begegnung mit Gott gefährlich, ja tödlich sein, aber auch lebendig machen kann.

Wenn wir in die Weltgeschichte sehen, können wir uns das sofort klar machen. Der Glaube, den die Kirche im Zeitalter der Kreuzzüge oder der Inquisition predigte, brachte über viele Menschen, auch über viele Christenmenschen Tod und Verderben. Aber auch heute gibt es viele religiöse Prediger, die mehr Verderben und sogar Tod über ihre Anhänger bringen, als dass sie ihnen zu Leben verhelfen. Wir hörten das in den Nachrichten die letzten Wochen öfters.

Doch nicht nur in der großen Weltgeschichte, sondern auch in manch einer persönlichen Lebensgeschichte wird deutlich: Gott scheint zwei Gesichter zu haben. Der Arzt und Psychoanalytiker Tilman Moser hat z.B. seiner persönlichen Geschichte mit Gott den Titel „Gottesvergiftung“ gegeben. In seiner Geschichte erzählt er, wie die Begegnung mit dem christlichen Gott, so wie ER durch seine Eltern und seine Familie dargestellt und ihm nahe gebracht wurde, seine Seele zutiefst zerrissen und nachhaltig beschädigt hat. Von dieser, Vergiftung’ hat er sich erst durch langjährige und mühselige Seelenarbeit befreien können.

Er schreibt:

„Du haustest in mir wie ein Gift, von dem sich der Körper nie befreien konnte...Du bist in mich eingezogen wie eine unheilbare Krankheit...Ich weiß, dass du in den Narben, falls ich dich aus mir vertreibe kann, bis zu meinem Tode hausen wirst. Sie werden mich beißen, und du wirst mich noch mit Phantomschmerzen quälen, wenn du längst wegamputiert bist.“

Ich denke, ein ähnliches Schmerzenslied könnten einige, die hier versammelt sind, anstimmen, die nämlich, denen Gott nur mit Drohen, Strafen und Ängsten bekannt gemacht und vorgelebt wurde.

So ist es vielleicht nicht mehr befremdlich, wenn ich es sage: nichts scheint gefährlicher als religiöse Worte, religiöse Symbole und Handlungen. Sie haben die Macht, ein Leben vom Tod zu erretten; doch wer einen falschen Gebrauch von ihnen macht, handelt wie jemand, der ein richtiges Medikament in falscher Dosierung anwendet oder es zu einem falschen Zweck gebraucht: es wird zum tödlichen Gift. Auch das haben wir ja in den letzten Wochen in England erleben müssen.

So schreibt Paulus z.B. im Korintherbrief über das christliche Abendmahl: „Wer also hier isst und trinkt, und macht sich nicht klar, dass er es mit dem Leib des Herrn zu tun hat, der isst und trinkt sich selbst zu Gericht.“ (11,29)

Was für den einen der Weg zur Erlösung ist, ist für den anderen der Weg in die Hölle und in den Tod. „Der Herr tötet und macht lebendig, er führt hinab zu den Toten und wieder hinauf. Der Herr macht arm und reich, er erniedrigt und erhöht“, lesen wir im Samuelbuch. (1. Sam 6ff)

Auch in der Geschichte der Passion Jesu Christi spiegelt sich diese Erfahrung wieder: Gott lässt Jesus am Kreuz sterben und er erlöst ihn in der Auferstehung vom Tod zum ewigen Leben.

Gott scheint zwei Gesichter zu haben: das Gesicht der Zerstörers und das Gesicht des Erlösers.

Jetzt bin ich von der alttestamentlichen Geschichte bei der Passion Christi angelangt, die wir uns in diesen Wochen vor Ostern vor Augen halten. Das ist aber gar nicht so abwegig, denn im Johannevangelium wird direkt auf diese Geschichte Bezug genommen. Da heißt es an einer Stelle: „Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss des Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“

II. Christus und die Schlange. Was hat Christus mit der Schlange zu tun?

Zwischen der Schlange und dem Christus besteht also eine tiefe religiöse Verbindung. Durch die Verführung der Schlange, die dem Menschen dazu gebracht hat, sich selbst gottähnlich zu machen, wird die Sünde, d.h. der Bruch zwischen Gott und Mensch offenbar. Christus hebt die Sünde auf, er befreit uns Menschen von dem Streben etwas zu werden, was wir nicht sein können. Und seine Botschaft ist: Nicht darin, dass wir werden wie Gott, liegt unsere Rettung, sondern darin, dass Gott ein Mensch wird wie wir.

So wie in der alttestamentlichen Geschichte die aufgerichtete Schlange gesund macht, so macht der am Kreuz aufgerichtete Christus ebenso „gesund“, d.h. frei von Sünde, frei von einem vergeblichen und letztendlich alle Lebensenergie verschlingenden Unterfangen, von der Krankheit zum Tode. Die Krankheit der Sünde führt genauso zum Tod, wie der Biss der Schlange. So beschreibt es unsere christliche Religion.

Die ärztliche und therapeutische Erfahrung scheint das Bild, das die christliche Religion vom Menschen zeichnet, zu bestätigen. Der Wiener Arzt und Psychotherapeut Viktor Frankl schrieb z.B. einmal: „Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, d.h. jenseits der 35, war nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankte in letzter Linie daran, dass er das verloren hatte, was lebendige Religion ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben hat, und keiner war wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht hätte.“

III. Das Doppelgesicht des Lebens. Was hat dieses religiöse Bild mit unserer Erfahrung zu tun?

Nicht nur Gott zeigt sich in unserer menschlichen Erfahrung so widersprüchlich, - das könnte man für sich noch lösen, indem man Atheist wird, also salopp gesagt: Gott abschafft -, das Leben selbst ist voller Widersprüchlichkeit! Und wir selbst erst recht!

Vom ersten Tag unseres Lebens bekommen wir sie zu spüren. Wir haben die liebevolle Zuwendung einer Mutter gespürt, und fühlten uns wohl, aber wir alle kennen auch die Angst der Verlassenheit, wenn Mutter einmal nicht zur rechten Zeit zur Stelle war. Diese Spannung zwischen Urvertrauen und Urmisstrauen: einmal erfahre ich die Welt und ihre Menschen darin als vertrauensvolle, mir zugewandte freundliche Wesen und im nächsten Augenblick tritt mir die Welt und ihre Menschen darin in ihrer schrecklichsten Gestalt entgegen, - diese Spannung begleitet uns durch unser ganzes Leben.

Unsere eigene Erfahrung bestätigt das, was die jüdisch-christliche Religion in ihren Geschichten erzählt.

IV. Was können wir tun? Flüchten oder Standhalten ?

Vor dem widersprüchlichen Gott kann man weglaufen, vor seinem eigenen widersprüchlichen Leben schon viel weniger. Vor dem Widerspruch in sich selbst gar nicht. Denn auch in uns spüren wir - oft zu gleicher Zeit - sehr liebevolle und warme aber auch aggressive, ängstliche und zerstörerische Gefühle. Was können wir tun?

Sie erinnern sich: Mose wollte am brennenden Dornbusch, den Stab, den er von Gott bekam wegwerfen und war dabei, wegzulaufen - doch plötzlich wurde aus dem Stab eine Schlange, die ihn beißen wollte. Gott lobt also die Flucht nicht, sondern Gott bleibt bei uns, wenn wir die ganze Widersprüchlichkeit unseres Lebens annehmen. Das ist unsere Passion, unsere lebenslange Leidens- und Heilsgeschichte. Sie wird jedem von uns von Gott zugemutet. Viele von uns laufen heute vor dieser Widersprüchlichkeit weg. Die Konsumangebote unserer Gesellschaft verführen uns geradezu zur Flucht. Aber wir alle wissen auch, dass unser Konsumieren - unser Flüchten - weder uns selbst, noch anderen Menschen das Glück bringt, das es zu versprechen scheinen.

Das Symbol des gekreuzigten und auferstandenen Christus steht für die menschliche Erfahrung, dass sich ein anderer Weg lohnt, der uns das Heil bringt, das wir so sehnsüchtig suchen, und die Erlösung, die wir so notwendig brauchen.

Das Symbol des gekreuzigten und auferstandenen Christus steht dafür, dass es sich für uns viel mehr lohnt, den Widerspruch in uns, in unserem Leben, ja den Widerspruch Gottes auszuhalten. Ganz lebenspraktisch hieße das: wir können dieser Welt, den Menschen darin und Gott - trotz allem berechtigtem Misstrauen und trotz aller schlechten und schmerzvollen Erfahrung dennoch vertrauen. Die Geschichte des leidenden, getöteten und auferstandenen Christus führt uns dazu unsere eigene Geschichte anders zu verstehen, führt uns dazu, sie in und mit unserem eigenen Leben nachzubuchstabieren:

„Wer an IHN glaubt, wird nicht gerichtet. Wer an IHN glaubt, geht nicht verloren, sondern wird das ewige Leben haben.“

Die Geschichte aus dem alten Testament, und erst recht die Geschichte Jesu Christi macht uns Mut, unsere eigene Leidensgeschichte, unsere ganz persönliche Erfahrung mit Leiden, Schmerzen, Enttäuschung und Angst nicht nur zu ertragen, sondern darin auch eine persönliche Heils- und Erlösungsgeschichte zu sehen, denn unsere persönliche Geschichte ist aufgehoben in der Leidens- und Erlösungsgeschichte Geschichte Jesu Christi.

Dadurch wird unsere persönliche Leidensgeschichte ertragbar, - darauf liegt der Akzent. Denn solange wir leben, erleben wir die Widersprüchlichkeit des Lebens, die Widersprüchlichkeit Gottes, die Widersprüchlichkeit in uns selbst.

Unsere Leidensgeschichte ist, wie die Leidensgeschichte Christi, aber eben auch eine Heilsgeschichte, sie hat ein Ziel: unsere Verherrlichung. Auch wir werden das das ewige Leben erben, auch wir werden ganz heil und ganz gesund werden.

Das ist die Verheißung Gottes, die über jedem Leben steht, und worauf sich jeder verlassen kann.

Martin Luther fasste seine widersprüchliche Lebenserfahrung mit sich und Gott einmal in solchen Worten nieder:
„Wenn Gott daran geht, einen Menschen zu rechtfertigen, dann verurteilt er ihn zwar und den er bauen will, den reißt er ein; den er heil machen will, den erschüttert er...“

Und der Friede Gottes, der sowohl unsere Vorstellungskraft, als auch unsere Herzensstärke übersteigt, sei mit uns allen und stärke uns.

Amen.

Pastor Johann-Stephan Lorenz
Beauftragter für den Pastoralpsychologischer Dienst
im Sprengel Calenberg Hoya,
Pastor an der Neurologischen Klinik Hess. Oldendorf,
tiefenpsychologischer Berater, Supervisor DGfP
johannstephanlorenz@t-online.de


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