Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Lätare, 26. März 2006
Predigt zu Johannes 6, 24-35, verfasst von Erik Bredmose Simonsen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Als das kommunistische System in Osteuropa zusammenbrach und die Mauer zwischen Ost und West fiel, da gab es viele Menschen im westlichen Europa, die Morgenluft witterten und neue Möglichkeiten sahen. Nicht bloß, weil damit eine latente Bedrohung des Friedes in unserem Teil der Welt entfernt worden war. Nicht nur aus Freude darüber, dass Menschen, die ein Menschenalter lang unterdrückt gewesen waren, jetzt wieder frei reden konnten und die Möglichkeit einer menschlicheren Lebensentfaltung erhielten.

Nein, man witterte Morgenluft, weil man Möglichkeiten sah, die nicht nur das künftige Leben der Osteuropäer betrafen, sondern auch unser eigenes Leben hier im Westen. Viele Menschen stellten sich nämlich vor, mit der eingetretenen Entspannung würde sich die Möglichkeit eröffnen, ein Gesellschaftssystem einzuführen, das die bereits bekannten übertreffen würde, einen dritten Weg sozusagen, der besser war als der kommunistische und der kapitalistische. Auf den Ruinen des alten Osteuropa würden alle Träume von einer besseren und gerechteren Welt verwirklicht werden. Man brauchte nur das Beste vom Kommunismus zu nehmen: die Gleichheit, und das Beste vom Kapitalismus: die Freiheit. Hatten doch beide Systeme jeweils für sich ihre Schwächen vollauf unter Beweis gestellt. Jetzt aber würde ein Cocktail aus den beiden Systemen das Beste im Menschen und in der Gesellschaft heraufführen.

Eine Zeitlang sah es tatsächlich so aus, als ob da etwas Neues im Entstehen war. Die Aufmerksamkeit aller richtete sich damals auf die damalige Tschechoslowakei, wo man einen Künstler in das Amt des Präsidenten wählte. Ein euphorischer Optimismus verbreitete sich unter den Intellektuellen des Westens. Es wurde eine Zeitlang in den Medien viel darüber geredet und geschrieben, Visionen wurden entworfen und Möglichkeiten analysiert.

Heute, 15 Jahre danach ist von diesem Optimismus nicht mehr viel übrig. Vieles ist sehr viel anders verlaufen, als man es sich erträumt hatte. Aber was war schief gegangen?

Ja, an und für sich war nichts schief gegangen. Die Wirklichkeit hat sich bloß so aufgeführt, wie es ihre Gewohnheit ist, nämlich anders als die Ideale.

Die Osteuropäer vermochten nicht so ganz dieselben Möglichkeiten zu sehen wie die Westeuropäer. Oder man kann vielleicht sagen, für sie sah die Wirklichkeit einigermaßen anders aus. Während westeuropäische Intellektuelle sich in idealistischen Gedankenkonstruktionen ergingen, klopfte eine ganz andere Wirklichkeit an die Tür der Osteuropäer, die sich nicht damit abspeisen lassen wollten, dass sie in einem großen sozialen und ideologischen Experiment, das in westlichen Gehirnen geboren worden war, als Statisten auftreten sollten.

In Osteuropa wollte man Brot auf dem Tisch haben! Die Erwartungen, die man dort nach dem Fall der Mauer an die Zukunft hatte, galten nicht geistigem, sondern vielmehr materiellem Wohlergehen. Und die Osteuropäer stellten sich vor, der materielle Wohlstand würde fast ganz von alleine kommen, wenn das kommunistische System erst einmal aus dem Wege geräumt wäre.

Das geschah bekanntlich nicht, und bald sehnten sich viele Osteuropäer wieder nach der Zeit des Kommunismus, denn da hatte man immerhin Arbeit, und man wurde satt. Man kann wohl sagen, dass die geistigen Bedürfnisse der Osteuropäer – das Verlangen nach Freiheit, danach, frei denken, glauben und reden zu können, erst an zweiter Stelle kam. Zuerst einmal wollte man Brot auf dem Tisch haben.

So ist der Mensch, er lebt vom Brot, und ohne Brot stirbt er. Es ist, so könnte man wohl sagen, die Naturseite des Menschen, seine biologische Seite, die sich auf diese Weise zu erkennen gibt, und sie ist fundamental, ob man nun im Westen oder im Osten wohnt, im Süden oder im Norden.

Aber der Mensch ist nun einmal mehr als das. Er hat auch eine andere Seite, die ebenso fundamental ist. Der Mensch ist auch Geist, und deshalb kann er auch von Brot allein sterben.

Der westeuropäische Mensch hat Brot auf dem Tisch – ja, die meisten Menschen haben sogar Brot im Überfluss. Und doch ist bekanntlich nicht alles lauter paradiesisches Glück hier bei uns. Selbstmorde, psychische Leiden, Kriminalität usw. sind hier zu Lande an der Tagesordnung, und diese Tatsache macht deutlich, dass mit dem täglichen Brot nicht alles getan ist.

Als Jesus einmal vom Teufel versucht wurde, wies er ihn zurück, u.a. indem er sagte: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“

Die deutsche Theologin Dorothee Sölle hat in einem Artikel diese Worte zugrunde gelegt und hinzugefügt, dass der Mensch vom Brot allein sogar stirbt. Der Tod von Brot allein, schreibt sie, das sei der Tod in der menschlichen Abgestumpftheit, das sei, wenn das Verhältnis zwischen Menschen zerstört werde. Von Brot allein könnten wir wohl funktionieren, aber im Grunde doch nur als mechanische Maschinen. Wir atmen, verbrauchen, regulieren, treffen Entscheidungen, produzieren und lassen unserem Mundwerk freien Lauf, und doch leben wir nicht. Der Tod von Brot allein bedeute ein sinnloses Leben ohne Inhalt, wo man nur überlebe.

Wer von Brot allein tot ist, erlebt nicht die Freude an anderen Menschen, sieht die anderen Menschen nicht als Reichtum und Herausforderung, sondern als Bedrohung und als Konkurrenten, und, sagt Dorothee Sölle, es ist dieser Tod, von dem auch die Bibel spricht, dieser Tod, der ein sinnloses und leeres Leben bedeutet.

Sölle schreibt weiter, dass der Tod von Brot allein die Situation ist, in der das Leben in kleinste Stücke zerfällt, zu einem Supermarkt wird, in dem man alles bekommen kann und wo es keinen Grund gibt, sich für das Eine mehr zu interessieren als für das Andere. Von Brot allein und für Brot allein. Deshalb sterben wir den täglichen schrecklichen Tod.

So also Dorothee Sölle.

Der schwedische Dichter Pär Lagerkvist erzählt in seinem Roman „Der Tod des Ahasverus“ davon, wie die Hauptperson Ahasverus eines Nachts in einer Herberge hoch oben in den Alpen sitzt und in einem Gespräch mit einem Fremden sein Leben Revue passieren lässt. Ahasverus sagt: „Man denkt so viel darüber nach, wovon man leben soll. Man spricht immer so viel davon. Aber wozu soll man leben, kannst du mir das sagen, wozu soll man leben?“

Wovon soll man leben, und wozu soll man leben, diese beiden Fragen verweisen auf den Mangel an Brot zur biologischen Aufrechterhaltung der Lebens bzw. auf den Mangel an Sinn für die Aufrechterhaltung des existentiellen Lebens. Der Mensch braucht beides, aber er kümmert sich anscheinend ausschließlich darum, wovon er leben soll. – Von Brot allein – und das genügt nicht.

Allerdings ist es auch verkehrt, die Realitäten nicht mitzudenken, wenn es um unsere menschlichen Bedürfnisse geht. Die Körperlichkeit, der Leib, das Fleisch – alles muss das Seine haben. Der Geist muss etwas haben, worin er gedeihen kann, oder man landet in weltfernem Idealismus. Vergaß man vielleicht genau das, als man nach dem Fall der „Mauer” von den großen Möglichkeiten träumte?

Im Evangelium von heute belehrt Jesus die Volksmenge, dass es falsch ist, sich ausschließlich auf das Essen, das den Magen sättigt, zu konzentrieren. Der Text folgt im Johannesevangelium unmittelbar auf die Erzählung, wie Jesus auf einem Berg 5000 Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen gesättigt hat, und jetzt drängen sich die Menschen um ihn, weil sie ihn zu ihrem König machen wollen. Man stelle sich vor, einen solchen König zu haben, der Essen hervorzaubern kann, so dass alle essen können und satt werden! Welch eine Zukunft hätte man vor sich! Ein reines Schlaraffenland wäre das.

Aber Jesus durchschaut sie und weigert sich, auf ihre Pläne einzugehen. Was ich für euch auf dem Berg tat, sagt er, war ein Zeichen, das euch zeigen sollte, wer ich bin, und womit ich komme, nämlich mit dem Brot des Lebens. Mi dem Brot, das nicht nur sättigt wie die täglichen Scheiben Vollkornbrot, sondern das über alle Grenzen sättigt, ja, sogar im Tod. Ihr sollt euch nicht so sehr um das Essen kümmern, das vergeht, sondern um die Nahrung, die für das ewige Leben besteht, sie ist es, die ich euch bringe.

Die Menschen sind nun daran interessiert, zu erfahren, was sie tun müssen, um an diesem Brot des Lebens Anteil zu erhalten, und Jesu Antwort ist: glaubt an ihn, den Gott gesandt hat. „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird niemals hungern, und wer an mich glaubt, den wird niemals dürsten.“

Es ist klar, dass der Ausdruck „Brot des Lebens“ hier symbolisch oder bildlich zu verstehen ist, als Ausdruck all dessen, was wir duch Jesus Christus geschenkt bekommen, nämlich das Leben in seiner vollen und ganzen Bedeutung. Wenn Jesus sich selbst das Brot des Lebens nennt, dann ist das ein Hinweis darauf, dass er sich selbst zum Leben für die Welt hingeben wird, dass er in den Tod gehen wird, damit wir leben können, und wohlgemerkt leben können, nicht nur, bis wir selbst sterben müssen, sondern damit wir leben werden, obwohl wir sterben müssen. Das bedeutet nicht, dass wir das tägliche Brot nicht mehr bräuchten und nicht mehr dafür arbeiten müssten; auch es bedeutet auch nicht, dass wir nicht sterben müssten, sondern dass wir leben werden, wenn wir auch sterben. Und das ist zweifellos mehr wert, als bloß mit dem täglichen Brot versorgt zu werden, so wie die Volksmenge bei der Speisung auf dem Berge mit Brot versorgt wurde.

Aber auch damals waren die Menschen interessiert an dem, was weniger und mehr erdverbunden war, nämlich etwas in den Magen zu bekommen, hier und jetzt.

„Wozu soll man leben?“, fragte Ahasverus. Und die Frage wird auch im heutigen Dänemark oft gestellt. Der Tod vom Brot allein breitet sich aus, weil das Ziel unseres Lebens auf das bloß Notwendige herabgeschraubt ist, nämlich bloß die Lebensmaschine am Laufen zu halten und nicht mehr.

Aber was sagt das Evangelium zu der Frage? Ja, das Evangelium sagt, dass wir leben werden, weil Gott es will, und weil wir im Großen wie im Kleinen gebraucht werden. Und dass wir leben können – sowohl mit uns selbst als auch mit unseren Mitmenschen – weil Gott ein für alle Mal für uns eingestanden ist, wie schief, zweifelnd, resigniert und hilflos wir auch sein mögen.

Wer glaubt, dass Gott uns das Leben mit seiner Verantwortung und seinen Aufgaben geschenkt hat, und wer glaubt, dass die Liebe Gottes uns erreicht, auch wenn wir versagen, der wird sich nie mit Ahasverus’ Frage konfrontiert sehen: Wozu soll man leben.

Aber auch derjenige, der zweifelt und dem es schwer fällt, irgendeinen größeren Sinn des Lebens zu entdecken, kann gewiss sein, dass Gottes Liebe auch ihn umfasst. Nichts in unserem Verhältnis zu Gott beruht nämlich auf uns, sondern alles beruht allein auf ihm, der als das wahre Brot des Lebens vom Himmel herabgekommen ist und der Welt Leben geschenkt hat.

Als ein Apropos zur Einleitung könnten wir den Menschen im Osten wie im Westen sagen, dass es tatsächlich Möglichkeiten gibt, andere Wege zu gehen und andere Pfade zu betreten als die gewöhnlichen. Es gibt bestimmt einen dritten Weg; aber er liegt sicherlich etwas anders und sieht etwas anders aus, als wir unmittelbar glauben. Er überschreitet sowohl die nackte Notwendigkeit als auch den blinden Idealismus. Wir müssen ihn nicht selbst ebnen. Er ist gegeben und liegt da und wartet darauf betreten zu werden.

Amen.

Pastor Erik Bredmose Simonsen
Præstebakken 11
DK-8680 Ry
Tel.: +45 86 89 14 17
E.mail: ebs@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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