Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Lätare, 26. März 2006
Predigt zu Philipper 1, 15-21, verfasst von Monika Waldeck
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Ein alter Mann im alten Griechenland saß an der Straße nach Korinth und wurde von einem Wanderer befragt, wie weit es noch bis in die Stadt sei.
Er gab bereitwillig Auskunft. Dann wollte der Wanderer noch wissen, was in Korinth für Menschen wohnten.
„Wo kommst du her?“ fragte der Alte dagegen. “Aus Athen“, sagte der Wanderer. „Und was für Menschen leben da?“ – „Ach“, meinte der Wanderer, „alles Halunken und Verbrecher, Lügner und Betrüger!“ – „Dein Pech“, antwortete der alte Mann, „in Korinth wirst du es nicht anders finden, auch alles Lügner und Betrüger.“ Bekümmert zog der Wanderer weiter.

Nach einer Weile kam ein anderer Wanderer und fragte ebenfalls nach dem Weg und nach den Bürgern von Korinth, und wieder erkundigte sich der alte Mann, wo der Wanderer herkäme und welche Menschen er da angetroffen hätte.
Aus Athen käme er, berichtete jener und dort lebten lauter freundliche und hilfsbereite Leute.
„Da hast du Glück“, sagte der Alte, „in Korinth leben die besten Menschen der Welt, alles nette Leute!“ „Fein“, sagte der Wanderer und zog fröhlich von dannen.
Ein Dritter, der beide Gespräche mit angehört hatte, näherte sich dem Mann und machte ihm bittere Vorwürfe, wie er so doppelzüngig reden könne. „Entweder wohnen in Korinth Halunken oder anständige Leute. Was ist nun? Beides zugleich ist unmöglich!“
„Du irrst dich“, entgegnete ihm der Alte, „die anderen sind immer so wie wir selbst. Wessen Herz voller Argwohn und dunkler Gedanken ist, der trifft überall auf Lug und Trug. Aber wessen Herz arglos und voller freundlicher Gedanken ist, der trifft überall in der Welt auf Freundlichkeit und Freundschaft.“

Klug ist er, der alte Mann. Wie ein Arzt beobachtet er die Gesprächspartner, stellt seine Diagnose. Aber er behandelt sie nicht.
Auf den Einwand des Beobachters, er würde den Fragern nach dem Mund reden, antwortet er: Es gibt keine Wahrheit. Jeder sieht die Welt aus seiner Perspektive, es gibt so viele Wirklichkeiten, wie es Menschen gibt. Daran ist nichts zu ändern. Oder?

In der Legende bleibt jeder bei sich.
Was jedoch ist mit uns, die wir von außen auf die Geschichte schauen? Wenn Sie innerlich in der Erzählung mitgehen konnten, dann waren Sie vielleicht am Ende überrascht über diese Botschaft: Wenn ich mit anderen gut umgehe, so tun sie es auch mit mir, wie mir die Welt erscheint, das hat etwas mit mir zu tun.

Nicht selten fühlen wir uns im Alltag ungerecht oder schlecht behandelt: am Arbeitsplatz, in der Familie, von Behörden, im Freundeskreis. Die anderen erscheinen ablehnend, arrogant oder rechthaberisch. Gegenseitiges Verstehen misslingt.
Es hat, oft jedenfalls, etwas mit einem selbst zu tun. Darauf will die Geschichte hinweisen und doch etwas anstoßen – nämlich bei Ihnen und mir, die wir heute morgen hier in der Kirche zusammen sind.

Bloß, wie kommt es, dass der eine die Welt so schwarz sieht und der andere so freundlich? Schließlich kann keiner sein Verhalten so einfach ändern, wie wenn man einen Lichtschalter umlegen würde. Manche Abgrenzungen gegen andere haben wir im Laufe unseres Lebens als hilfreich erlebt. Sie dienten der Selbstbehauptung, halfen, unsere Persönlichkeit zu bilden.
Nein, so einfach kann keiner aus seiner Haut.

Trotzdem wäre es ja traumhaft, sich ändern zu können, die Welt mit anderen Augen zu sehen, von anderen akzeptiert zu sein. Der Wunsch danach führt uns letzten Endes auch heute morgen hier zusammen.
Wir sind auf der Suche nach einem grundlegenden Angenommensein, weil wir uns, solange wir leben, auseinandersetzen müssen mit Angst und Hoffnung, Scham und Zorn, Freude und Trauer.
Wir suchen nach einem Grund und Halt im Leben, der die Angst bannt und schließlich ermöglicht, anderen freundlich begegnen zu können.

Von einem, der seinen Grund gefunden hat, erzählt der heutige Predigttext. Zuversichtlich erzählt er, fast federleicht und mit ungeheurer Ausdruckskraft.
„Christus ist mein Leben“, so sagt Paulus, der Schreiber des Briefes an die Philipper. Es ist sein persönliches Glaubensbekenntnis, eines, das ihm in vielen Situationen seines Lebens bisher von Bedeutung war.
„Christus ist mein Leben“, das hat für Paulus Konsequenzen. Wegen dieses Bekenntnisses befindet er sich zur Zeit im Gefängnis, wahrscheinlich in Ephesus. Die Philipper berichten ihm von Streit in der Gemeinde zwischen Christen griechischer und jüdischer Herkunft.
Paulus meint, letzten Endes ginge es um Neid und Eitelkeit und gar nicht um theologische Fragen. Er zieht seine Bilanz: Der Markt derer, die Gott in der Welt zur Sprache bringen wollen, sei groß, und die Motive so unterschiedlich wie die Menschen – was soll‘s? Wenn nur Christus verkündigt werde auf jede Weise, so freue es ihn.

Es ist eine tolerante, öffnende Konsequenz aus seinem persönlichen Glaubensbekenntnis, überraschend anders hier als sonst in seinen Schriften, wo er oft mit absolutem Wahrheitsanspruch redet. Es ist eine Einsicht, die den anderen Wertschätzung entgegenbringt, die nahe bei den anderen ist. Es ist der Versuch, nicht alle gleichzumachen, sondern die unterschiedlichen Haltungen anzuerkennen. Es gibt nicht nur einen, es gibt viele Wege, Christus zu bekennen, und alle sind recht.
Vielleicht kann eine solche Haltung uns heutigen Christen hilfreich sein. In unseren konfessionellen Streitigkeiten über das rechte Bekenntnis zwischen evangelisch, katholisch, orthodox, pfingstlerisch oder baptistisch wird das Gespräch nur gelingen, wenn wir die Haltung des anderen tolerieren lernen.

Das ist etwas anderes als Gleichmacherei. Das ist etwas anderes als Gleichgültigkeit. Eine solche Haltung gelingt nur, wenn ich weiß, wo ich selbst stehe, wenn ich eine persönliches Glaubensbekenntnis habe.

Paulus kann seinem Bekenntnis sogar noch hinzufügen: „Sterben ist mein Gewinn“. Selbst der Gedanke an den Tod macht ihn nicht mutlos, sondern bringt ihn Christus näher. Er muss den Tod nicht verleugnen, da Jesus ihn auch kannte. Darum gibt es für ihn Grund zur Gelassenheit, ja zur Freude.

Ich finde das eine starke Haltung. Nicht, weil ich danach streben müsste, selbst so zu werden wie Paulus.
Für mich ist es eine Ermutigung, mich zu trauen, eingetretene Pfade mal zu verlassen. Es könnten überraschende Begegnungen werden, die auf uns warten: mit dem Arbeitskollegen, den ich nicht mag; mit meinem Kind, das vielleicht gerade in der Pubertät ist und jeden Tag neue Auseinandersetzungen heraufbeschwört oder mit dem Nachbarn, über den ich mich ständig ärgere.

Ich kann mich erinnern, dass ich getauft bin und der Satz: „Christus ist mein Leben“ auch für mich Geltung hat. Dessen kann ich mir sicher sein und ein sicherer Glaube weitet das Herz, während ein verunsicherter festhalten muss an Zwängen und einseitigen Normen für „richtiges“ Christsein.

Haben wir in Glaubensfragen und im Alltag Mut zur Anerkennung der Sicht anderer, „solange nur Christus verkündigt wird!“ Denn: „die anderen sind immer so, wie wir selbst“, darauf weist der alte Mann in der griechischen Legende hin. Die Welt wird dadurch freundlicher, das ist gewiß. Und nichts brauchen wir dringender.
Amen.


Monika Waldeck
Klinikpfarrerin
waldeck.esg-wiz@ekkw.de


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