Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Okuli, 19. März 2006
Predigt zu 1. Petrus 1, 13-21, verfasst von Ralf Hoburg
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Mit Nüchternheit die Zukunft im Blick

Hin und wieder mache ich mich auf die Suche nach guten Büchern für die Lektüre zwischendurch. Nichts theologisches – am besten Spannung mit Tiefgang, wobei ich nicht auf Krimis fixiert bin. Und auf den unendlich verwirrenden Etagen dieser Mega-Buchläden gerate ich mit schöner Regelmäßigkeit in die Abgründe des Buchgeschäftes. Während mein Sinn nach leichter guter Literatur Ausschau hält, verfängt sich der Blick im Gewimmel der Ratgeber-Literatur. Es wäre nun ein leichtes, bereits Hohn und Spott über die Titel-Plattitüden dieser Literaturgattung auszugießen. Aber eine Predigt ist keine Literaturkritik und wir sitzen hier nicht im Literarischen Quartett. Vor allem aber gäbe es nicht den Markterfolg, wenn sich dahinter nicht etwas verbergen würde. Was mir deshalb nicht aus dem Kopf geht ist die Frage, warum inmitten aller aufgeklärt scheinenden Informationsgesellschaft diese offene Sehnsucht nach klaren Konzepten einer Lebensführung existiert? Was ist los in einer Gesellschaft, in der der gesunde Menschenverstand, die Intuition oder das bloße Erfahrungswissen von Oma und Opa ersetzt werden durch die Kunstprodukte einer schöngefärbten und weichgespülten platten Lebensphilosophie?

Bei all diesen Techniken und Methoden, die mir die Ratgeber im Bücherregal empfehlen, fürchte ich mich inzwischen davor, ganz unbefangen Ich selbst zu sein, um nicht mit meinen 46 Lebensjahren als Relikt einer hoffnungslos veralteten Lebensauffassung zu gelten. Und es fällt mir auf, dass Ratgeber zur Kommunikation und Gesprächsführung heute sehr hoch im Kurs stehen. Es sind wohl Anzeichen einer mangelnden Gesprächsfähigkeit. Wer aber nicht mehr miteinander reden kann, dem fällt es auch schwerer, dem Leben einen Sinn zu geben. Liegt es also auch an der Unfähigkeit, zu reden und zu hören, dass Lebensführung das Thema der Zeit ist? Vielleicht ist die mündig gewordene Gesellschaft ihrer Freiheit überdrüssig geworden oder vielleicht überfordert die Freiheit, sich das je eigene und individuelle Lebenskonzept zu gestalten, die meisten Menschen unserer Zeit? Es scheint sich ja anzudeuten, dass klare Ideologien – religiöse und politische – wieder auf dem Vormarsch sind. Diese Entwicklung macht mir nicht weniger Angst als der Verlust meiner Sorglosigkeit im Kontakt mit einer sprachunfähiger werdenden mitmenschlichen Umwelt, denen auf der Suche nach dem Lebenssinn die Puste auszugehen droht.

Wenn ich vor diesem Hintergrund einer offenkundigen Sehnsucht nach den richtigen Lebensrezepten und einer Orientierung für das gelingende Leben den Predigttext aus dem 1. Petrusbrief lese, dann fällt mir natürlich sofort der vormoderne patriachalische Duktus auf, der in sich schon den totalen Gegenentwurf der heutigen Lebensphilosophie bildet. Hier gibt es im Text die Rede vom Gehorsam und auch wenn der Ton dieser Verse für heutige Ohren fremd und barsch klingt und den Gläubigen fast ein autoritäres Zwangskorsett auferlegt, kann ich meine heimliche Sympathie zu der Strenge dieser Verse, die tief verborgen etwas sorgenvoll bemühtes in sich tragen, nicht ganz verhehlen. Gleichzeitig kommt hier von der Sache her ein Freiheits- und Gleichheitsbegriff zur Sprache, der weit tiefer dringt als die nur scheinbar offene Loyalität aller traurigen Glückritter auf der Suche nach dem „Superstar“. Und für mich steht fest, dass in diesen Versen mehr Lebensorientierung stecken kann als in allen Regalen der Ratgeberliteratur. Bei alledem entspricht die Forderung nach Nüchternheit einer christlichen Lebensführung gleichzeitig auch dem Wunsch einer nüchternen Bestandsaufnahme. Mit diesem sperrigen Text wird die Passionszeit dann gleich in mehrfacher Hinsicht zu einer Zeit nüchterner Analyse und Bestandsaufnahme in Bezug auf die Welt, den Glauben und die Zukunft. Gleichzeitig trägt dieser konservative Text im Dualismus zwischen Nüchternheit und heiligem Wandel den Keim der Hoffnung in sich, der sich allein auf die Offenbarung Jesu Christi stützen kann und weist damit auf Ostern hin.

I)

Manche Buchtitel aus den vergangenen Monaten lassen anklingen, was nicht weniger der Text des Petrusbriefes in der Sprache eines antik wirkenden und zugleich im Stil moralisierenden Pathos’ schreibt: „Bleibt nicht bei dem, was vormals war, da ihr in Unwissenheit nach den Lüsten lebtet.“ (V. 14) Was in biblischer Zeit als Paränese im Hintergrund einer Heilsvergewisserung an die Adresse der am Ende des 1. Jahrhunderts in der Minderheit und Verfolgungssituation lebenden Gemeinde gerichtet war, heißt bezogen auf uns alle in heutiger gesellschaftsanalytischer Sprache, dass die Spaßgesellschaft vorbei ist. Die begürteten Lenden des Gemütes bedeuten hierbei eine gesteigerte Form von Ernsthaftigkeit. Nüchtern sein heißt doch eine ungetrübte und besonnene Aufmerksamkeit haben. Im biblischen Zusammenhang begegnen Wachsamkeit und Nüchternheit darum als Haltungen – so schreibt es ein Textausleger – der Gerichtsparänese etwa bei 1. Thess. 5,6. Aber auch in der Passionszeit hat die Nüchternheit einen analytischen oder besser katalytischen und reinigenden Sinn. In der Konzentration auf das Wesentliche schärft sich der Blick und in der Beschränkung des Fastens, wie sie jetzt in der Passionszeit wieder von vielen Menschen entdeckt wird, gelangt der Mensch zu eigener innerer Klarheit und geistiger Orientierung. Die Faszination, die der Fastengedanke heute ausübt, könnte in dieser Konzentration auf das Wesentliche jenseits aller Zerstreuung gesehen werden.

Aber die Nüchternheit ist darüber hinaus heute auch im gesellschaftlichen Gespräch zu merken. Die Sehnsucht auf das Wesentliche heißt dann auch das Zurück auf eine vertiefte Inhaltlichkeit, die allen Analysen durchaus anzumerken ist. Damit ist eine Trendwende eingeleitet. Die Analyse, dass die Wohlstandsschraube sich nicht mehr vorwärts, sondern eher rückwärts dreht, sickert kommunikativ täglich durch die pluriforme Gagaphonie aller Fernsehtalkshows. „Begürtet die Lenden eures Gemütes, seid nüchtern“ (V. 13) könnte auch die Zusammenfassung der Analyse sämtlicher Wirtschaftsinstitute, Weihnachts- und Sonntagsreden von Soziologen und Politikern lauten, durch die wir in aller Nüchternheit mit der Wahrheit des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes konfrontiert werden. Der seit 1945 erreichte Wohlstand und die Lebensstandards einer Vollversorgung im Wohlfahrtsstaat sind auf Dauer nicht mehr auf dem gleichen Niveau haltbar. In der Tat ist die Politik seit geraumer Zeit dabei, nüchtern diese Wahrheit zu kommunizieren. Es wird ein anderer Wandel propagiert. Der Predigttext sagt es nüchterner: „Bleibt nicht bei dem, was vormals war, da ihr in Unwissenheit nach den Lüsten lebtet.“ (V. 14) Diese Warnung und Mahnung betrifft zunächst und zuallererst die Glaubenden. Aber sie richtet sich auch an die Welt, d.h. an die Gesellschaft. Was bedeutet nun aber in diesem Kontext „Lüste“? Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man hierbei lediglich an sexuelle Ausschweifungen denken. Vielmehr heißt es, dass nunmehr das schwelgende Leben im naiven und ungebrochenen Ausschöpfen aller Möglichkeiten vorbei ist. Die Unwissenheit ist zu Ende und damit ist das Ende der Naivität gekommen. Wir spüren alle miteinander im Alltagsleben, was das heißt. Die Renten sinken in den kommenden Jahren und die Modelle einer weitgehend privaten Vorsorge haben sich durchgesetzt. Damit wachsen die sozialen Unterschiede und ist Armut keine Randerscheinung mehr. Die ökologischen Ressourcen sind begrenzt und die sich häufenden Naturkatastrophen und sich in Windeseile übertragenden Seuchen machen klar, dass alles menschliche Leben am seidenen Faden eines intakten ökologischen Umfeldes hängt.

In der Beschreibung dieser Situation wird indessen auch klar, dass die Herausforderungen und Anforderungen gegenwärtiger Zeit anders geartet sind als die Probleme der Diasporagemeinde im ausgehenden ersten Jahrhundert. Die Mahnung der Nüchternheit an die christliche Gemeinde von damals richtet sich auf die Lebensform der Gemeinde. Nüchternheit heißt auf diesem Gebiet Analyse der Situation, in der sich Gemeinde und Kirche befinden und der Briefschreiber warnt vor diesem Hintergrund die Gemeinde davor, sich in geselliger Behaglichkeit mit den Zuständen arrangiert zu haben. Ja, der Text beschreibt den Zustand der Gemeinde geradezu als „eitlen Wandel nach der Väter Weise“ (V. 18) und mahnt die Hoffnung auf die Gnade an. Letztlich beschreibt er damit das Wesen der Kirche in ihrer doppelten Ausrichtung auf die Gnade einerseits und das Reich Gottes andererseits. Wie die Gemeinde, an die sich der 1. Petrusbrief richtet, in der „Fremde“ lebt und so kein rechtes Zuhause hat, so ist damit zugleich eine ekklesiologische Dimension thematisiert. Ist es zuviel gesagt, wenn sich der Text gegen eine allzu angepasste, allzu saturierte Seite einer Kirche im Staat wendet? Der Text mahnt also auch uns selbst als Kirche in der Gegenwart zu einer gewissen Nüchternheit und zur Konzentration auf das Wesentliche. Nun ist es ja aber so, dass die Volkskirche von einst mittlerweile und nicht nur in den Neuen Bundesländern zu einer „Minderheit mit Zukunft“ geworden ist und die Kirche wie der Staat zur Künderin der „nüchternen Zahlen“ geworden ist. Auch in dieser Situation ist der Text für die Kirche aktuelle.

II)

In eindrücklichen Bildern und Metaphern vermittelt der Predigttext, dass das Leben im Glauben eine entsprechende Haltung fordert. Beim Glauben gilt nicht, was die Werbung verspricht, nämlich „20 % auf alles...“ Vielmehr vollzieht sich das christliche Leben aus der Bekehrung. Immer wieder ist in den Biographien religiöser Menschen das Schema der „totalen Lebenskehre“ von einst zu jetzt erkennbar. Bekannt aus der Geschichte sind die Beispiele Augustins und des Franz von Assisi. Dem Leben in Leidenschaften und in Saus und Braus folgt ein heiliger Wandel in der Weise, wie es der Predigttext als die dem Glauben entsprechende Lebensform bezeichnet. „Seid auch Ihr heilig in allem eurem Wandel“. Und in der Konzentration auf das Wesentliche, die etwa auch der Theologe Dietrich Bonhoeffer in der Gefängniszelle spürte, öffnet sich der Blick auf die Gnade: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarte ich getrost, was kommen mag“. Selten hat ein Gedicht und ein Liedvers die Menschen so tief bewegt wie eben diese Zeile Dietrich Bonhoeffers. Aus dieser Erfahrung heraus vermochte Bonhoeffer zu leben und auch zu sterben, weil sie getragen war aus dem Wissen der Erlösung. Diese Erfahrung meint auch der Briefschreiber des 1. Petrusbriefes, wenn er die Gemeinde mit nüchterner Klarheit an die Hoffnung auf die Gnade erinnert.

Der Predigttext nimmt uns dabei in der Hoffnung auf die Gnade mit zu einer geradezu provozierenden Aussage. Er stellt die Alternative auf: „Geld oder Liebe“ und sagt, dass es die Versöhnung in Jesus Christus nur in der Währung der Liebe Gottes gibt. In Aufnahme der jüdischen Sprache des Opferlammes führt der 1. Petrusbrief der Gemeinde vor Augen, dass mit dem Blut Jesu Christi die Erlösung des Menschen erkauft ist. Das ist provozierend für damalige, aber vermutlich nicht minder für heutige Ohren, denn das heißt doch, dass Jesus Christus stellvertretend für die Menschen den Tod am Kreuz erlitt oder anders: es steht einer für uns ein. In jedem guten Western und in vielen Kinofilmen zwischen Harry Potter und Herr der Ringe ist immer einer, der Held, stellvertretend für die Anderen der Gute. Dieser Eine ist dann von Gott selbst von den Toten auferweckt worden und zum Grund des Glaubens und der Hoffnung geworden. In der Passion und im Leiden Jesu Christi setzte sich Gott selbst der Gewalt und den Mächten des Todes aus. In Jesus Christus wurde der Kampf der Mächte von gut und böse gekämpft und das Neue Testament erzählt in vielfachen Formen davon, dass mit der Auferstehung Jesu Christi ein neues Leben angefangen hat. Wir kennen ein Leben, dem permanent die Zeit davon läuft. Das Leben aus dem Glauben dagegen vertraut auf Gottes Güte und Fürsorge.

Und nun erst erschließt sich auch, was der Predigttext mit dem Gehorsam und dem Heiligen Wandel meint. Wenn der Text hier von „Heiligung“ spricht, dann ist damit nicht ein Leben in Keuschheit gemeint oder das Einhalten aller Gebote. Auch nicht das fürwahrhalten der christlichen Lehre steht im Hintergrund. Vielmehr heißt heiligen, dass wir als Menschen dem die Ehre geben, dem sie zusteht: Gott! Ein Leben in Heiligung heißt dann, an Gott zu glauben und ihn als den Schöpfer der Menschen zu ehren. Heiligung ist dann nicht weniger als die nüchterne Erkenntnis: Gott ist Gott und der Mensch bleibt Mensch. Diese Begegnung mit dem Heiligen Gott bleibt nicht folgenlos, weil sie bei aller Nüchternheit im Glauben die Menschen aufeinander zu bewegt und sie in der Hoffnung auf das Reich Gottes neue Wege gehen lässt.

III)

In der Konzentration auf die Nüchternheit oder, so kann ich nun sagen, in der Heiligung des Glaubens, die der Text von der Gemeinde und von jedem Christen fordert, liegt die Zukunft begründet. Wer sich im Glauben von der Naivität abwendet, wird in seinem Leben an die Offenbarung in Jesus Christus verwiesen und damit an die Hoffnung auf die Auferstehung. Mit dieser Wende kommt der Text zu seinem eigentlichen Aussageziel und es macht Sinn, mitten in der Passionszeit Ostern bereits in den Blick zu nehmen. Dem Petrusbrief geht es demnach zentral um die Stärkung des Glaubens an Jesus Christus. Die Hoffnung bildet die Antriebskraft, aus der heraus die christliche Gemeinde lebt und aus der heraus sie auch Krisen bewältigen kann. In der Hoffnung werden die Herausforderungen des Alltags zur Chance. Aus der Hoffnung heraus konnte die Gemeinde von damals die eigene Fremdheitserfahrung in der Gesellschaft aushalten. Der Predigttext stärkt die Gemeinde, indem er vor Augen führt, was Gott für uns getan hat.

Mit dieser Hoffnung im Rücken und der guten Erfahrung, dass Glaube und Hoffnung in Zeiten der Krise neue Kräfte mobilisieren, lässt sich auch der nüchterne Blick der kirchlichen Situation in der Gegenwart wagen. Statt den Blick auf die sinkenden Gemeinden, auf leerer werdende Gottesdienste und vor allem die schrumpfenden Einnahmen zu richten, kann sich die Perspektive umdrehen. Anselm Grün sprach in anderen Zusammenhängen einmal von der sog. „Gegenwort-Methode“. Kennt die Volksweisheit die Macht negativer Einbildungen, so vermittelt die Hoffnung Kraft und vor allem Orientierung, weil sie Ziele setzt. Insofern vermag aus der Hoffnung heraus dieser Text zu einem Glaubens- und auch Lebensratgeber zu werden. So wird dieser Predigttext gerade in seiner Wendung vom einst zum jetzt, vom Leben in den Lüsten zur Heiligkeit ganz konkret: In der heilsamen Erinnerung an den Grund der Gnade wendet sich der Blick nach vorne. Es ist fast wie bei Sportlern, die auf dem letzten Drittel des Marathon-Laufes müde zu werden drohen. Sobald sie das Ziel am Horizont sehen, werden sie wieder hellwach, gewinnen eine Nüchternheit und sind bereit, das Letzte der inneren Kräfte zu mobilisieren, weil sie wissen, dass es sich lohnt. Im Grunde ist es mit dem Glauben auch so: Durch die Hoffnung auf die Auferstehung wissen wir, dass sich das Leben lohnt. Diesen Rat gibt uns die Bibel und das Beste daran ist: er kostet nichts!

Prof. Dr. Ralf Hoburg, Hannover
RalfHoburg@aol.com


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