Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Reminiszere, 12. März 2006
Predigt zu Jesaja 5, 1-7, verfasst von Hans-Otto Gade
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

die Eltern waren völlig verzweifelt. Beide saßen mir gegenüber; händeringend suchten sie nach Worten. Dieses Ehepaar kannte ich schon lange. Ich hatte die beiden getraut und ihre Kinder getauft und konfirmiert.

Für diese Eltern waren ihre Kinder der Lebensmittelpunkt. Sie gaben sich viel Mühe, setzen sich für Sohn und Tochter ein, und vor allem hatten sie viel Zeit für die beiden. Alles andere konnte und musste zurückstehen, wenn es um Sohn und Tochter ging.

„So gut haben es nicht alle Kinder!“ sagte eine Nachbarin denn auch mal zu mir. Ja, in dieser Familie war alles zum Besten.

Und nun saßen die beiden vor mir; Tränen standen in ihren Augen und die Frau sagte, was alle Eltern in so einem Fall denken und fragen: „Was haben wir denn bloß falsch gemacht? Wir haben doch alles getan, was gut war für unsere Kinder und wir haben doch soviel Spaß und Freude miteinander gehabt!“

Was war geschehen? Beide Kinder hatten sich verändert. Ohne äußeren Anlass, ohne erkennbaren Grund stellten sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegen ihre Eltern. Die Tochter hatte die Schule abgebrochen und der Sohn die Lehre hingeschmissen – ihr Lebensinhalt war nur noch Rumhängen mit obskuren „Freunden“, denen auch ich nicht so unbedingt im Dunklen begegnen möchte.

Nach Hause kamen beide schon seit Monaten nur noch zum Schlafen und bei seltenen Gesprächen gab es höchstens noch aggressive, beleidigende Worte.

Das Elternpaar wusste keinen Ausweg mehr. Die Kinder waren über 18 und somit vor dem Gesetz erwachsen und selbstständig. Aber die Eltern hatten doch etwas anderes von ihren Kindern erhofft: Einen guten Schulabschluss, eine erfolgreiche Lehre, damit die Zukunft der Kinder gesichert wäre.

„Das kann doch nicht das Ergebnis unserer Erziehung sein!“ So der Vater wütend. „Denen setze ich den Stuhl vor die Tür – die sollen doch bleiben wo sie wollen, bei mir nicht mehr!“ Und dann fügt er noch verbittert hinzu: „Die sind für mich gestorben!“

Diese Geschichte ist mir eingefallen, als ich den Predigttext gelesen habe: Es ist das „Lied vom unfruchtbaren Weinberg“. Ich lese dieses Lied des Propheten Jesaja mal vor:

1 Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe.

2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.

3 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg!

4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?

5 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde.

6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.

7 Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Dieses Lied ist ein Bild. Ein Bild für das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Ein Bild für die enttäuschte Liebe Gottes. Gott ist schlichtweg zornig und bitter enttäuscht: Was habe ich nicht alles für dieses Volk getan – und was ist das Ergebnis?

Wer mal die Hebräische Bibel durchblättert, dieses Buch, das wir das Alte Testament nennen, der liest überall davon, was Gottes alles für sein Volk getan hat. Gott ist den schweren Weg des auserwählten Volks mitgegangen und hat sich seinem Volk immer wieder als der rettende und bewahrende Gott gezeigt.

Anders ausgedrückt: Gott hat sein Volk geliebt. Hat es immer wieder nachsichtig geführt und geleitet – so wie Vater und Mutter ihre Kinder lieben.

Und was ist das Ergebnis – oder, wie wir Eltern manchmal zu sagen pflegen: Was ist der Dank für diese Liebe?

Jesaja zieht eine bittere Bilanz: Das Volk Gottes hat Gott vergessen. Das Volk hat all die hohen Grundsätze eines Lebens nach Gottes Willen vergessen.

Wenn Sie sich mal viel Zeit haben, beispielsweise im Urlaub, dann lesen Sie sich mal die Bücher der Propheten im Alten Testament durch. Sie werden erstaunt sein, welche Maßstäbe die Propheten vor weit über 2.000 Jahren an ein Leben nach Gottes Willen angelegt haben.

Die Kritik der Propheten richtet sich in erster Linie gegen ein falsches soziales Verhalten. Vor allem die Mächtigen im Volk und die Besitzenden werden immer wieder scharf kritisiert, weil sie das Recht der Witwen, Waisen und Armen missachten.

Die soziale Verpflichtung der Volksgemeinschaft gegenüber den Schwachen hat vor Gott eine sehr große Bedeutung. Die Einhaltung des Rechts, das den Schwachen schützt, ist für Gott äußerst wichtig, so schreiben die Propheten immer wieder.

Die Wirklichkeit sah im Alten Israel offensichtlich anders aus: Die Reichen wurden immer reicher, die Armen immer ärmer, und Witwen, Waisen und Armen wurde das ihnen zustehende Recht verweigert.

Gerechtigkeit? Fehlanzeige! So beschreibt Jesaja die Lage im Israel seiner Zeit in seinem Weinberglied:

Gott wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, Gott wartete auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Gott ist schwer enttäuscht, all seine Liebe, all seine Sorge, all seine Arbeit für sein Volk waren offensichtlich vergeblich.

Gott ist schwer enttäuscht, und er reagiert allzu menschlich: Er will sein Volk schutzlos der Geschichte überlassen. Er will sein Volk sich selbst überlassen, er will seine liebende Hand abziehen von dem Volk, das er selbst von seinen ersten Ursprüngen, von seiner Kindheit an geführt und geleitet und geliebt hat.

Diese Reaktion ist ja allzu verständlich, und wer mal bei den Propheten und in der Geschichte Israels nachliest, welche Bolzen das Volk Israel sich geleistet hat, der wird diese wütende, vernichtende Reaktion verstehen.

Liebe Gemeinde, so eine Predigt soll ja nicht nur Geschichten aus alter Zeit erzählen, sondern den Bezug zu unserer Zeit und zu unserem Leben herstellen. Ich frage mich: Ist diese enttäuschte Liebe Gottes auch auf heute übertragbar? Anders gefragt: Hat Gott auch heute Grund, enttäuscht zu sein über das Handeln der von ihm geliebten Menschen? Hat Gott auch heute Grund, seine Fürsorge aufzukündigen?

Ich will mich auf diese Frage gar nicht einlassen. Ich will gar nicht erst aufzählen, welche Fehler wir immer wieder machen, gerade im Verhalten gegenüber den Menschen, die angewiesen sind auf unsere Gerechtigkeit.

Ich will das deswegen nicht tun, weil ich dann auch all das aufzählen müsste, was wir tun, um die Not der Welt zu lindern; wo wir überall mit viel Kraft und großem Einsatz Menschen helfen, die unsere Hilfe lebensnotwendig brauchen. Im Auftrage Gottes und in Verantwortung vor ihm.

Vor Gott kann und will ich nicht aufrechnen. Ich kann und will keine Waage aufbauen, an der dann abzulesen wäre, was überwiegt: das Schlechte oder das Gute. Ich will nicht aufrechnen und dann mir selbst oder Ihnen sagen müssen: Gottes Liebesentzug droht auch uns.

Aber darum geht es ja gar nicht. Wir leben nicht mehr in Zeiten des Alten Testamentes, in denen immer wieder vom strafenden Gott die Rede ist. Wir sind Christen. Wir sind Christen, die ein paar Dinge wissen:

  • Wir wissen, dass wir immer wieder Gottes Willen verfehlen. Wir wissen, dass wir immer wieder schuldig werden vor dem, was Gott von uns fordert.
  • Wir vertrauen aber darauf, dass uns Gottes Vergebung gilt. Wir vertrauen darauf, dass Gott seine Liebe zu uns eben nicht beendet.
  • Wir vertrauen auf die unendliche Liebe Gottes. Auf die unendliche Liebe. Davon hat Jesus Christus immer wieder erzählt. Mit seinen Predigten, mit seinen Gleichnissen.

Gott redet heute anders als Jesaja das aufgeschrieben hat. Gott spricht seit 2.000 Jahren durch Jesus Christus. Und bei Jesus ist keine Rede von Vernichtung und Strafe und Liebensentzug.

Paulus hat immer wieder davon geschrieben, dass wir Christen von der Gnade Gottes leben. Die Gnade, die Liebe, die Gott uns schenkt „ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit“, wie Martin Luther schreibt.

Es ist ja völlig unstrittig, dass wir deswegen unser Leben in der Gemeinde und als Gemeinde so führen, wie Gott das von uns erwartet. Aber damit verdienen wir uns nicht die Liebe Gottes, sondern wir bestätigen sie dadurch nur.

Als Christen vertrauen wir vor allem auf das Wort Jesu Christi: „Sieh, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ Ich bin bei euch - ohne jede Bedingung, ohne jeden Zusatz.

Das ist die Garantie dafür: Gottes Liebe begleitet uns und trägt uns und hält uns in aller Zeit und Ewigkeit!

Darauf vertraue ich – davon lebe ich.

Amen

Pastor Hans-Otto Gade
Dietrich-Bonhoeffer-Platz 1
21614 Buxtehude
Tel: 04161 - 6 31 31  Fax: 6 39 59
E-Mail: hans-otto.gade@freenet.de

 


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