Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Invokavit, 5. März 2006
Predigt zu 2. Korinther 6, 1-10, verfasst von Jürgen Ziemer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Christsein heißt in Widersprüchen leben. Das höre ich aus diesem Text heraus.
Diese Botschaft ist nicht bequem. Mit ihr erreicht uns der Ernst der Passionszeit.
In Widersprüchen leben!
Für manchen mag das regelrecht ärgerlich klingen. Ginge es nicht einfacher und klarer? Verständlich ist solche eine Reaktion schon.
Was aber ist ein Glaube wert, der sich den Fragen nicht stellt, die er bei sich selber und bei anderen auslöst?
Paulus geht die Sache sehr grundsätzlich und ganz offen an.
Er will nicht schlechte Stimmung verbreiten. Im Gegenteil: Er will Mut machen zu einem nüchternen und realistischen Glauben, zu einem Christsein, das sich der Widersprüche, in denen und mit denen es lebt, bewusst ist und darin reift.

Da ist zuerst ein geradezu provozierender Widerspruch: der Widerspruch der Zeit.
Wer unvoreingenommen liest, wird aufhorchen:
„Siehe jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe jetzt ist der Tag des Heils!“
Das hört sich zunächst an, wie ein Gegenprogramm zu dem, was wir in diesen Wochen täglich sehen, hören und lesen. Eine Unheilsmeldung folgt der anderen.
„Siehe, jetzt ist die Zeit des Gerichts“, möchte man meinen, wenn man sich die Nachrichten vergegenwärtigt: immer bedrohlicher wirkende Proteste in der islamischen Welt gegen geschmacklose und verletzende Karikaturen, das unaufhaltsame Fortschreiten einer Vogelseuche mit latenter Gefahr für Menschen, die drohende Erosion der sozialen Sicherheitssysteme in unserer Gesellschaft, der Zusammensturz einer Markthalle in der Moskauer Innenstadt. Es ist eigentlich egal, welche Beispiele wir wählen. Und auch wenn wir uns nicht von alarmistischer Panikmache anstecken lassen, fast immer kommen wir auf eine eher düstere Zeitansage.
Die Zeiten, zu denen Paulus an die Korinther schrieb, waren anders, aber vermutlich nicht rosiger - weder in Allgemeinen, noch auch für die christliche Gemeinde und einzelne ihrer Glieder..
Dennoch lautet seine Botschaft, in der ja die Gottesbotschaft steckt, wie sie auch Jesus weiter gesagt hat (Luk 4, 21):
„Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!“ (V.2)
Jetzt, nicht erst morgen, nicht erst, wenn dieses und jenes Problem gelöst sein werden, sondern: jetzt, heute! Das Evangelium, so scheint es, steht quer zur Realität.
Das ist so, und dieser Widerspruch ist wesentlich. Wir können und dürfen ihn nicht glätten.
Die Ansage des Heils, die Verheißung der Gnade ist nicht gemeint als Verklärung der Wirklichkeit, als Schönreden der Realität, sondern als Kontrast zu ihr. Gottes Zeit steht gegen die Erfahrungen der Weltzeit.
Mitten in dem Erleben von bedrohender Realität – im politische wie im persönlichen Leben - will uns Gott erreichen. „Jetzt ist die Zeit des Heils!“
Das stellt unsere Neigung in Frage, die wichtigen Fragen des Glauben hinauszuschieben und mit Gott ein bisschen zu verhandeln: Ja – wenn ich mehr Zeit habe, wenn sich die Lage wieder normalisiert hat, wenn ich wieder richtig laufen kann…Nein: jetzt!
Ein Glaube, der mir heute nicht nützt, wird mir der später helfen? Der Widerspruch wird bleiben. Und entscheidend wird sein, ob ich gelernt habe, im jeweiligen
Augenblick allem Augenschein zum Trotz die Stimme Gottes zu hören, die mir, die uns sagt: Ich bin auf eurer Seite – „in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Mühen, im Wachen“ (V.3f), was es auch sei: „Jetzt ist die Zeit der Gnade.“

Und dann ist da ein weiterer, beunruhigender Widerspruch: der Widerspruch der Zeugen.
Die Botschaft hängt mit den Botschaftern zusammen. Paulus spricht vor allem von sich selber und auf dem Hintergrund der Kritik, die seine Person in Korinth und anderswo ausgelöst hat. Paulus hat wie kein zweiter für die Verbreitung der Christusbotschaft in der Welt seine ganze Existenz und alle seine Kraft eingesetzt. Er hat bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gearbeitet, sich schweren Gefahren ausgesetzt, Gefangenschaft aus sich genommen und noch viel mehr. Stets war er darauf bedacht, „keinen Anstoß zu geben“, damit weder sein Amt noch der neue Glaube ins Zwielicht gerieten. Aber böse Gerüchte und Unterstellungen blieben ihm nicht erspart. Paulus war eine Persönlichkeit, an der sich auch heftiger Widerspruch entzündete, und er hat darunter gelitten.
Dass der Glaube, mehr noch der Ruf des Christentums, sehr mit den Personen zu tun hat, die für ihn einstehen, leuchtet ein. Obwohl die Unterschiede zu den frühen christlichen Gemeinden des Paulus enorm sind, so ist doch darin etwas Gemeinsames: Man guckt besonders auf die Mitarbeiter, die Inhaber des Amtes der Verkündigung, nicht nur auf das was sie tun sondern auch darauf wie sie leben. Wie viel unberechtigte, aber auch wie viel berechtigte Kritik an der Kirche entzündet sich an dem Verhalten insbesondere der Pfarrerinnen und Pfarrern. Sie seien zu gehetzt oder zu unbeweglich, zu weltlich oder zu fromm, zu freundlich oder zu mürrisch, zu traditionell oder zu modern. Heute, wo so viele Veränderungen anstehen und die meisten Mitarbeiter der Kirche überbeansprucht sind, wirkt sich das besonders belastend aus.
Aber: Der kritische Blick auf Pfarrer und Katechetinnen, auf Organisten und Diakoninnen ist nicht nur verständlich, sondern auch notwendig. Woran soll man denn erkennen, ob es mit christlichen Glauben etwas auf sich hat, wenn nicht an denen, die für seine Verkündigung zuständig sind! Ich darf mich da als Pfarrer ebenso wenig wundern wie eine Kirchenvorsteherin. Das gehört dazu.
Es fällt uns in der Kirche schwer, mit Widerspruch und Kritik angemessen umzugehen. Paulus selbst ist da ein nicht unproblematisches Beispiel. Er rechtfertigt sich sehr schnell und empfiehlt sich selbst vielleicht ein bisschen zu beflissen: „in allem erweisen wir uns als Diener Gottes“. Ob die Korinther das überzeugt hat?
Freilich: Die Situation damals war einmalig gewesen und der Dienst des Paulus unvergleichlich. Das sollten wir nicht vergessen.
Aber das sollte uns auch nicht daran hindern, in unseren Kirchen und Gemeinden eine eigene Kultur der Kritik einzuüben und nicht aus zu viel Vorsicht alles auf sich beruhen zu lassen. Schweigen hilft in den seltensten Fällen.
Dabei ist dann aber auch zu bedenken: Die Kritik kann nur dann hilfreich und weiter führend sein, wenn sie aus dem Geiste einer echten menschlichen Liebe und Solidarität entspringt. Das hilft weiter und lässt uns in der Kirche besser damit leben, dass es Widersprüche zwischen der Botschaft selbst und ihren Zeugen gibt und immer geben wird. Wir sind Menschen, je mit unseren persönlichen Grenzen, und als solche beauftragt, in Gottes Namen die „Zeit der Gnade“ anzusagen. Das ist eine schier übermenschliche Aufgabe. Sie bedeutet: Wer im Dienste der Verkündigung des Evangeliums steht, hat immer etwas weiter zu geben, das sehr viel größer ist als er oder sie selbst. Das ist aber auch tröstlich: mag der Widerspruch der Zeugen auch groß sein, die Botschaft der Gnade ist mächtiger. Gott sei Dank!

Zuletzt muss auch der Widerspruch des Glaubens und im Glauben genannt werden.
Der berührt uns ganz persönlich, unsere eigene Existenz im Glauben. Ich erlebe diese Widersprüche immer wieder:
Glaube ich eigentlich oder entgleitet mir der Glaube im Augenblick gerade wieder? Habe ich meine Ängste überwunden oder suchen sie mich allzu oft heim? Bin ich zur Liebe fähig oder scheitere ich ständig aufs Neue daran? Ist meine Existenz gesichert oder drohe ich in die Bodenlosigkeit zu versinken?
Es ist nicht leicht, solche Fragen überhaupt erst einmal bei sich zuzulassen und diese Widersprüche auszuhalten.
Dietrich Bonhoeffer hat das auf einer ganz lebenspraktischen im Gefängnis an seinen Mitgefangenen (und wohl auch an sich selbst) wahrgenommen und so formuliert: „es gibt so wenige Menschen die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können; wenn die Flieger kommen, sind sie nur Angst… wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt, wenn ihnen etwas gelingt, sehen sie nichts anderes mehr.“ Das ist nur zu gut verständlich, aber Bonhoeffer weist darauf hin, dass es für den Glauben doch darauf ankomme, die inneren und äußeren Widersprüche des Lebens zu ertragen, pointiert ausgedrückt: Gott und die Welt, Angst und Vertrauen, Zweifel und Zuversicht zugleich in sich zu „beherbergen“ (Brief vom 29.5.1944)
Das ist schwer und wir sind da immer wieder auf den Anfang zurückgeworfen; aber wenn es ansatzweise gelingt, kann es uns wirklich weiter bringen.
Paulus ermutigt uns dazu, die Spannungen in uns ernst zu nehmen und uns ihnen nicht zu entziehen, auch nicht durch gut gemeinte fromme Sprüche. Es kommt gerade darauf an, den Glauben nicht aus den schwierigen Situationen herauszuhalten, sondern ihn genau da mit hinein zunehmen. Dann mögen wir es so erfahren, wie Paulus schreibt:
„Als die Sterbenden und siehe wir leben, als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die nichts haben und doch alles haben“ (V.9f)
Es ist freilich immer eine große Gnade, es so sehen und erleben zu können. Ich kann immer nur darauf hoffen und darum bitten, dass mir diese Gnade zuteil wird, wenn der Tod in mein Leben tritt, wenn Traurigkeit meine Seele zu verdüstern droht, oder wenn das bange Gefühl in mir Platz greift, es entgleite mir alles und ich könne am Ende mit nichts dastehen.
„Als die Sterbenden und siehe: wir leben, als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die nicht haben und doch alles haben!“
Deutlicher und zugleich tröstlicher kann man die Widersprüche nicht formulieren.
Wer genau hinhört, spürt auch: Mit diesen Formulierungen weist Paulus über sich selber hinaus auf die Existenz Jesu Christi. ER ist der Gekreuzigte, und siehe: ER lebt und in seine Hand ist alles gelegt.
Mit ihm können wir es wagen, in den Widersprüchen unseres Christseins und mit ihnen zu leben und dabei guten Muts zu bleiben.

Amen.

Liedvorschlag: EG 97 Holz auf Jesu Schultern

Prof. Dr. Jürgen Ziemer, Leipzig
ziemer@rz.uni-leipzig.de


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