Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Sexagesimae, 19. Februar 2006
Predigt zu 2. Korinther (11, 18.23b-30); 12, 1-10, verfasst von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Herbst war es in Makedonien, der Wein in der Kelter, die Jahresarbeit beendet. Die Menschen, die den Sommer über zwischen ihren Feldern gewohnt hatten, waren in die Dörfer zurückgekehrt. Das war wie immer ein Anlass zum Feiern gewesen, und nun war Ruhe eingekehrt. Doch der Ruhe folgte jedes Mal und ziemlich bald die Langeweile.

Durch dieses herbstliche Makedonien zog Paulus und versuchte zu missionieren. Oft hatte er allerdings den Eindruck, dass er nicht mehr war als eine willkommene Abwechslung und dass seine Auftritte nach ihrem Unterhaltungswert beurteilt wurden. Jedenfalls schloss er das aus manchen Reaktionen, aus bösartigen Zwischenrufen zum Beispiel, auf die schallendes Gelächter folgte, aus fauligen Apfelsinen, mit denen man nach ihm warf, aus dem Getuschel von Leuten, wenn er durch die Straßen ging. Manchmal wünschte er sich eine stille Kammer, um sich unbemerkt auszuheulen, manchmal aber spürte er eine solche Wut, dass er die ganze Meute am liebsten verprügelt hätte. Doch er tröstete und beruhigte sich damit, dass er für Christus litt, dass er mit ihm litt und im Leiden Anteil an ihm haben konnte. Die Leute aber, die ihn provozieren wollten, hielten ihn für arrogant, weil er sich nicht provozieren ließ. Das steigerte ihre Bosheiten noch.

Dann war eines Tages Titus eingetroffen, war ihm aus Korinth nachgereist, von woher sie sich kannten. Titus war Heide gewesen, bevor er Christ wurde, und Paulus hatte durchgesetzt, dass Titus von jüdischen Aufnahmeriten befreit wurde. Paulus nahm überall zunächst Kontakt zur jüdischen Gemeinde auf; dort kannte er sich mit dem Ablauf der Gottesdienste aus, dort konnte er mit seiner Predigt an Bekanntes anknüpfen und vieles voraussetzen, was den Heiden unbekannt war. Überhaupt war ja, was Paulus verkündigte, jüdisch und ohne Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht zu verstehen. So lebten jüdische Bräuche in den frühen Christengemeinden ganz selbstverständlich fort, und es gab starke Fraktionen, die das ganze Gesetz und alle Propheten auch für Heiden verbindlich machen wollten. Paulus war entschieden dagegen. Das hatte zu einem heftigen Streit mit der Gemeinde in Jerusalem und schließlich zur Trennung geführt. Doch der Jerusalem-Virus verbreitete sich überall dort hin, wo es jüdische Gemeinden gab, und so ging der Streit von Jerusalem in anderen Städten weiter. Unter anderem auch in Korinth, und dort durch weitere Varianten noch verschärft.

Nun war Titus gekommen, um zu berichten, was der Brief des Paulus in Korinth bewirkt hatte. Was Paulus hörte, tröstete ihn. Zunächst jedenfalls, denn Titus hatte erst einmal von positiven Entwicklungen erzählt. Doch je länger sie zusammen waren, je mehr das gegenseitige Vertrauen wuchs, um so deutlicher erkannte Paulus, dass in Korinth noch manches im Argen lag. Mit der Zeit dämmerte ihm, dass er wohl noch einen zweiten Brief würde schreiben, womöglich sich noch einmal selber auf den beschwerlichen Weg machen müssen. Das sagte er auch zu Titus. Je mehr dieser erzählte, um so mehr begann Paulus, in Gedanken einen Brief zu formulieren.

Eines Abends saßen die beiden wieder zusammen, es war ein angenehmer Tag gewesen, Paulus hatte interessierte Zuhörer gehabt und war mit sich und der Welt zufrieden. Natürlich war Korinth wieder das Thema. Paulus erfuhr, das Aquila und Priscilla für ein streng jüdisch ausgerichtetes Christentum warben, während der Synagogenvorsteher Crispus einen sehr liberalen Standpunkt vertrat; er war sogar im Amt geblieben. Titius schließlich, bei dem Paulus gewohnt hatte, praktizierte ein schwärmerisches, mystisches Christentum. Dann war noch ein Apollos aufgetaucht, wohl ein ehemaliger Jünger des Täufers, und predigte eine asketischen Glaubenspraxis. „Sie alle haben ihre Anhänger,“ schloss Titus seinen Bericht, „schade nur, dass sie sich nicht vertragen.“

Paulus hörte das mit zunehmender Enttäuschung, in die sich das altbekannte Gefühl mengte, ein Versager zu sein. „Habe ich denn in mehr als 18 Monaten nichts erreicht?“ fragte er schließlich, „habe ich ihnen denn nicht das eine wahre und kein anders Evangelium gepredigt?“ – „Das hast du,“ antwortete Titus und legte dem Freund die Hand auf die Schulter, bevor er fortfuhr: „Doch seid du abgereist bist, haben andere an Einfluss gewonnen. Sie alle verkündigen Christus, aber mit jeweils anderen Akzenten und Konsequenzen. Dadurch gibt es in der Stadt verhältnismäßig viele Christen, denn unterschiedliche Menschen können eine Form finden, die sie anspricht. Sieh das doch mal positiv!“

Das aber konnte Paulus nun überhaupt nicht; ihn schmerzte, dass er in Korinth offenbar seine Autorität verloren hatte. Das war gefährlich für ihn und für seinen Anspruch an sich selber, für Christus möglichst viele Menschen zu fischen. Als Spätberufener wollte, musste er einfach besser sein als ein Berufsfischer wie Petrus. „Wieso laufen die Leute von mir weg und zu den andren hin?“ fragte er; die Frage richtete er mehr an sich selbst als an Titus, doch der antwortete: „ Erstens bist du weit weg, doch die Leute haben Fragen und wollen Antworten. Bis du auf schriftliche Fragen antwortest, vergehen Monate; so lange können die Leute nicht warten. Und zweitens handelt es sich bei allen – außer Apollos – um angesehene und einflussreiche Bürger der Stadt. Apollos aber ist ein mitreißender Redner.“ – „Und ich bin weder das eine noch das andere, willst du sagen,“ bemerkte Paulus. Titus schwieg, und Paulus stellte fest: „Du stimmst dem also zu.“

So ruckartig stand Paulus auf, das Titus erschrak. War er zu offen gewesen, hatte seine Ehrlichkeit Paulus gekränkt? Er wollte ihm doch helfen, ihm ein paar Hinweise geben, schließlich kannte er die Situation in Korinth und die Leute dort besser als Paulus.

Der war inzwischen mit kurzen, heftigen Schritten ein paar mal hin- und hergelaufen, die Arme auf dem Rücken und den Kopf gesenkt, als wollte er damit durch eine Wand. Abrupt blieb er vor Titus stehen: „Nun hör mir mal gut zu, und was du hörst, erzähle in Korinth: Wer von all diesen Leuten, die Jünger eingeschlossen, hat vor Damaskus eine Christuserscheinung gehabt wie ich? Wer von all diesen Leuten ist seit nun fast zwanzig Jahren unterwegs, ist trotz chronischer Krankheit bei Wind und Wetter und glühender Sonne Tausende Meilen gelaufen, geritten und gesegelt wie ich? Wer von all diesen Leuten hat gehungert und gefroren, ist unterwegs mehrmals ausgeraubt worden, hat Schiffbruch erlitten und überlebt wie ich? Wer von diesen Leuten hat in Gefängnissen gesessen, ist gefoltert und ausgepeitscht worden wie ich? Und das alles um Christi Willen. Kannst du mir einen einzigen dieser selbsternannten Apostel nennen, die das alles erlitten haben und trotzdem weitermachen? – Siehst du, du schweigst. Habe ich das verdient, wie eine Null, wie ein hergelaufenes Nichts behandelt zu werden, ich, der ich den Menschen die Botschaft vom Heil bringe? Einen angesehenen, einflussreichen Menschen behandelt man so nicht, so geht man mit Schwächlingen um, mit Leuten, die sich für ihren Glauben zum Narren machen. Aber ich kann nun mal nicht anders.“

Paulus verstummte, und Titus wusste nicht, was er sagen sollte. „Aber,“ stotterte er schließlich, „aber, Paulus, Mensch, das weiß doch keiner!“ und nach einer Weile: „Du bist kein Schwächling, Paulus, und auch kein Narr. Wer hat denn als Gefangener und Gefolterter, als Schiffbrüchiger und so Stärke gezeigt, wenn nicht du. Sie haben dich nicht mundtot gekriegt, haben dir nicht das Rückgrat verbogen. Immer warst du dann der Stärkere, wenn andere dich schwach machen wollten.“ – „Nicht ich, Titus, nicht ich“ widersprach Paulus, „Christus hat mich stark gemacht. Und du hast recht: Ich habe seine Kraft immer dann am stärksten gespürt, wenn mein Leben in Gefahr war, immer dann, wenn ich sie brauchte. Darauf kann ich mich verlassen, und darin liegt ein tiefer Trost. Komm, lass uns noch ein wenig spazieren, das klärt die Gedanken.“

Sie gingen durch den herbstlichen Abend irgendwo in Makedonien, die Luft war noch recht mild, und ein halber Mond gab etwas Licht auf ihren Weg. In abendlicher Ruhe überlegten sie, wie die Gemeinde in Korinth reagieren könnte, wenn sie erfuhr, was Titus erfahren hatte. Dabei wurde der Schritt des Paulus immer fester, sein Gang aufrechter. Er wusste, worauf er sich verlassen konnte. Amen

Gebet: Guter Gott, wer geknickt ist, den zerbrichst du nicht, sondern richtest ihn auf; wer am Boden liegt, den zerstörst du nicht, sondern stärkst ihn, dass er sich erhebt. Dafür, dass wir dies in unserem Leben erfahren haben, sagen wir dir Dank. Und weil wir dass erfahren haben, bitten wir dich heute für Menschen, die unter ihrer Schwachheit leiden:

Für Hungernde und Dürstende, dass sie satt werden; für Einsame, dass sie Gemeinschaft bekommen; für Obdachlose und Heimatlose, dass sie ein Zuhause finden; für in Schuld und Verstrickung Gefangene, dass sie frei werden; für am Leben Verzweifelnde, dass sie Sinn finden; für ihres Glaubens wegen Verfolgte, dass sie zur Ruhe kommen.

Guter Gott, du legst zwar Lasten auf, aber du hilfst auch tragen, dass die Last erträglich bleibt. Gib denen, die unter ihrer Last zu zerbrechen meinen, Zuversicht und Gewissheit, dass sie nicht tiefer fallen als bis in deine Hand.

Was uns belastet, und auch, was uns erleichtert, bringen wir vor dich und beten gemeinsam: Unser Vater im Himmel ...

Gesänge: 452, 1 – 3; 279, 1, 4, 5; 366, 1 – 4; 243, 1, 4, 6

Paul Kluge P. em.
Großer Werder 17
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