Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Letzter Sonntag nach Epiphanias, 5. Februar 2006
Predigt zu Offenbarung 1, 9-18, verfasst von Günter Goldbach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Mitten in der Nacht brechen wir auf: von dem türkischen Hafen Kusadasi zu einer Fahrt über das Ägäische Meer. Ein kleines Fischerboot soll uns zu der ca 80 km entfernten griechischen Insel Patmos bringen. Bei Sonnenaufgang teilen wir Brot und Wein. Eine schmale, vom Wind zerzauste Stola über dem Anorak des Freundes ist das einzig „Sakrale“ bei dieser Feier. Und natürlich: die bekannten, über den Elementen gesprochenen Worte des Neuen Testaments. Es ist bestürzend einfach und eindrucksvoll zugleich.

Bei der mehrstündigen Fahrt auf schwankendem Boden meint man, das Verlorenheitsgefühl des Johannes nachvollziehen zu können. Ein Gefühl, das nicht weichen will, wenn Patmos erreicht ist: auch heute noch keine „Perle der Ägäis“. Nach einer spätbyzantinischen Chronik war diese Strafkolonie der Römer ausgestorben und unkultiviert. Bedeckt mit Dornbüschen und Gestrüpp. Vollkommen unfruchtbar aufgrund der Trockenheit.

Immerhin konnte sich Johannes frei und ohne Ketten auf der Insel bewegen. Die Grotte, die ihm zur Behausung diente, lag wohl weiter oberhalb, einen weiten Blick über das Meer bietend. In der Kunst wird er oft vor dieser Grotte sitzend abgebildet, schreibend oder seinem Schüler Prochorus diktierend (vgl. Act. 6,5). Der Blick ist ins Weite gerichtet, gegen den Horizont, wo in der flimmrigen Hitze Himmel und Meer zu einem unauflöslichen Ineinander verschmelzen.

Dort geschieht, was unser Text berichtet:
Johannes vernimmt eine Botschaft. Eine Botschaft, die ihn ganz persönlich und unmittelbar betrifft: das Zentrum seiner Angst und Verzweiflung. Eine Botschaft gegen die zerstörerische, furchtbare, zur Verzweiflung treibende Macht des Todes. Sie lautet: „Fürchte dich nicht! Ich war tot, und siehe, ich lebe und habe die Schlüssel der Hölle und des Todes“. Die Botschaft gilt dem Johannes, aber nicht nur ihm. Sie gilt allen Christen, nicht nur in den 7 kleinasiatischen Gemeinden. Die 7-Zahl ist eine symbolische Zahl der Ganzheit: „Schreibe es und schick es an die Gemeinden...“

Botschaft und Auftrag erhält Johannes in einer Vision. Weil er sehen will, wer zu ihm spricht. Was er sieht, ist überwältigend und ihm dennoch bekannt: aus den traditionellen Überlieferungen derartiger Erscheinungen (vgl. Dan. 10). Und nun auch er, Johannes, sieht es und berichtet: Christus als Weltenrichter mit den Eigenschaften übermenschlicher Größe, in für ihn unvorstellbarer Schönheit, umstrahlt von gleißendem Licht.

War diese Vision ein reales Ereignis oder ein bewusst eingesetztes literarisches Werkzeug? Ich bin nicht sicher. Auf jeden Fall: Visionen sind ganz und gar nicht mehr unsere Sache. Denn: Der Schlüssel ist uns verloren gegangen, der Geheimcode abhanden gekommen, um das in diesem Text verwandte apokalyptische Material in seinen Einzelheiten deuten zu können. Skepsis ist jedenfalls angebracht: Visionen sind ja Offenbarungen, die einer hat und andere nicht. Sie sind nicht beweisbar und kontrollierbar. Sie entziehen sich der Einsichtigkeit für jedermann. Sie machen uns eben deshalb misstrauisch. Ja, wer heute „Visionen“ zu haben vorgibt, erscheint uns als anormal, krankhaft, ein pathologischer Fall. Keinesfalls erregt er unsere Bewunderung - wie es wohl damals war, in neutestamentlicher Zeit, zur Zeit des Johannes.

Und auch das, was Johannes sieht, ist uns fremd geworden: Christus als der wiederkommende Weltenrichter. Ja, wir zitieren es in unserem Glaubensbekenntnis: „Er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten“. Und wir kennen die künstlerischen Darstellungen in vielen Kirchen. Das berühmte Mosaik in Ravenna... Dennoch: Christus als Weltherrscher, als Richter, alles, was sich damit an Vorstellungen verbindet, ist uns nicht mehr vertraut. Christus, den kennen wir besser als den irdischen Jesus. Als den Erniedrigten, der sich nicht scheute, zu werden wie unsereiner. Christus, den kennen wir als den Zeugen für die Barmherzigkeit Gottes. Christus, den bekennen wir als den für uns Gekreuzigten. So wie ihn Johannes schildert, kennen wie ihn eben ganz und gar nicht: sein Haupt weiß wie Schnee, seine Augen wie eine Feuersflamme, aus seinem Mund ein zweischneidiges Schwert, sein Angesicht leuchtend wie die Sonne... Das alles erscheint uns unwirklich und unvorstellbar. Deshalb ist unsere Frage verständlich: Was können wir heute damit anfangen?!

Da gibt es natürlich kluge Leute, die wissen Bescheid. Die sagen: Na ja, man muss das verstehen. Johannes entwirft das Bild des Weltherrschers Christus als Gegenbild zu seinen ganz unmittelbaren persönlichen Erfahrungen. Die sich frappierend unterscheiden von den auf Christus gerichteten „Naherwartungen“ der ersten Christen. Die sich aber sehr wohl decken mit den tatsächlichen Erfahrungen derjenigen, an die er schreibt. Die sich vielleicht so charakterisieren lassen: Die großen Erwartungen, geknüpft an den Auftrag: „Geht hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker“ (vgl. Matth. 28,19) - diese Erwartungen scheinen sich nicht erfüllen zu wollen. Ja, in den aufblühenden römischen Städten Kleinasiens, die Johannes vor Augen hat, gibt es christliche Gemeinden. Vermutlich haben sie sich aus den hellenisierten jüdischen Gemeinden entwickelt. Aber ihre Zahl ist eher klein. In einer Stadt wie Ephesus mit 150.000 Einwohnern gibt es wohl mehr als ein Dutzend Sekten und Kulte, von denen die christliche Gemeinde vermutlich die zahlenmäßig kleinste ist. In den kleinasiatischen Gemeinden gibt es zudem Auseinandersetzungen und Streitigkeiten: Einige Mitglieder passen sich der herrschenden synkretistischen Atmosphäre an. Andere behaupten rigoroser ihre Sonderstellung und sind enttäuscht über das aggiornamento der Kompromissler. Darüber hinaus: Die blutigen Verfolgungen der Christen durch die römische Staatsmacht im 2. Jahrhundert, die Hunderttausende von ihnen das Leben kosten soll, zeichnen sich Ende des 1. Jahrhunderts schon ab: Kaiser Domitian (81 – 96 n. Chr.), der sich „höchster Zeus und Heiland“ ansprechen lässt, besteht auf den Opfern vor seinem Standbild. Verweigerer werden hingerichtet oder in die Verbannung geschickt - wie eben Johannes. Christen dürfen keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden. Sie werden auf alle erdenkliche Weise schikaniert. Hinzu kommen Spott und Schmähungen. Weil die Christen das Heil von jemandem erwarten, der tot ist. Den die weltlichen Autoritäten liquidiert und auf schmähliche Weise umgebracht haben. - Die Enttäuschung, die Resignation, die Verzweiflung unter den Christen nehmen zu. Johannes weiß das. „Ich teile eure Trauer“, beginnt er deshalb seinen Brief (in der Übersetzung von Walter Jens).

Das ist es eben, mögen viele von uns denken. Diese ganze Situation - das ist doch nicht mehr unsere Situation. Wir sind keine verfolgte und leidende Kirche - jedenfalls nicht in der westlichen Welt. Die Repräsentanten unserer Kirchen werden nicht umgebracht oder in die Verbannung geschickt. Vielmehr: Sie sind anerkannt und einflussreich. Die großen Dome und die Kirchtürme unserer Gotteshäuser prägen die Silhouette unserer Städte und charakterisieren die Zentren unserer cities. Da sind keine Mini-Versammlungsräume wie damals oder Ruinen wie heute.

Zugegeben: Nur in Philadelphia als der einzigen der 7 kleinasiatischen Gemeinden treffen wir auf eine kleine Schar von Christen, die uns freundlich empfangen. In einer intoleranten, islamistisch geprägten Umgebung sind sie Bürger minderen Rechts. Sie bewirten uns in einem kleinen Gasthof neben den Ruinen der Johannes-Kirche - im Schatten einer großen Moschee.

Ephesus, die schon erwähnte hellenistische Metropole: Von der eindrucksvollen Größe und Pracht dieser antiken Stadt lassen die ausgegrabenen Ruinen noch immer etwas erahnen. Abseits der dorthin gelenkten Touristenströme, nahe dem Magnesischen Tor, eingezäunt, von Unkraut halb überwuchert, ein sichtbarer Rückzugsplatz für die vielen streunenden Hunde: das sog. Lukas-Grab. Ursprünglich ein großes römisches Gebäude aus dem 1. Jahrhundert, später zur Kirche umfunktioniert und dem Lukas gewidmet: Ein Buckelochse, sein Signum also, das unter ein Kreuz eingemeißelt wurde, ist noch heute als Relief sichtbar. Hier soll er begraben worden sein. Nach Hieronymus wurden seine Gebeine erst im 4. Jahrhundert nach Konstantinopel überführt (De vir. ill. 8). In jedem Fall war Lukas hier als Begleiter des Paulus (vgl. Phlm. 24). Als einziger blieb er auch bei dem in Ephesus (im westlichen Turm der Stadtmauer des Lysimachus) gefangenen Apostel (vgl. 2. Tim. 4, 11). - Und heute?! Was ist geworden aus dieser Erinnerungsstätte an Paulus und Lukas?!

In der Nähe von Ephesus, im heutigen Selcuk, befinden sich die Ruinen der Johannes-Basilika, der ehemals größten und imposantesten Kirche Anatoliens. Konstantin selbst soll sie über dem Grab des Johannes errichtet, Justinian sie im 6. Jahrhundert erweitert haben. Johannes, der nach dem Tod des Domitian im Jahre 96 nach Ephesus zurückehren konnte, soll sich hier oben, auf dem Berg Ayasoluk, eine kleine Hütte gebaut haben, in der er lebte. Hier soll er sich, als er den Tod nahen fühlte, selbst sein Grab in Kreuzesform geschaufelt und hineingelegt haben. - Die Johannes-Basilika heute: Die Ruinen lassen die ehemalige Größe noch erahnen. Relativ gut erhalten im nördlichen Seitenteil befindet sich die Taufkapelle. Zu dem achteckigen Taufbecken, dem Oktogon, kann man die Stufen für die ehemals geübte Immersionstaufe noch immer hinabsteigen. Noch immer befindet sich auch Wasser in diesem Taufbecken. Die Hand hineinzutauchen und sich nach christlichem Ritus mit dem Kreuzeszeichen zu segnen, wird allerdings nicht empfohlen. Moslems, um diesen christlichen Brauch wissend, verrichten gerne ihre Notdurft in diesem Becken.

„Ich teile eure Trauer“ - diese Worte des Johannes erscheinen einem immer mehr von prophetischer Weitsicht. Nicht nur den kleinasiatischen Gemeinden seiner Gegenwart könnten sie gegolten haben. Wohl auch deren Zukunft in unserer Gegenwart. Und nun: nicht auch unserer europäischen Gegenwart?! Womöglich auch der Zukunft des Christentums in Europa?! Denn Bestürzung, Wehmut und Trauer über den Zustand der christlichen Stätten in Kleinasien könnten sich sehr schnell relativieren, wenn wir unsere eigene Situation realistisch in den Blick nehmen: die verfallenden Dorfkirchen Mecklenburg-Vorpommerns beispielsweise, die in einem seit Jahrzehnten mehrheitlich nicht mehr christlichen Land kaum noch erhalten werden können. Auch für die Innenstadtkirchen westdeutscher Großstädte sind zunehmend weniger Mittel vorhanden, sie zu erhalten. Und wie viele sind schon entwidmet worden: zu Museen und Konzertsälen, gelegentlich auch zu stilvollen Restaurants. Und ist alles dies nicht Ausdruck der immer schwächer werdenden Kraft unserer christlichen Überzeugungen?! Der immer größer werdenden Gleichgültigkeit, mit der man uns begegnet?! Die steigende Zahl derer, die sich von uns trennen, spricht eine beredte Sprache! Und schließlich: Hat uns etwa die zunehmende öffentliche und gesellschaftliche Isolierung näher zusammenrücken lassen? Sind wir dadurch einiger oder einmütiger geworden? Das Gegenteil ist doch der Fall - wie vor Zeiten in den kleinasiatischen Gemeinden des Johannes. Wie viele theologische und menschliche Zerwürfnisse doch auch in der gegenwärtigen Christenheit sind am Tage! Kurz vor seinem Tod hat Johannes Paul das Machtstreben und Karrieredenken unter den Eminenzen und Exzellenzen seiner Umgebung öffentlich angeprangert. Wäre von evangelischen Landeskirchenämtern und protestantischen Synoden nicht ähnliches zu sagen? Wie viel dogmatische Rechthaberei und peinliche Alleinvertretungsansprüche kursieren unter uns! „Dominus Jesus“ - IHM würde es wohl wie damals das Wasser in die Augen treiben, wenn er auf das heutige „Jerusalem“ sähe (vgl. Luk. 19,41).

Also: Gerade wenn man auf die „Interna“ schaut - so viel anders als damals geht es auch bei uns heute nicht zu! Von den ganz unmittelbar persönlichen Katastrophen noch gar nicht zu reden, unter denen viele Menschen leiden. Und wir Christen doch nicht weniger! Und auch das heute wie damals! Denn: Wie viel Unglück gibt es unter uns! Oder bleiben wir Christen etwa verschont von den Problemen und Schwierigkeiten, die allen Leuten zu schaffen machen? Das Nicht-mehr-verstehen-können und das Nicht-mehr-zurecht-kommen zwischen den Generationen sei beispielhaft genannt. Oder sind unsere Ehen aus einem anderen Holz geschnitzt als die aller anderen Leute? Leiden wir weniger unter furchtbaren Krankheiten - trotz medizinischer Fortschritte? Und schließlich und vor allen Dingen: Werden wir nicht auch immer wieder zur Verzweiflung getrieben von der furchtbaren, zerstörerischen Macht des Todes, dem wir selbst entgegen leben?! Angefochtene, leidende Menschen sind wir doch wahrhaftig auch! Und eben darin nur in Nuancen unterschieden von den Christen, die Johannes mit dem Trost zu trösten unternimmt, der ihm Kraft zu geben vermochte angesichts seines unglücklichen und vom Tod bedrohten Schicksals.

Deshalb, allein deshalb: Was ihm gesagt wird, wird auch uns gesagt. Was ihm gilt, gilt auch uns. Was er hört, können wir uns auch sagen lassen: „Ich war tot, aber jetzt - schau mich an! - lebe ich wieder“ (Übersetzung von Walter Jens). So spricht der, den Johannes sieht. Der, der den „großen Meister der Nacht“ (Rudolf Bohren) gemeistert hat, will auch uns an dieser Meisterung beteiligen. Es muss nicht so weitergehen, dass wir Angst haben vor dem Tod. Es muss nicht so weitergehen, dass wir dem Tod entgegen leben. Wie können wir nur nicht wahrhaben wollen, was wir an dem haben, den Johannes sieht?! Denn ER hat das letzte Wort, das über allem gesprochen wird, nicht gegen sich, sondern für sich. Darum: Wer zu ihm gehört, hat das Leben für sich und den Tod schon jetzt hinter sich. Darum, nur darum können wir, Gott sei Dank, so leben: Vom Schicksal geschlagen, aber nicht zerschlagen. Angefochten, aber nicht ohne Trost. Geängstigt, aber nicht ohne Hoffnung. Zum Sterben verurteilt, aber nicht ohne Gewissheit des Lebens.

In Erinnerung an den Seher Johannes auf Patmos lasst uns noch ein Bild betrachten, das viele längst kennen mögen: Ernst Barlachs Skulptur „Der Bettler“ (als Dia projiziert, besser: mit dem Powerpoint hoch gebeamt): Auf den ersten Blick sehen wir nur dies: Füße, die nicht mehr gehen; Arme an den Leib gewachsen, von Verwitterung und Verfall gezeichnet. Wären die Krücken nicht, er sänke wie ein Bündel in sich zusammen. Menschen, an die er sich halten könnte, sind nicht zu sehen.

Wenn wir genau hinsehen: Wo sind die bittenden Hände, der Mitleid heischende Blick? Stellt er zur Schau, dass er Hilfe braucht? Ist das ein Bettlergesicht?! Das Gesicht - erinnert es nicht an eine Blume, die sich zur Sonne wendet? Geschlossene Augen, um ganz die Wärme zu spüren. Der Mund ist staunend, erwartend, lächelnd geöffnet; fast töricht vor etwas Unfasslichem. Und reckt sich nicht auch der Körper und dehnt sich zur Höhe wie von erfrischendem Regen überschüttet - wieso? Was ist das Geheimnis dieses Bettlers?

„Wir sind Bettler, das ist wahr“ - Martin Luthers letzte Worte auf seinem Sterbelager gehen mir nicht aus dem Sinn. Ja, Bettler sind wir, denen am Ende nichts bleibt, als das Leben zu erwarten von dem, der das Leben ist. Den der Seher Johannes sieht und uns bezeugt. Deshalb lasst uns wie er die Blicke auf IHN richten und mit den Brüdern von Taizé singen: Okuli nostri ad Dominum Jesum (EG 789.5).

 

Dr. Dr. Günter Goldbach
Guenter.Goldbach@Uni-Osnabrueck.de


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