Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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1. Sonntag nach Epiphanias, 8. Januar 2006
Predigt über 1. Korinther 1, 26-31, verfasst von Henning Kiene
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Seht auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, damit, wie geschrieben steht (Jeremia 9,22f): »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!«

Liebe Gemeinde,

„Wir sind Bettler, das ist wahr!“ ist der letzte von Martin Luther zu Papier gebrachte Satz. Man fand diese sechs Worte am Morgen nach dem Tod des Reformators auf dessen Schreibpult liegen. „Wir sind Bettler, das ist wahr!“, so schließt einer sein Lebenswerk ab und spricht für uns mit, die wir mitten im Leben stehen.

Bettlerin und Bettler sein, bedeutet nicht automatisch, dass wir mit leeren Händen dastehen. Wer bettelt wird beschenkt. Beschenkt werden ist manchmal schwer zu ertragen. Aber es ist wahr, dass wir Wesen sind, die vom ersten Atemzug an bedürftig sind und es bleiben. Es ist eine der ältesten Hoffnungen der Menschheit, dass es für unser Leben einen Plan gibt, in dem wir selber mit unseren Begabungen und unseren Schwächen vorkommen. „Seht auf eure Berufung“, sagt der Apostel Paulus und öffnet einen Einblick in Gottes Plan. Er zeigt, dass sich da etwas ereignet, für jede und für jeden. Er zeigt auch, dass die Eignung eines jeden, sich an Kriterien festmacht, die einem nicht so geläufig sind. Das Geringste, das Verachteste kommt bei Gott zum Zuge.

Wir sind Bettler, hoffen auf die 365 Tage des neuen Jahres. Man kann in die Zukunft noch nicht einsehen. Und das, was man sehen kann, könnte sich als negatives Vorzeichen begreifen lassen, das vor dieses neue Jahr gesetzt wird. „Geht das so weiter?“, fragte jemand sofort als die ersten Bilder aus Bad Reichenhall zu sehen waren. Er meinte, dass die Katastrophen, die die Rückblicke des letzten Jahres bestimmten, nun eine Fortsetzung fänden.

Einen Jahreswechselwunsch habe ich in diesem Jahr so oft gehört, wie schon lange nicht mehr. Selbst Menschen, die sich kaum kennen, sagen ihn einander: „Vor allem wünsche ich Ihnen Gesundheit!“ Vielleicht spüren wir unsere Begrenzung am Jahreswechsel deutlicher als sonst. Vieles im Leben will von Gott erbeten sein. Darum sind wir heute in der Kirche zusammengekommen.

Es wäre den meisten von uns heute leichter ums Herz, wenn man das neue Jahr wie einen Fahrplan schon jetzt auseinanderfalten und die Zugankunftszeiten und die Abfahrten schon mal vorher lesen könnte. Etwa so wie der neue Fahrplan unserer Bahn seit dem Dezember ausliegt und alle Abfahrten bis zum nächsten Dezember 2006 feststehen. Oder wie die Proben und Aufführungspläne unserer Chöre. Aber auch dann, wenn man diesen Plan schon jetzt aufschlagen könnte, wäre nicht viel gewonnen. Denn das Leben läuft nicht auf festen Gleisen, es wirkt manchmal sogar so, als sei vieles in ihm unzuverlässiger als die Bahn. Und auch wenn wir alle Chorauftritte schon jetzt hören könnten, dann würde die Gunst der Stunde fehlen.

Das Leben ist aber nicht unzuverlässiger als die Bahn, sein Plan ist nur anders aufgebaut. Behutsamer, leider, mit Zwischentönen, die nur der Glaube kennt. Da reduzieren viele ihr Tempo und stimmen ruhigere Töne an. Andere geben Gas und wollen es wissen. Wir kennen die Gefahren an den Knotenpunkten. Oft fürchtet man, dass der Stahlträger nicht halten könnte und das Dach brechen kann wie in Bad Reichenhall. Man nimmt jedes Risiko mit wachen Augen wahr. Auch das Risiko für andere. In Wahrheit ist unser Leben trotzdem die Menge der Möglichkeiten, die jeder und jedem gegeben sind. Da liegt viel mehr drin, als man weiß. „Seht auf eure Berufung“, sagt der Apostel Paulus. Und ich höre beim ihm, dass das, was gelegentlich töricht wirkt, in dem Plan Gottes logisch klingt, dass das, was offenbar schwächelt, in Wahrheit tragfähig ist. Da liegen mehr Möglichkeiten für uns bereit, als uns bewusst ist.

Gott hat uns einen Einblick in seinen Plan gegeben. Wir haben in den letzten Wochen mit fast jedem Bibelwort, das wir hier in der Kirche gehört haben, etwas mehr zu Gesicht bekommen. Wir haben nicht die genauen Zeiten wann, was, wie geschieht, erfahren. Aber über die wichtigsten Fakten hat Gott uns einen Überblick verschafft. „Gottes Sohn ist Mensch geborn!“, haben die Quempassänger vor zwei Wochen gesungen. Und täglich waren Menschen hier im Dom und haben den Baum und die Krippe besucht.

Da tritt das Kind in einer Krippe in das Blickfeld, da sind Hirten und jetzt auch die Weisen aus dem Morgenland zu sehen und haben es an dieser Krippe hier mit unseren eigenen Augen gesehen. Die Weihnachtstage enthüllen, was in unserer Zeit noch immer Gottes Plan bleibt. Man kann entdecken: Gott beginnt mit dem, was sich oft erst im Verborgenen, in irgendeinem Weltwinkel, wie damals in Bethlehem, anzubahnen beginnt. „Töricht“ hören wir beim Apostel Paulus. Er spielt auf das ganze Leben Jesu und auf den ganzen Glauben an. So kann der Glaube wirken. Jesus Christus will sich in die Pläne, die wir selber zeichnen, nicht so leicht einpassen lassen.

Gott arbeitet mit unseren Stärken. Das ist doch selbstverständlich, er arbeitet mit unserer Fähigkeit, mit unserer Hoffnung, mit unserem guten Willen, mit unserer Leidenschaft und unserer Liebe. Er bedient sich aber auch unserer Schwächen. Er nimmt sogar unsere Schattenseiten in seinen Dienst. Das kommt in seinem Plan auch vor. Ich bin davon überzeugt, dass wir Bettler sind. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass wir so etwas wie reiche Bettler sind. Denn den Schwachen und den Starken, alle die sich mutig fühlen und die, die Mut gewinnen werden, zeichnet er alle in seinen Plan ein.

Es sind gerade die Bettler, die von Gott überraschend viel verstehen. „Der Satte kann von dem Gott, der Bettler am Leben erhalten will, nur enttäuscht sein!“, habe ich gelesen. Wie es einem ergehen kann: Es sind gelegentlich die Scherben, die einen vollen Klang entfalten. Es sind die Momente, in denen man nicht viel von der Zukunft sehen kann, in denen wir Bettler und dann doch schon reich beschenkt sind.

(Für die Lesenden: Nach dem Gottesdienst findet ein Empfang für die Kirchengemeinde Meldorf und den Kirchenkreis Süderdithmarschen statt. Alle Leserinnen und Leser der Göttinger Predigten sind herzlich eingelanden.)

Predigt in der St.-Johannis-Kirche (Dom) zu Meldorf
Propst Henning Kiene
propst.kiene.kksd@kirnet.de

 


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